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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Ans Ästerreich.

Massen der Bürger und Bauern für sich gewinnen, weil sie ihnen etwas Posi¬
tives bot: hofft man jetzt vielleicht, sie durch die Presse zu Materialisten zu
erziehen?

Aber anstatt an Verständigung mit den Stammesgenossen zu denken, von
welchen sie nur der Glaube trennt, Hetzen sie noch Fraktion gegen Fraktion.
Nicht genug, daß die Antisemitenriecherei mit einem Fanatismus betrieben wird
wie dereinst die Demagogenriecherei, bekämpfen "Deutsche" und "Deutschöster-
reichcr" einander auf das leidenschaftlichste. Die letztere Fraktion betrachtet sich
als diejenige, in deren Hände allernächstcns das Staatsruder gelangen müsse,
und es ist daher den künftigen Ministern sehr unangenehm, daß eine beträcht¬
liche Anzahl deutscher, namentlich jüngerer und sehr rühriger Abgeordneten ihnen
nicht mehr unbedingt Heeresfolge leisten will. Aller Wahrscheinlichkeit nach er¬
hitzen sich die Herren vorläufig ohne alle Veranlassung. In den maßgebenden
Kreisen denkt ohne Zweifel niemand daran, das dreimal wenig gelungene Ex¬
periment mit einer parlamentarischen Negierung zum viertenmale zu versuchen.
Dafür, daß sich eine Wendung im System vorbereite, sprechen allerdings ver-
schiedne Anzeichen, aber die Berufung der Minister Ganthas (Kultur und Unter¬
richt) und Marquis de Bacquehcm (Handel) zeigt deutlich genug, daß der Weg
eingeschlagen werden soll, der allein aus den jetzigen Wirrsalcn herausführen
kann. Da die tschechischen und polnischen Minister von ihren eignen Parteien
im Stiche gelassen werden, und die Herren Chlumecky, Pierer, Sturm u. s. w.
in kürzester Zeit ebenso ihren parlamentarischen Freunden gegenüberstehen
würden, wie heute die Herren Dunajewski, Praschak?c. den ihrigen, so werden
Männer berufen, die entschlossen sind, sich einzig vom Staatsinteresse leiten zu
lassen, ohne Seitenblicke auf Parteiprogramme und Parteiwünsche. Was seit
Jahren zu wünschen blieb, Energie, scheint wiedergekehrt zu sein, und das ver¬
rückte Gebahren der Tschechen und Slovencn mag das seinige dazu beigetragen
haben. Wenn in Böhmen die zarte Rücksicht auf den Pöbel bereits so weit
geht, daß das Andenken des Kaisers Joseph II. nicht mehr gefeiert werden darf,
wenn die österreichischen Farben nicht mehr geduldet werden sollen, wenn die
tschechischen Zeitungen sich ganz ungeberdig darüber anstellen, daß der Minister
Ganthas Schülern in Pilsen und Budweis eingeschärft hat, Deutsch zu lernen,
dann wird es doch offenbar, daß das bisherige System in einer Sackgasse an¬
gelangt ist. Die Erklärungen des Grafen Taaffe aus Beschwerden ans Laibach
und Prag haben die Deutschen nicht befriedigt und konnten es nicht; sie waren
gewunden und spitzfindig, weil die beteiligten Behörden nicht bloßgestellt werden
sollten, allein man kann auch manches andre herauslesen. Vor allem liefern
die Personalveräudcrungcn in der Generalität in Ungarn den Beweis, daß die
Zeit des SpaßenS vorüber ist. Der Landeskommandirende, General der Kavallerie
Freiherr von Edelsheim-Gyulai, ist pensionirt worden, und diese Thatsache stellt
außer Zweifel, daß er die höchste militärische Autorität in Ungarn war, auf


Ans Ästerreich.

Massen der Bürger und Bauern für sich gewinnen, weil sie ihnen etwas Posi¬
tives bot: hofft man jetzt vielleicht, sie durch die Presse zu Materialisten zu
erziehen?

Aber anstatt an Verständigung mit den Stammesgenossen zu denken, von
welchen sie nur der Glaube trennt, Hetzen sie noch Fraktion gegen Fraktion.
Nicht genug, daß die Antisemitenriecherei mit einem Fanatismus betrieben wird
wie dereinst die Demagogenriecherei, bekämpfen „Deutsche" und „Deutschöster-
reichcr" einander auf das leidenschaftlichste. Die letztere Fraktion betrachtet sich
als diejenige, in deren Hände allernächstcns das Staatsruder gelangen müsse,
und es ist daher den künftigen Ministern sehr unangenehm, daß eine beträcht¬
liche Anzahl deutscher, namentlich jüngerer und sehr rühriger Abgeordneten ihnen
nicht mehr unbedingt Heeresfolge leisten will. Aller Wahrscheinlichkeit nach er¬
hitzen sich die Herren vorläufig ohne alle Veranlassung. In den maßgebenden
Kreisen denkt ohne Zweifel niemand daran, das dreimal wenig gelungene Ex¬
periment mit einer parlamentarischen Negierung zum viertenmale zu versuchen.
Dafür, daß sich eine Wendung im System vorbereite, sprechen allerdings ver-
schiedne Anzeichen, aber die Berufung der Minister Ganthas (Kultur und Unter¬
richt) und Marquis de Bacquehcm (Handel) zeigt deutlich genug, daß der Weg
eingeschlagen werden soll, der allein aus den jetzigen Wirrsalcn herausführen
kann. Da die tschechischen und polnischen Minister von ihren eignen Parteien
im Stiche gelassen werden, und die Herren Chlumecky, Pierer, Sturm u. s. w.
in kürzester Zeit ebenso ihren parlamentarischen Freunden gegenüberstehen
würden, wie heute die Herren Dunajewski, Praschak?c. den ihrigen, so werden
Männer berufen, die entschlossen sind, sich einzig vom Staatsinteresse leiten zu
lassen, ohne Seitenblicke auf Parteiprogramme und Parteiwünsche. Was seit
Jahren zu wünschen blieb, Energie, scheint wiedergekehrt zu sein, und das ver¬
rückte Gebahren der Tschechen und Slovencn mag das seinige dazu beigetragen
haben. Wenn in Böhmen die zarte Rücksicht auf den Pöbel bereits so weit
geht, daß das Andenken des Kaisers Joseph II. nicht mehr gefeiert werden darf,
wenn die österreichischen Farben nicht mehr geduldet werden sollen, wenn die
tschechischen Zeitungen sich ganz ungeberdig darüber anstellen, daß der Minister
Ganthas Schülern in Pilsen und Budweis eingeschärft hat, Deutsch zu lernen,
dann wird es doch offenbar, daß das bisherige System in einer Sackgasse an¬
gelangt ist. Die Erklärungen des Grafen Taaffe aus Beschwerden ans Laibach
und Prag haben die Deutschen nicht befriedigt und konnten es nicht; sie waren
gewunden und spitzfindig, weil die beteiligten Behörden nicht bloßgestellt werden
sollten, allein man kann auch manches andre herauslesen. Vor allem liefern
die Personalveräudcrungcn in der Generalität in Ungarn den Beweis, daß die
Zeit des SpaßenS vorüber ist. Der Landeskommandirende, General der Kavallerie
Freiherr von Edelsheim-Gyulai, ist pensionirt worden, und diese Thatsache stellt
außer Zweifel, daß er die höchste militärische Autorität in Ungarn war, auf


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[0203] Ans Ästerreich. Massen der Bürger und Bauern für sich gewinnen, weil sie ihnen etwas Posi¬ tives bot: hofft man jetzt vielleicht, sie durch die Presse zu Materialisten zu erziehen? Aber anstatt an Verständigung mit den Stammesgenossen zu denken, von welchen sie nur der Glaube trennt, Hetzen sie noch Fraktion gegen Fraktion. Nicht genug, daß die Antisemitenriecherei mit einem Fanatismus betrieben wird wie dereinst die Demagogenriecherei, bekämpfen „Deutsche" und „Deutschöster- reichcr" einander auf das leidenschaftlichste. Die letztere Fraktion betrachtet sich als diejenige, in deren Hände allernächstcns das Staatsruder gelangen müsse, und es ist daher den künftigen Ministern sehr unangenehm, daß eine beträcht¬ liche Anzahl deutscher, namentlich jüngerer und sehr rühriger Abgeordneten ihnen nicht mehr unbedingt Heeresfolge leisten will. Aller Wahrscheinlichkeit nach er¬ hitzen sich die Herren vorläufig ohne alle Veranlassung. In den maßgebenden Kreisen denkt ohne Zweifel niemand daran, das dreimal wenig gelungene Ex¬ periment mit einer parlamentarischen Negierung zum viertenmale zu versuchen. Dafür, daß sich eine Wendung im System vorbereite, sprechen allerdings ver- schiedne Anzeichen, aber die Berufung der Minister Ganthas (Kultur und Unter¬ richt) und Marquis de Bacquehcm (Handel) zeigt deutlich genug, daß der Weg eingeschlagen werden soll, der allein aus den jetzigen Wirrsalcn herausführen kann. Da die tschechischen und polnischen Minister von ihren eignen Parteien im Stiche gelassen werden, und die Herren Chlumecky, Pierer, Sturm u. s. w. in kürzester Zeit ebenso ihren parlamentarischen Freunden gegenüberstehen würden, wie heute die Herren Dunajewski, Praschak?c. den ihrigen, so werden Männer berufen, die entschlossen sind, sich einzig vom Staatsinteresse leiten zu lassen, ohne Seitenblicke auf Parteiprogramme und Parteiwünsche. Was seit Jahren zu wünschen blieb, Energie, scheint wiedergekehrt zu sein, und das ver¬ rückte Gebahren der Tschechen und Slovencn mag das seinige dazu beigetragen haben. Wenn in Böhmen die zarte Rücksicht auf den Pöbel bereits so weit geht, daß das Andenken des Kaisers Joseph II. nicht mehr gefeiert werden darf, wenn die österreichischen Farben nicht mehr geduldet werden sollen, wenn die tschechischen Zeitungen sich ganz ungeberdig darüber anstellen, daß der Minister Ganthas Schülern in Pilsen und Budweis eingeschärft hat, Deutsch zu lernen, dann wird es doch offenbar, daß das bisherige System in einer Sackgasse an¬ gelangt ist. Die Erklärungen des Grafen Taaffe aus Beschwerden ans Laibach und Prag haben die Deutschen nicht befriedigt und konnten es nicht; sie waren gewunden und spitzfindig, weil die beteiligten Behörden nicht bloßgestellt werden sollten, allein man kann auch manches andre herauslesen. Vor allem liefern die Personalveräudcrungcn in der Generalität in Ungarn den Beweis, daß die Zeit des SpaßenS vorüber ist. Der Landeskommandirende, General der Kavallerie Freiherr von Edelsheim-Gyulai, ist pensionirt worden, und diese Thatsache stellt außer Zweifel, daß er die höchste militärische Autorität in Ungarn war, auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/203>, abgerufen am 22.07.2024.