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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Zur Verhandlung über das Sozialistengesetz.

Klassenhaß der Spitzbuben gegen die Besitzenden, daß sie dieselben nicht ohne
Gefahr der Bestrafung bestehlen können. Und wenn dies offen erlaubt wäre,
so brauchte es nicht so viel heimlich "mit Umgehung des Gesetzes" zu geschehen.
Also der Sinn für Gesetzlichkeit würde dadurch befördert werden. Auch ließe sich ja
mit voller Emphase aussprechen: "Wenn wir nicht dem Bürger die Überzeugung
bringen, daß nur das selbstthätige Bürgertum den Sieg über Diebstahl und
Raub verbürgen könne, dann wird diese Staats- und Gesellschaftsordnung
rettungslos zu Grunde gehen." Dieser Satz enthielte genau dieselbe Weisheit,
die unser Professor des Staatsrechts jüngst im Reichstage ausgesprochen hat.

Viel feiner zugeschliffen war die Rede Bambergers. Dieser hat in frühern
Jahren für das Gesetz gestimmt und damals mit voller Klarheit die Gefahren
geschildert, welche die Sozialdemokratie für Deutschland in sich trage. Die
Frage, ob diese Gefahren im Wege der freien Diskusston zu besiegen seien, be¬
antwortete er auch jetzt wieder -- im Gegensatz zu der "Grundanschauung"
seines Kollegen Hänel -- mit einem entschiednen Nein. Aber -- die Neichs-
regieruug habe ja selbst seit jener Zeit ein Stück Sozialismus auf ihre Fahne
geschrieben, womit sie sein -- Bambergers -- System des Manchestertums durch¬
kreuze. Da müsse man ihr die Sozialdemokratie auf den Hals Hetzen, damit sie
besser Mores lerne. Sie müsse begreifen lernen, daß Krankenkassen-, Unfall¬
versicherung oder auch Jnvalidenvcrsorgung in den Augen der Sozialdemokratie
nur Brimboria seien. Dann werde sie nicht mehr auf diese Weise mit dem
Feuer spielen, sondern sich seinem alleinseligmachenden Wirtschaftssystem des
unbedingten Gehenlassens wieder in die Arme werfen. Eine ganz ähnliche Rede
hatte der Abgeordnete Bamberger bereits am 12. Mai 1884 gehalten. Bam-
berger trägt also kein Bedenken, die Gefahr von Aufruhr, Mord und Plünderung
über unser deutsches Vaterland heraufzubeschwören, weil er vermeint, dadurch
die Neichsregierung für Verlassen seines Wirtschaftssystem zu bestrafen.

Aber vielleicht thun wir unsern Freisinnigen doch Unrecht. Wie sich aus
der Einleitung der Hämelschen Rede ergab, hatten sie sich sehr genau überlegt,
wie sie abstimmen wollten: erst für die von Windthorst eingebrachten Ab-
schwächungsanträge zu dem Gesetz, dann aber doch wieder gegen das mit diesen
Abschwächungen behaftete ganze Gesetz. Bei der bekannten Stimmung eines
Teiles des Zentrums war hiernach vorauszusehen, daß die unveränderte Re¬
gierungsvorlage (nur mit abgekürzter Zeitdauer) durchgehen werde. Vielleicht
ist es daher doch ihre Absicht gewesen, das Gesetz durchbringen zu helfen, aber
dabei ihre "Prinzipien" zu wahren. Nun, dann wollen wir ihnen ihre gran¬
diosen Reden verzeihen.




Zur Verhandlung über das Sozialistengesetz.

Klassenhaß der Spitzbuben gegen die Besitzenden, daß sie dieselben nicht ohne
Gefahr der Bestrafung bestehlen können. Und wenn dies offen erlaubt wäre,
so brauchte es nicht so viel heimlich „mit Umgehung des Gesetzes" zu geschehen.
Also der Sinn für Gesetzlichkeit würde dadurch befördert werden. Auch ließe sich ja
mit voller Emphase aussprechen: „Wenn wir nicht dem Bürger die Überzeugung
bringen, daß nur das selbstthätige Bürgertum den Sieg über Diebstahl und
Raub verbürgen könne, dann wird diese Staats- und Gesellschaftsordnung
rettungslos zu Grunde gehen." Dieser Satz enthielte genau dieselbe Weisheit,
die unser Professor des Staatsrechts jüngst im Reichstage ausgesprochen hat.

Viel feiner zugeschliffen war die Rede Bambergers. Dieser hat in frühern
Jahren für das Gesetz gestimmt und damals mit voller Klarheit die Gefahren
geschildert, welche die Sozialdemokratie für Deutschland in sich trage. Die
Frage, ob diese Gefahren im Wege der freien Diskusston zu besiegen seien, be¬
antwortete er auch jetzt wieder — im Gegensatz zu der „Grundanschauung"
seines Kollegen Hänel — mit einem entschiednen Nein. Aber — die Neichs-
regieruug habe ja selbst seit jener Zeit ein Stück Sozialismus auf ihre Fahne
geschrieben, womit sie sein — Bambergers — System des Manchestertums durch¬
kreuze. Da müsse man ihr die Sozialdemokratie auf den Hals Hetzen, damit sie
besser Mores lerne. Sie müsse begreifen lernen, daß Krankenkassen-, Unfall¬
versicherung oder auch Jnvalidenvcrsorgung in den Augen der Sozialdemokratie
nur Brimboria seien. Dann werde sie nicht mehr auf diese Weise mit dem
Feuer spielen, sondern sich seinem alleinseligmachenden Wirtschaftssystem des
unbedingten Gehenlassens wieder in die Arme werfen. Eine ganz ähnliche Rede
hatte der Abgeordnete Bamberger bereits am 12. Mai 1884 gehalten. Bam-
berger trägt also kein Bedenken, die Gefahr von Aufruhr, Mord und Plünderung
über unser deutsches Vaterland heraufzubeschwören, weil er vermeint, dadurch
die Neichsregierung für Verlassen seines Wirtschaftssystem zu bestrafen.

Aber vielleicht thun wir unsern Freisinnigen doch Unrecht. Wie sich aus
der Einleitung der Hämelschen Rede ergab, hatten sie sich sehr genau überlegt,
wie sie abstimmen wollten: erst für die von Windthorst eingebrachten Ab-
schwächungsanträge zu dem Gesetz, dann aber doch wieder gegen das mit diesen
Abschwächungen behaftete ganze Gesetz. Bei der bekannten Stimmung eines
Teiles des Zentrums war hiernach vorauszusehen, daß die unveränderte Re¬
gierungsvorlage (nur mit abgekürzter Zeitdauer) durchgehen werde. Vielleicht
ist es daher doch ihre Absicht gewesen, das Gesetz durchbringen zu helfen, aber
dabei ihre „Prinzipien" zu wahren. Nun, dann wollen wir ihnen ihre gran¬
diosen Reden verzeihen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/92>, abgerufen am 30.06.2024.