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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Allgemeineres über Irland,

frei zu verfügen. Mein hatte eine große Reihe Factorhgesctze zum Schutze der
Fabrikarbeiter, ihrer Frauen und Kinder, der Grubenarbeiter u. s. w. gegeben, man
hatte Fabrikinspektoren mit bedeutenden Vollmachten, Gewerbegerichte und Eini¬
gungsämter eingeführt und sah, daß man das Übel richtig augegiffen hatte. Der
Grundsatz des "Gehenlassens" war auf diesem Gebiete nicht mehr durchschlagend,
und die tiefe Weisheit des Satzes, daß der ein Giftmischer sei, der den Arbeitern
sage, sie könnten es auf andre Weise zu etwas bringen als durch Sparen, wurde
nicht mehr so sehr angestaunt. Denn man fühlte die Verpflichtung, erst den
Arbeiter so weit zu bringen, daß er sparen könne und wolle. Also wie gesagt,
auf diesem industriellen Gebiete war man zwar allmählich entschieden zu positiv
wirtschaftlichen Eingriffen des Staates fortgeschritten. Aber nun stellte sich in
Irland das ackerbauende Proletariat in ebenso dringlicher Weise reformbedürftig
dar, und wenn Thomas Carlyle aus jedem Getümmel und Geschrei eines to¬
benden Volkshaufens den sehnsüchtigen Schrei heraushören wollte: Ist denn
niemand da, der mich führen und regieren will? so muß auch der englische
Staatsmann aus dem irischen Nevolutionstreiben und agrarischen Meuchelmorde
den Ruf gehört haben: Wer schafft dem irischen Ackerbauer so viel wirtschaft¬
liche Hilfe, daß er außer der Freiheit auch noch etwas Freude am Leben und
Stabilität in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gewinnt? Wer leistet ihm
ähnlich die wirtschaftliche Widerstandskraft, die dem Fabrikarbeiter vom Gesetz
allmählich zu teil geworden ist?

Damit ist nicht gesagt, daß die bisherige Ackcrgesetzgebung Englands in
Irland es an der nötigen Freiheit habe fehlen lassen, wie man es sich in unsern
Kreisen zuweilen denkt. Es war dort so gut wie anderswo gestattet, Land zu
kaufen und zu verkaufen, Pachter einzugehen und aufzulösen, auch die Pacht¬
grundstücke einem andern zu übertragen. Das Eine war allerdings mißlich,
daß bei der schlechten Grundbncheinrichtung ein reiner, unzweifelhafter Vesitztitel
beim Kaufe schwer und dabei nur mit vielen Kosten zu erhalten war und
dadurch das Pachtsystem begünstigt wurde. Aber das war nicht von so durch¬
schlagender Wichtigkeit, um eine so große Schädigung hervorzubringen. Die
Übel sitzen tiefer und liegen nicht auf dem Gebiete des Privatrechts. Sie haben
sogar einen Jahrhunderte weit zurückliegenden geschichtlichen Hintergrund, der
noch jetzt einigermaßen nachwirkt.

Lorenz von Stein und A. Meitzcn haben mit Recht auf diese uralte
Wirtschaftsform Irlands aufmerksam gemacht, die man das Clanprinzip oder
das Tanistrysystem nennt. Es ist wesentlich der Grundkommunismus, das
Gesamteigen an Grund und Boden, wie diese Praxis bei unsern Altvordern
sich fand, wie sie bei den Südslawen, ja auch in dem russischen Mir noch jetzt
vorkommt, freilich im Untergang begriffen. Das Land wurde von einem stell¬
vertretenden gewählten Clan (Tanaist) in Größe von ungefähr je sechs Quadrat-
meilen den einzelnen Familien zur Benutzung zugewiesen. Dafür lagen diesen


Allgemeineres über Irland,

frei zu verfügen. Mein hatte eine große Reihe Factorhgesctze zum Schutze der
Fabrikarbeiter, ihrer Frauen und Kinder, der Grubenarbeiter u. s. w. gegeben, man
hatte Fabrikinspektoren mit bedeutenden Vollmachten, Gewerbegerichte und Eini¬
gungsämter eingeführt und sah, daß man das Übel richtig augegiffen hatte. Der
Grundsatz des „Gehenlassens" war auf diesem Gebiete nicht mehr durchschlagend,
und die tiefe Weisheit des Satzes, daß der ein Giftmischer sei, der den Arbeitern
sage, sie könnten es auf andre Weise zu etwas bringen als durch Sparen, wurde
nicht mehr so sehr angestaunt. Denn man fühlte die Verpflichtung, erst den
Arbeiter so weit zu bringen, daß er sparen könne und wolle. Also wie gesagt,
auf diesem industriellen Gebiete war man zwar allmählich entschieden zu positiv
wirtschaftlichen Eingriffen des Staates fortgeschritten. Aber nun stellte sich in
Irland das ackerbauende Proletariat in ebenso dringlicher Weise reformbedürftig
dar, und wenn Thomas Carlyle aus jedem Getümmel und Geschrei eines to¬
benden Volkshaufens den sehnsüchtigen Schrei heraushören wollte: Ist denn
niemand da, der mich führen und regieren will? so muß auch der englische
Staatsmann aus dem irischen Nevolutionstreiben und agrarischen Meuchelmorde
den Ruf gehört haben: Wer schafft dem irischen Ackerbauer so viel wirtschaft¬
liche Hilfe, daß er außer der Freiheit auch noch etwas Freude am Leben und
Stabilität in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gewinnt? Wer leistet ihm
ähnlich die wirtschaftliche Widerstandskraft, die dem Fabrikarbeiter vom Gesetz
allmählich zu teil geworden ist?

Damit ist nicht gesagt, daß die bisherige Ackcrgesetzgebung Englands in
Irland es an der nötigen Freiheit habe fehlen lassen, wie man es sich in unsern
Kreisen zuweilen denkt. Es war dort so gut wie anderswo gestattet, Land zu
kaufen und zu verkaufen, Pachter einzugehen und aufzulösen, auch die Pacht¬
grundstücke einem andern zu übertragen. Das Eine war allerdings mißlich,
daß bei der schlechten Grundbncheinrichtung ein reiner, unzweifelhafter Vesitztitel
beim Kaufe schwer und dabei nur mit vielen Kosten zu erhalten war und
dadurch das Pachtsystem begünstigt wurde. Aber das war nicht von so durch¬
schlagender Wichtigkeit, um eine so große Schädigung hervorzubringen. Die
Übel sitzen tiefer und liegen nicht auf dem Gebiete des Privatrechts. Sie haben
sogar einen Jahrhunderte weit zurückliegenden geschichtlichen Hintergrund, der
noch jetzt einigermaßen nachwirkt.

Lorenz von Stein und A. Meitzcn haben mit Recht auf diese uralte
Wirtschaftsform Irlands aufmerksam gemacht, die man das Clanprinzip oder
das Tanistrysystem nennt. Es ist wesentlich der Grundkommunismus, das
Gesamteigen an Grund und Boden, wie diese Praxis bei unsern Altvordern
sich fand, wie sie bei den Südslawen, ja auch in dem russischen Mir noch jetzt
vorkommt, freilich im Untergang begriffen. Das Land wurde von einem stell¬
vertretenden gewählten Clan (Tanaist) in Größe von ungefähr je sechs Quadrat-
meilen den einzelnen Familien zur Benutzung zugewiesen. Dafür lagen diesen


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[0207] Allgemeineres über Irland, frei zu verfügen. Mein hatte eine große Reihe Factorhgesctze zum Schutze der Fabrikarbeiter, ihrer Frauen und Kinder, der Grubenarbeiter u. s. w. gegeben, man hatte Fabrikinspektoren mit bedeutenden Vollmachten, Gewerbegerichte und Eini¬ gungsämter eingeführt und sah, daß man das Übel richtig augegiffen hatte. Der Grundsatz des „Gehenlassens" war auf diesem Gebiete nicht mehr durchschlagend, und die tiefe Weisheit des Satzes, daß der ein Giftmischer sei, der den Arbeitern sage, sie könnten es auf andre Weise zu etwas bringen als durch Sparen, wurde nicht mehr so sehr angestaunt. Denn man fühlte die Verpflichtung, erst den Arbeiter so weit zu bringen, daß er sparen könne und wolle. Also wie gesagt, auf diesem industriellen Gebiete war man zwar allmählich entschieden zu positiv wirtschaftlichen Eingriffen des Staates fortgeschritten. Aber nun stellte sich in Irland das ackerbauende Proletariat in ebenso dringlicher Weise reformbedürftig dar, und wenn Thomas Carlyle aus jedem Getümmel und Geschrei eines to¬ benden Volkshaufens den sehnsüchtigen Schrei heraushören wollte: Ist denn niemand da, der mich führen und regieren will? so muß auch der englische Staatsmann aus dem irischen Nevolutionstreiben und agrarischen Meuchelmorde den Ruf gehört haben: Wer schafft dem irischen Ackerbauer so viel wirtschaft¬ liche Hilfe, daß er außer der Freiheit auch noch etwas Freude am Leben und Stabilität in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gewinnt? Wer leistet ihm ähnlich die wirtschaftliche Widerstandskraft, die dem Fabrikarbeiter vom Gesetz allmählich zu teil geworden ist? Damit ist nicht gesagt, daß die bisherige Ackcrgesetzgebung Englands in Irland es an der nötigen Freiheit habe fehlen lassen, wie man es sich in unsern Kreisen zuweilen denkt. Es war dort so gut wie anderswo gestattet, Land zu kaufen und zu verkaufen, Pachter einzugehen und aufzulösen, auch die Pacht¬ grundstücke einem andern zu übertragen. Das Eine war allerdings mißlich, daß bei der schlechten Grundbncheinrichtung ein reiner, unzweifelhafter Vesitztitel beim Kaufe schwer und dabei nur mit vielen Kosten zu erhalten war und dadurch das Pachtsystem begünstigt wurde. Aber das war nicht von so durch¬ schlagender Wichtigkeit, um eine so große Schädigung hervorzubringen. Die Übel sitzen tiefer und liegen nicht auf dem Gebiete des Privatrechts. Sie haben sogar einen Jahrhunderte weit zurückliegenden geschichtlichen Hintergrund, der noch jetzt einigermaßen nachwirkt. Lorenz von Stein und A. Meitzcn haben mit Recht auf diese uralte Wirtschaftsform Irlands aufmerksam gemacht, die man das Clanprinzip oder das Tanistrysystem nennt. Es ist wesentlich der Grundkommunismus, das Gesamteigen an Grund und Boden, wie diese Praxis bei unsern Altvordern sich fand, wie sie bei den Südslawen, ja auch in dem russischen Mir noch jetzt vorkommt, freilich im Untergang begriffen. Das Land wurde von einem stell¬ vertretenden gewählten Clan (Tanaist) in Größe von ungefähr je sechs Quadrat- meilen den einzelnen Familien zur Benutzung zugewiesen. Dafür lagen diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/207>, abgerufen am 22.07.2024.