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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Margarethe von Aavarra.

Kreise Margarethens sind geschickt in die Erzählung eingeflochten. Doch
müssen wir hierfür die Leser ans Lotheißens Darstellung selbst verweisen.

Außer Gedichten und dramatischen Versuchen haben wir von Margarethe
eine kleine Sammlung Novellen, das Heptameron, in der Gegenwart jedenfalls
ihr bekanntestes Werk. Daß Margarethe die Form des Decamerons gewählt
hat, lag in der Richtung der Zeit; Boccaccio war ebeu damals von einem ihrer
Sekretäre ins Französische übertragen worden und hatte allgemeinen Beifall
gefunden. Die Einleitung ist zwischen 1544 und 1547 verfaßt, Margarethe
hat indessen wohl schon länger vorher Novellen gesammelt, in ihren Muße¬
stunden, auf der Reise in der Sänfte schrieb sie sie nieder. Mit ihrem heitern
Gemüt, ihrer scharfen Beobachtungsgabe, ihrer natürlichen Grazie war sie ganz
zu diesem Werke geschaffen. Die Sammlung blieb unvollendet, die letzten trüben
Lebensjahre mögen sie von dieser heitern Beschäftigung abgehalten haben. Die
nächsten Angehörigen der Königin, Personen aus ihrem Hof- und Freundes¬
kreise, werden im Heptameron, wie Felix Frank nachgewiesen hat, unter falschem
Namen eingeführt, wirkliche Vorfälle, geschichtliche Begebenheiten, keine Anek¬
doten, liegen den Novellen zu Grunde, die Luft jeuer Kreise weht uns darin
entgegen.

Ähnliche Geschichten waren im Mittelalter, namentlich in Frankreich, über¬
aus beliebt, die Mehrzahl ist schlüpfriger Natur, und auch das Heptameron
behandelt dergleichen Stoffe mit sichtlicher Vorliebe. Uns fällt es auf, wie
eine Frau von der Bildung und dem Charakter Margarethens derartige Novellen
voller Derbheiten schreiben und in einer Gesellschaft von Herren und Damen
vortragen lassen konnte. Aber der Ton der Gesellschaft war eben damals ein
andrer, die Zeitgenossen fanden die Novellen nur komisch, nicht anstößig, sonst
würde sie die Sittenstrenge Johanna gewiß nicht haben drucken lasten.

Das interessanteste an der ganzen Sammlung sind die Unterhaltungen,
welche sich an die Erzählungen anknüpfen; in ihnen spiegelt sich die Lebens¬
anschauung der Königin und ihres ganzen Kreises deutlich ab. Die Novellen
hatten gewissermaßen den kühnen, reformatorischen Geist der Unterhaltungen zu
decken, denn laut und energisch spricht darin Margarethe gegen Unduldsamkeit,
Fanatismus und fromme Heuchelei, und besonders auch gegen die privilegirte
Unwissenheit und die Sittenlosigkeit der Mönchsorden. Ist eine Geschichte
einmal besonders schlüpfrig, so ist sicherlich ein Kapuziner ihr Held. Der pro¬
testantische Gedanke von der Rechtfertigung durch deu Glauben wird in den
Unterhaltungen offen verteidigt. Ein charakteristischer Zug für den literarischen
Geschmack der Verfasserin ist ihre Bemerkung, sie habe keine Gelehrten zur
Mitarbeiterschaft heranziehen wollen, weil diese mit ihrer schwülstigen Rhetorik
die einfachen Geschichten verdorben haben würden.

Um die Frische und Originalität der Sprache, die Naivität und Einfach¬
heit im Heptameron genügend zu würdigen, muß man sie mit der andrer


Margarethe von Aavarra.

Kreise Margarethens sind geschickt in die Erzählung eingeflochten. Doch
müssen wir hierfür die Leser ans Lotheißens Darstellung selbst verweisen.

Außer Gedichten und dramatischen Versuchen haben wir von Margarethe
eine kleine Sammlung Novellen, das Heptameron, in der Gegenwart jedenfalls
ihr bekanntestes Werk. Daß Margarethe die Form des Decamerons gewählt
hat, lag in der Richtung der Zeit; Boccaccio war ebeu damals von einem ihrer
Sekretäre ins Französische übertragen worden und hatte allgemeinen Beifall
gefunden. Die Einleitung ist zwischen 1544 und 1547 verfaßt, Margarethe
hat indessen wohl schon länger vorher Novellen gesammelt, in ihren Muße¬
stunden, auf der Reise in der Sänfte schrieb sie sie nieder. Mit ihrem heitern
Gemüt, ihrer scharfen Beobachtungsgabe, ihrer natürlichen Grazie war sie ganz
zu diesem Werke geschaffen. Die Sammlung blieb unvollendet, die letzten trüben
Lebensjahre mögen sie von dieser heitern Beschäftigung abgehalten haben. Die
nächsten Angehörigen der Königin, Personen aus ihrem Hof- und Freundes¬
kreise, werden im Heptameron, wie Felix Frank nachgewiesen hat, unter falschem
Namen eingeführt, wirkliche Vorfälle, geschichtliche Begebenheiten, keine Anek¬
doten, liegen den Novellen zu Grunde, die Luft jeuer Kreise weht uns darin
entgegen.

Ähnliche Geschichten waren im Mittelalter, namentlich in Frankreich, über¬
aus beliebt, die Mehrzahl ist schlüpfriger Natur, und auch das Heptameron
behandelt dergleichen Stoffe mit sichtlicher Vorliebe. Uns fällt es auf, wie
eine Frau von der Bildung und dem Charakter Margarethens derartige Novellen
voller Derbheiten schreiben und in einer Gesellschaft von Herren und Damen
vortragen lassen konnte. Aber der Ton der Gesellschaft war eben damals ein
andrer, die Zeitgenossen fanden die Novellen nur komisch, nicht anstößig, sonst
würde sie die Sittenstrenge Johanna gewiß nicht haben drucken lasten.

Das interessanteste an der ganzen Sammlung sind die Unterhaltungen,
welche sich an die Erzählungen anknüpfen; in ihnen spiegelt sich die Lebens¬
anschauung der Königin und ihres ganzen Kreises deutlich ab. Die Novellen
hatten gewissermaßen den kühnen, reformatorischen Geist der Unterhaltungen zu
decken, denn laut und energisch spricht darin Margarethe gegen Unduldsamkeit,
Fanatismus und fromme Heuchelei, und besonders auch gegen die privilegirte
Unwissenheit und die Sittenlosigkeit der Mönchsorden. Ist eine Geschichte
einmal besonders schlüpfrig, so ist sicherlich ein Kapuziner ihr Held. Der pro¬
testantische Gedanke von der Rechtfertigung durch deu Glauben wird in den
Unterhaltungen offen verteidigt. Ein charakteristischer Zug für den literarischen
Geschmack der Verfasserin ist ihre Bemerkung, sie habe keine Gelehrten zur
Mitarbeiterschaft heranziehen wollen, weil diese mit ihrer schwülstigen Rhetorik
die einfachen Geschichten verdorben haben würden.

Um die Frische und Originalität der Sprache, die Naivität und Einfach¬
heit im Heptameron genügend zu würdigen, muß man sie mit der andrer


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[0178] Margarethe von Aavarra. Kreise Margarethens sind geschickt in die Erzählung eingeflochten. Doch müssen wir hierfür die Leser ans Lotheißens Darstellung selbst verweisen. Außer Gedichten und dramatischen Versuchen haben wir von Margarethe eine kleine Sammlung Novellen, das Heptameron, in der Gegenwart jedenfalls ihr bekanntestes Werk. Daß Margarethe die Form des Decamerons gewählt hat, lag in der Richtung der Zeit; Boccaccio war ebeu damals von einem ihrer Sekretäre ins Französische übertragen worden und hatte allgemeinen Beifall gefunden. Die Einleitung ist zwischen 1544 und 1547 verfaßt, Margarethe hat indessen wohl schon länger vorher Novellen gesammelt, in ihren Muße¬ stunden, auf der Reise in der Sänfte schrieb sie sie nieder. Mit ihrem heitern Gemüt, ihrer scharfen Beobachtungsgabe, ihrer natürlichen Grazie war sie ganz zu diesem Werke geschaffen. Die Sammlung blieb unvollendet, die letzten trüben Lebensjahre mögen sie von dieser heitern Beschäftigung abgehalten haben. Die nächsten Angehörigen der Königin, Personen aus ihrem Hof- und Freundes¬ kreise, werden im Heptameron, wie Felix Frank nachgewiesen hat, unter falschem Namen eingeführt, wirkliche Vorfälle, geschichtliche Begebenheiten, keine Anek¬ doten, liegen den Novellen zu Grunde, die Luft jeuer Kreise weht uns darin entgegen. Ähnliche Geschichten waren im Mittelalter, namentlich in Frankreich, über¬ aus beliebt, die Mehrzahl ist schlüpfriger Natur, und auch das Heptameron behandelt dergleichen Stoffe mit sichtlicher Vorliebe. Uns fällt es auf, wie eine Frau von der Bildung und dem Charakter Margarethens derartige Novellen voller Derbheiten schreiben und in einer Gesellschaft von Herren und Damen vortragen lassen konnte. Aber der Ton der Gesellschaft war eben damals ein andrer, die Zeitgenossen fanden die Novellen nur komisch, nicht anstößig, sonst würde sie die Sittenstrenge Johanna gewiß nicht haben drucken lasten. Das interessanteste an der ganzen Sammlung sind die Unterhaltungen, welche sich an die Erzählungen anknüpfen; in ihnen spiegelt sich die Lebens¬ anschauung der Königin und ihres ganzen Kreises deutlich ab. Die Novellen hatten gewissermaßen den kühnen, reformatorischen Geist der Unterhaltungen zu decken, denn laut und energisch spricht darin Margarethe gegen Unduldsamkeit, Fanatismus und fromme Heuchelei, und besonders auch gegen die privilegirte Unwissenheit und die Sittenlosigkeit der Mönchsorden. Ist eine Geschichte einmal besonders schlüpfrig, so ist sicherlich ein Kapuziner ihr Held. Der pro¬ testantische Gedanke von der Rechtfertigung durch deu Glauben wird in den Unterhaltungen offen verteidigt. Ein charakteristischer Zug für den literarischen Geschmack der Verfasserin ist ihre Bemerkung, sie habe keine Gelehrten zur Mitarbeiterschaft heranziehen wollen, weil diese mit ihrer schwülstigen Rhetorik die einfachen Geschichten verdorben haben würden. Um die Frische und Originalität der Sprache, die Naivität und Einfach¬ heit im Heptameron genügend zu würdigen, muß man sie mit der andrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/178>, abgerufen am 03.07.2024.