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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Schiller der^ Demokrat.

eilen. Es mag also sein, daß die objektive Menschheit Ursache gehabt hätte, sich
über den Staat zu beklagen; die subjektive muß seine Anstalten ehren. Darf
mau ihn tadeln, daß er die Würde der menschlichen Natur aus den Augen setzte,
so lange es noch galt, ihre Existenz zu verteidigen? Daß er eilte, durch die
Schiverkraft zu scheiden und durch die Kohäsionskraft zu binden, wo an die
bildende noch nicht zu denken war?" Wiederum als zeitgemäße Anspie¬
lung erscheint folgender allgemeine Satz: "Seine (des Staates) Auflösung
enthält seine Rechtfertigung. Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in
das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück." Zeigt sich
somit auf dieser Seite die prohibitive Notwendigkeit des Staates greller als je,
so bietet auf der andern (seinen positiven Nutzen betreffend) "der Anblick der
zivilisirtcn Klassen" weniger als jemals Hoffnung, ihn durch Kultur entbehrlich
gemacht zu sehen. "Hier Verwilderung, dort Erschlaffung." Die "Depravation
des Charakters" der obern Klassen empört umsomehr, "weil die Kultur selbst
ihre Quelle ist." "Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten
Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen einen so wenig ver¬
edelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch
Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde,
um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Ein¬
drücken widerstreben, nehmen wir ihre Grundsätze von ihr an. Die affektirte
Dezenz unsrer Sitten verweigert ihr die verzeihliche erste Stimme, um ihr in
unsrer materialistischen Sittenlehre die entscheidende letzte einzuräumen. Mitten
im Schoße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System ge¬
gründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle
Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft." Endlich, nach dieser für
unser Thema wichtigen Kritik des sozialen Verdienstes der obern Klassen, noch
eine kleine Abschweifung in die bezüglichen Ausführungen, die heute vielleicht mehr
am Platze sein dürften, als zu der Zeit, da sie geschrieben wurden. "Nur in einer
völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt mau gegen ihre Verirrungen
Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert
mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns
in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur
ein neues Bedürfnis; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender
zu, sodaß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung
erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des
Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohig-
keit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem
Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was
ihm zuweilen noch Grenzen setzt."

Nach solchem Bekenntnisse erscheint es zweifelhaft, ob Schiller bei irgend
einem Volke jene "Totalität des Charakters" für möglich hielt, die fähig und


Grenzboten IH. 1386. 20
Schiller der^ Demokrat.

eilen. Es mag also sein, daß die objektive Menschheit Ursache gehabt hätte, sich
über den Staat zu beklagen; die subjektive muß seine Anstalten ehren. Darf
mau ihn tadeln, daß er die Würde der menschlichen Natur aus den Augen setzte,
so lange es noch galt, ihre Existenz zu verteidigen? Daß er eilte, durch die
Schiverkraft zu scheiden und durch die Kohäsionskraft zu binden, wo an die
bildende noch nicht zu denken war?" Wiederum als zeitgemäße Anspie¬
lung erscheint folgender allgemeine Satz: „Seine (des Staates) Auflösung
enthält seine Rechtfertigung. Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in
das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück." Zeigt sich
somit auf dieser Seite die prohibitive Notwendigkeit des Staates greller als je,
so bietet auf der andern (seinen positiven Nutzen betreffend) „der Anblick der
zivilisirtcn Klassen" weniger als jemals Hoffnung, ihn durch Kultur entbehrlich
gemacht zu sehen. „Hier Verwilderung, dort Erschlaffung." Die „Depravation
des Charakters" der obern Klassen empört umsomehr, „weil die Kultur selbst
ihre Quelle ist." „Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten
Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im ganzen einen so wenig ver¬
edelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch
Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde,
um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Ein¬
drücken widerstreben, nehmen wir ihre Grundsätze von ihr an. Die affektirte
Dezenz unsrer Sitten verweigert ihr die verzeihliche erste Stimme, um ihr in
unsrer materialistischen Sittenlehre die entscheidende letzte einzuräumen. Mitten
im Schoße der raffinirtesten Geselligkeit hat der Egoismus sein System ge¬
gründet, und ohne ein geselliges Herz mit herauszubringen, erfahren wir alle
Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft." Endlich, nach dieser für
unser Thema wichtigen Kritik des sozialen Verdienstes der obern Klassen, noch
eine kleine Abschweifung in die bezüglichen Ausführungen, die heute vielleicht mehr
am Platze sein dürften, als zu der Zeit, da sie geschrieben wurden. „Nur in einer
völligen Abschwörung der Empfindsamkeit glaubt mau gegen ihre Verirrungen
Schutz zu finden, und der Spott, der den Schwärmer oft heilsam züchtigt, lästert
mit gleich wenig Schonung das edelste Gefühl. Die Kultur, weit entfernt, uns
in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur
ein neues Bedürfnis; die Bande des Physischen schnüren sich immer beängstigender
zu, sodaß die Furcht, zu verlieren, selbst den feurigen Trieb nach Verbesserung
erstickt und die Maxime des leidenden Gehorsams für die höchste Weisheit des
Lebens gilt. So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohig-
keit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem
Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was
ihm zuweilen noch Grenzen setzt."

Nach solchem Bekenntnisse erscheint es zweifelhaft, ob Schiller bei irgend
einem Volke jene „Totalität des Charakters" für möglich hielt, die fähig und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/161>, abgerufen am 22.07.2024.