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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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ergriffen, da die Gesetze, nach den Grundsätzen fast unbeschränkter Freiheit zu¬
geschnitten, keinen Schutz dagegen gewährten. Günstigere Gelegenheit für die
Vorbereitung ihrer Absichten auf einen Umsturz der gegenwärtige" gesellschaft¬
lichen Verhältnisse fanden die leitenden Geister der Sozialdemokratie nirgends
als in dem liberalen Musterstaate Belgien. Im Jahre 1865 begannen sie hier
Fuß zu fassen, und schon 1876 schätzte Lavelehe die Zahl ihrer organisirten
Anhänger -- wohl etwas zu hoch -- auf 200 000. Einige Jahre vorher wurde
dem Baseler Kongresse ein Bericht vorgelegt, nach welchem die sogenannte Inter¬
nationale in ihren Listen 60 000 Namen belgischer Arbeiter führte. Hinsichtlich
der Organisation des sozialistischen Bundes in Belgien ist zu bemerken, daß
1870 zehn "Föderationen" desselben bestanden: die von Brüssel, die von Ant¬
werpen, die von Gent, die von Dampremy (beide im Becken von Charlervi),
ferner die von Lüttich, die des Borinage, die des Zentrums, die im Vesdrethal
und die von Huy. Preßorgane besaß der Bund damals in Belgien schon sechs,
darunter ein täglich erscheinendes Blatt, die in Brüssel herauskommende, nicht
ungeschickt geleitete "Liberte," in Antwerpen den vlämisch geschriebenen "Werker,"
in Verviers den "Mirabeau" und den "Proletaire," in Brügge den "Vooruit,"
ebenfalls für die Vlüminger bestimmt, und in Seraing den "Reveil." Außerdem
konnten die Agitatoren auf die Unterstützung der Lütticher Blätter "Le Petit
Cvrscire" und ,,L'Eclair" sowie auf die der Brüsseler Monatsschrift "La Soli-
darite" rechnen, welche der "sozialistische Philosoph" Fauvety, ein Schüler von
Pierre Leroux, herausgab. Die Föderationen oder Sektionen hatten nach ihrer
Vereinigung, der auch die "freien Arbeiter" von Verviers beitraten, einen General¬
rat von sechzehn Mitgliedern und beschickten einen alljährlich einmal tagende"
allgemeinen Kongreß. Arbeitseinstellungen und sonstige Zerwürfnisse zwischen den
belgischen Unternehmern und Arbeitern verhalfen der Internationale zu einer
großen Bedeutung, indes waren deren Führer nicht für Streiks, da sie auf
gewaltsamere und weniger lokale Lösung der Arbeiterfrage hinsteuerten, und
damit fanden sie bei der Mehrzahl der Bundesglieder kein Verständnis, auch
erfreuten sich die atheistischen Lehren der Marxianer und Bakunins wenigstens
bei den meist bigott katholischen vlämischen Massen keines Anklanges, zumal da
ihnen die Ultramontanen durch die Gründung des Taviersvereins, der nach dem
Muster der katholische" Gesellenvereine in Deutschland organisirt war und in
der Zeit seiner Blüte gegen 50 000 Mitglieder zählte, nicht ohne gute" Erfolg
entgegenwirkte. Als die Internationale aufhörte, versuchten ihre belgischen An¬
gehörigen sich als nationale Partei zu gestalten, doch zerfielen sie sofort in
zwei Parteien: die eine wollte sich, wie die deutscheu Sozialisten, der Mittel
zur Venvirklichung ihrer Pläne auf dem Wege der Wähle"? bemächtigen und
verband sich mit den radikalen Elementen des Bürgertums zu der Forderung
des allgemeinen Wahlrechts, die andre, deren Organ der "Mirabeau" wurde, be¬
hauptete, nur auf der Bahn der gewaltsame"! Niederwerfung des Bestehenden


ergriffen, da die Gesetze, nach den Grundsätzen fast unbeschränkter Freiheit zu¬
geschnitten, keinen Schutz dagegen gewährten. Günstigere Gelegenheit für die
Vorbereitung ihrer Absichten auf einen Umsturz der gegenwärtige« gesellschaft¬
lichen Verhältnisse fanden die leitenden Geister der Sozialdemokratie nirgends
als in dem liberalen Musterstaate Belgien. Im Jahre 1865 begannen sie hier
Fuß zu fassen, und schon 1876 schätzte Lavelehe die Zahl ihrer organisirten
Anhänger — wohl etwas zu hoch — auf 200 000. Einige Jahre vorher wurde
dem Baseler Kongresse ein Bericht vorgelegt, nach welchem die sogenannte Inter¬
nationale in ihren Listen 60 000 Namen belgischer Arbeiter führte. Hinsichtlich
der Organisation des sozialistischen Bundes in Belgien ist zu bemerken, daß
1870 zehn „Föderationen" desselben bestanden: die von Brüssel, die von Ant¬
werpen, die von Gent, die von Dampremy (beide im Becken von Charlervi),
ferner die von Lüttich, die des Borinage, die des Zentrums, die im Vesdrethal
und die von Huy. Preßorgane besaß der Bund damals in Belgien schon sechs,
darunter ein täglich erscheinendes Blatt, die in Brüssel herauskommende, nicht
ungeschickt geleitete „Liberte," in Antwerpen den vlämisch geschriebenen „Werker,"
in Verviers den „Mirabeau" und den „Proletaire," in Brügge den „Vooruit,"
ebenfalls für die Vlüminger bestimmt, und in Seraing den „Reveil." Außerdem
konnten die Agitatoren auf die Unterstützung der Lütticher Blätter „Le Petit
Cvrscire" und ,,L'Eclair" sowie auf die der Brüsseler Monatsschrift „La Soli-
darite" rechnen, welche der „sozialistische Philosoph" Fauvety, ein Schüler von
Pierre Leroux, herausgab. Die Föderationen oder Sektionen hatten nach ihrer
Vereinigung, der auch die „freien Arbeiter" von Verviers beitraten, einen General¬
rat von sechzehn Mitgliedern und beschickten einen alljährlich einmal tagende»
allgemeinen Kongreß. Arbeitseinstellungen und sonstige Zerwürfnisse zwischen den
belgischen Unternehmern und Arbeitern verhalfen der Internationale zu einer
großen Bedeutung, indes waren deren Führer nicht für Streiks, da sie auf
gewaltsamere und weniger lokale Lösung der Arbeiterfrage hinsteuerten, und
damit fanden sie bei der Mehrzahl der Bundesglieder kein Verständnis, auch
erfreuten sich die atheistischen Lehren der Marxianer und Bakunins wenigstens
bei den meist bigott katholischen vlämischen Massen keines Anklanges, zumal da
ihnen die Ultramontanen durch die Gründung des Taviersvereins, der nach dem
Muster der katholische» Gesellenvereine in Deutschland organisirt war und in
der Zeit seiner Blüte gegen 50 000 Mitglieder zählte, nicht ohne gute» Erfolg
entgegenwirkte. Als die Internationale aufhörte, versuchten ihre belgischen An¬
gehörigen sich als nationale Partei zu gestalten, doch zerfielen sie sofort in
zwei Parteien: die eine wollte sich, wie die deutscheu Sozialisten, der Mittel
zur Venvirklichung ihrer Pläne auf dem Wege der Wähle«? bemächtigen und
verband sich mit den radikalen Elementen des Bürgertums zu der Forderung
des allgemeinen Wahlrechts, die andre, deren Organ der „Mirabeau" wurde, be¬
hauptete, nur auf der Bahn der gewaltsame»! Niederwerfung des Bestehenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/86>, abgerufen am 28.12.2024.