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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Arbeiteraufstand in Belgien.

recht haben, ist kein Unglück; man weiß ja, was sie anderwärts damit leiste,?.
Aber sie hatten bisher auch keinen Befürworter ihrer Interessen von andrer
Seite und außer der herkömmlichen Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit
kaum andre Rechte. Die liberale Partei, die jahrelang am Ruder stand, war
in dieser Hinsicht fast vollständig unthätig. So lange die Klerikalen nur Op¬
position waren, machten sie sich diese Enthaltsamkeit zu nutze, beklagten sie als
Trägheit, Unfruchtbarkeit und Unfähigkeit und versprachen ihrerseits eine gro߬
artige Initiative, weitgehende Zugeständnisse und umfassende Reformen. Als sie
aber ans Regiment kamen, zeigten sie sich nicht weniger impotent als ihre Vor¬
gänger in der Verwaltung und ließen ihre Versprechungen unerfüllt. Sie be¬
sitzen die Macht, zu helfen, jetzt zwei volle Jahre und haben sie bis heute noch
in keiner Hinsicht angewendet. Sie glaubten besseres zu thun zu haben. Alle
Erscheinungen auf den: Gebiete des neuern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Lebens, alle Versuche, die Lage der arbeitenden Klassen zu heben und zu bessern,
alle Erfolge solcher Versuche in den Nachbarländern gingen an den neuen bel¬
gischen Staatsleukern vorüber, ohne ans sie Eindruck zu machen und sie zur
Nacheiferung zu veranlassen. Sie hatten sich ihrer Meinung nach in erster Reihe
mit der Sorge für die Kirche zu beschäftigen, neue geistliche Pfründen zu schaffen,
das Klosterwesen zu begünstigen, die Schulen den Priestern unterzuordnen,
Friedhofsfragen im Sinne ihrer Partei zu entscheiden und ähnliches zu besorgen,
während doch die Geschäfts- und Arbeitskrisis mit jeder Woche dringender
Maßregeln zur Vorbeugung gegen die ärgste Not zu ergreifen gebot. Im
deutschen Reiche und in Österreich, Länder, welche die belgischen Phrasendrechsler
als tief unter ihrem Mustcrstaate stehend, als zurückgeblieben, als despotisch
beherrscht ansehen und behandeln, haben längst schon die Frauen- und Kinder¬
arbeit billig geregelt lind der Ausbeutung der Arbeiter nach Möglichkeit Schranken
gezogen, sie haben die Unfall- und Krankheitsversicherung ins Leben geführt
und sind nahe dabei, anch die Altersversicherung ihrem Reformwerke hinzuzu¬
fügen. Den Belgiern mit ihrem thörichten Dünkel ist es meist nicht einmal
bekannt, daß solche gesetzliche Ordnung und Verbesserung des Looses der Ar¬
beiter überhaupt existirt, geschweige denn, daß etwas der Art bei ihnen von
Staatswegen auch nur begonnen worden wäre. Langdauernde Arbeit bei kärg¬
lichem Lohn, keinerlei Schutz gegen gewissenlose und mibarmherzige Ausbeutung,
traurigste Unsicherheit gegenüber der Möglichkeit von Unfällen und Erkrankungen,
trübste Aussichten auf die Zeit des Alters, das ist das Loos des Arbeiters in
dem Staate, welcher das Ideal der Liberalen vom Schlage unsrer Deutsch-
freisinnigen ist.

Das Elend der untern Bevölkeruugsschichtcn blieb also in Belgien während
der letzten Jahrzehnte durchschnittlich immer dasselbe, und die regierenden Klassen,
ihre Parteiführer und Minister schienen es einfach als natürlichen und keine
Besserung zulassenden Zustand zu betrachten. Die Betreffenden klagten zwar,


Der Arbeiteraufstand in Belgien.

recht haben, ist kein Unglück; man weiß ja, was sie anderwärts damit leiste,?.
Aber sie hatten bisher auch keinen Befürworter ihrer Interessen von andrer
Seite und außer der herkömmlichen Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit
kaum andre Rechte. Die liberale Partei, die jahrelang am Ruder stand, war
in dieser Hinsicht fast vollständig unthätig. So lange die Klerikalen nur Op¬
position waren, machten sie sich diese Enthaltsamkeit zu nutze, beklagten sie als
Trägheit, Unfruchtbarkeit und Unfähigkeit und versprachen ihrerseits eine gro߬
artige Initiative, weitgehende Zugeständnisse und umfassende Reformen. Als sie
aber ans Regiment kamen, zeigten sie sich nicht weniger impotent als ihre Vor¬
gänger in der Verwaltung und ließen ihre Versprechungen unerfüllt. Sie be¬
sitzen die Macht, zu helfen, jetzt zwei volle Jahre und haben sie bis heute noch
in keiner Hinsicht angewendet. Sie glaubten besseres zu thun zu haben. Alle
Erscheinungen auf den: Gebiete des neuern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Lebens, alle Versuche, die Lage der arbeitenden Klassen zu heben und zu bessern,
alle Erfolge solcher Versuche in den Nachbarländern gingen an den neuen bel¬
gischen Staatsleukern vorüber, ohne ans sie Eindruck zu machen und sie zur
Nacheiferung zu veranlassen. Sie hatten sich ihrer Meinung nach in erster Reihe
mit der Sorge für die Kirche zu beschäftigen, neue geistliche Pfründen zu schaffen,
das Klosterwesen zu begünstigen, die Schulen den Priestern unterzuordnen,
Friedhofsfragen im Sinne ihrer Partei zu entscheiden und ähnliches zu besorgen,
während doch die Geschäfts- und Arbeitskrisis mit jeder Woche dringender
Maßregeln zur Vorbeugung gegen die ärgste Not zu ergreifen gebot. Im
deutschen Reiche und in Österreich, Länder, welche die belgischen Phrasendrechsler
als tief unter ihrem Mustcrstaate stehend, als zurückgeblieben, als despotisch
beherrscht ansehen und behandeln, haben längst schon die Frauen- und Kinder¬
arbeit billig geregelt lind der Ausbeutung der Arbeiter nach Möglichkeit Schranken
gezogen, sie haben die Unfall- und Krankheitsversicherung ins Leben geführt
und sind nahe dabei, anch die Altersversicherung ihrem Reformwerke hinzuzu¬
fügen. Den Belgiern mit ihrem thörichten Dünkel ist es meist nicht einmal
bekannt, daß solche gesetzliche Ordnung und Verbesserung des Looses der Ar¬
beiter überhaupt existirt, geschweige denn, daß etwas der Art bei ihnen von
Staatswegen auch nur begonnen worden wäre. Langdauernde Arbeit bei kärg¬
lichem Lohn, keinerlei Schutz gegen gewissenlose und mibarmherzige Ausbeutung,
traurigste Unsicherheit gegenüber der Möglichkeit von Unfällen und Erkrankungen,
trübste Aussichten auf die Zeit des Alters, das ist das Loos des Arbeiters in
dem Staate, welcher das Ideal der Liberalen vom Schlage unsrer Deutsch-
freisinnigen ist.

Das Elend der untern Bevölkeruugsschichtcn blieb also in Belgien während
der letzten Jahrzehnte durchschnittlich immer dasselbe, und die regierenden Klassen,
ihre Parteiführer und Minister schienen es einfach als natürlichen und keine
Besserung zulassenden Zustand zu betrachten. Die Betreffenden klagten zwar,


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[0088] Der Arbeiteraufstand in Belgien. recht haben, ist kein Unglück; man weiß ja, was sie anderwärts damit leiste,?. Aber sie hatten bisher auch keinen Befürworter ihrer Interessen von andrer Seite und außer der herkömmlichen Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit kaum andre Rechte. Die liberale Partei, die jahrelang am Ruder stand, war in dieser Hinsicht fast vollständig unthätig. So lange die Klerikalen nur Op¬ position waren, machten sie sich diese Enthaltsamkeit zu nutze, beklagten sie als Trägheit, Unfruchtbarkeit und Unfähigkeit und versprachen ihrerseits eine gro߬ artige Initiative, weitgehende Zugeständnisse und umfassende Reformen. Als sie aber ans Regiment kamen, zeigten sie sich nicht weniger impotent als ihre Vor¬ gänger in der Verwaltung und ließen ihre Versprechungen unerfüllt. Sie be¬ sitzen die Macht, zu helfen, jetzt zwei volle Jahre und haben sie bis heute noch in keiner Hinsicht angewendet. Sie glaubten besseres zu thun zu haben. Alle Erscheinungen auf den: Gebiete des neuern wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, alle Versuche, die Lage der arbeitenden Klassen zu heben und zu bessern, alle Erfolge solcher Versuche in den Nachbarländern gingen an den neuen bel¬ gischen Staatsleukern vorüber, ohne ans sie Eindruck zu machen und sie zur Nacheiferung zu veranlassen. Sie hatten sich ihrer Meinung nach in erster Reihe mit der Sorge für die Kirche zu beschäftigen, neue geistliche Pfründen zu schaffen, das Klosterwesen zu begünstigen, die Schulen den Priestern unterzuordnen, Friedhofsfragen im Sinne ihrer Partei zu entscheiden und ähnliches zu besorgen, während doch die Geschäfts- und Arbeitskrisis mit jeder Woche dringender Maßregeln zur Vorbeugung gegen die ärgste Not zu ergreifen gebot. Im deutschen Reiche und in Österreich, Länder, welche die belgischen Phrasendrechsler als tief unter ihrem Mustcrstaate stehend, als zurückgeblieben, als despotisch beherrscht ansehen und behandeln, haben längst schon die Frauen- und Kinder¬ arbeit billig geregelt lind der Ausbeutung der Arbeiter nach Möglichkeit Schranken gezogen, sie haben die Unfall- und Krankheitsversicherung ins Leben geführt und sind nahe dabei, anch die Altersversicherung ihrem Reformwerke hinzuzu¬ fügen. Den Belgiern mit ihrem thörichten Dünkel ist es meist nicht einmal bekannt, daß solche gesetzliche Ordnung und Verbesserung des Looses der Ar¬ beiter überhaupt existirt, geschweige denn, daß etwas der Art bei ihnen von Staatswegen auch nur begonnen worden wäre. Langdauernde Arbeit bei kärg¬ lichem Lohn, keinerlei Schutz gegen gewissenlose und mibarmherzige Ausbeutung, traurigste Unsicherheit gegenüber der Möglichkeit von Unfällen und Erkrankungen, trübste Aussichten auf die Zeit des Alters, das ist das Loos des Arbeiters in dem Staate, welcher das Ideal der Liberalen vom Schlage unsrer Deutsch- freisinnigen ist. Das Elend der untern Bevölkeruugsschichtcn blieb also in Belgien während der letzten Jahrzehnte durchschnittlich immer dasselbe, und die regierenden Klassen, ihre Parteiführer und Minister schienen es einfach als natürlichen und keine Besserung zulassenden Zustand zu betrachten. Die Betreffenden klagten zwar,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/88>, abgerufen am 28.12.2024.