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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Englische Gper in Berlin.

Sie macht außer dem Allegro- und Prestosatz (^) der ältern komischen Oper
sehr stark Gebrauch von dem hier vortrefflich verwendbaren und der mannich-
fachsten Wandlungen fähigen Takt. Daß man auch ohne den bekannten
nach jedem zweiten Takt abschnappenden Zwei- und Dreiviertel^Rhythmus Wir¬
kungen erzielen kann, beweisen die Franzosen, die als spärliche Gäste mitunter
unser "nationales" Operettenrepertoire durchbrechen. Aber bezeichnenderweise
sind es gerade solche, die zu dem Tanzschlendrian unsrer Operette noch im nächsten
Verhältnisse stehen, der geistlos-pfiffige Liebling des vorigen Jahrzents Lecocq
und der neuere, begabtere, aber anscheinend auch nicht so glückliche Audran.
Im Gegensatz zu ihrer farblosen Melodik könnte uns der Engländer noch fördern
durch den Erweis, welche reichen und nach allen Richtungen ausgiebigen Schätze
für die komische Oper noch im einfachen populären Liede liegen. Allerdings
muß man die komische Kraft der englischen Sprache im Gesang in Betracht
ziehen und die Frische der Empfindung, welche sich die Engländer noch für diese
naturwüchsige Kunst bewahrt haben. Wer einmal in seinen Studeutenjcchren
englische Kommilitonen ihre schnatternden, plärrenden, sprudelnden, wispernden
sonM mit der unglaublichen Zungenfertigkeit zum Klavier hat singen hören,
der wird sich gewiß der komischsten Wirkung erinnern, die je Musik auf ihn
ausgeübt hat. Es wäre originell, wenn auch auf dies verdorrende Feld einmal
eine erfrischende Brise vom stammverwandten Inselreiche herüberwehte, von dem
den Deutschen künstlerisches Heil schon manches mal gekommen.

Und nun schließlich der Gilbertsche Text, von dem wir ausgegangen sind.
Toll genug ist er für eine Komödie. Da ist irgend ein Reich von seltsamen
Vögeln und noch seltsameren Einrichtungen und Gesetzen, ein Chor, der sich über
sich selbst moquirt, eine Liebhaberin, frisch aus der Pension, mit dem süßen
Namen "Anm-Anm," ein "Nanki-Puh" von Liebhaberpriuz, der, als fahrender
Sänger verkleidet, sich darüber wundert, daß ihm ein Reichswürdenträger, mit
dein er "zufällig" zusammentrifft, unbekannterweise die ausführliche Exposition
des Stückes erzählt. Da ist eine Handlung, so monströs, daß mau garnicht
ernsthaft auf sie Acht giebt, sondern nur auf die buntscheckigen, queren Situationen,
die sich an ihr ausrotte". Ein Gesetz ist erlasse" worden von einem höchst mora¬
lischen Mikado, welches jede Galanterie mit dem Tode bestraft. Für England
sicherlich das passendste satirische Sujet. Unzählige Opfer sind dem schreckliche"
Gesetze schon gefallen. Endlich revoltirt das Volk. Um ihm zu genügen und
doch das Gesetz nicht umzustoßen, wird das neueste Opfer, ein Schneiderlein,
begnadigt und zugleich zum Oberhofhcnker (I,ore1 Hig-it ZZxsoutiouör), der höchsten
Würde im Reiche, befördert. Jetzt kann niemand mehr nach dem bewußten Ge¬
setze gerichtet werden, der Oberhofhenker müßte sich denn zuerst selbst köpfen.
Wie nun das Schneiderlein, das den Traditionen seines Standes gemäß absolut
kein Talent zum Henker hat, seinen Pflichten genügt, wie es nach einem Jahre
vergeblichen Ringens, endlich jemand umzubringen, durch einen Eilbefehl des


Grenzboten II. 1886. 7S
Englische Gper in Berlin.

Sie macht außer dem Allegro- und Prestosatz (^) der ältern komischen Oper
sehr stark Gebrauch von dem hier vortrefflich verwendbaren und der mannich-
fachsten Wandlungen fähigen Takt. Daß man auch ohne den bekannten
nach jedem zweiten Takt abschnappenden Zwei- und Dreiviertel^Rhythmus Wir¬
kungen erzielen kann, beweisen die Franzosen, die als spärliche Gäste mitunter
unser „nationales" Operettenrepertoire durchbrechen. Aber bezeichnenderweise
sind es gerade solche, die zu dem Tanzschlendrian unsrer Operette noch im nächsten
Verhältnisse stehen, der geistlos-pfiffige Liebling des vorigen Jahrzents Lecocq
und der neuere, begabtere, aber anscheinend auch nicht so glückliche Audran.
Im Gegensatz zu ihrer farblosen Melodik könnte uns der Engländer noch fördern
durch den Erweis, welche reichen und nach allen Richtungen ausgiebigen Schätze
für die komische Oper noch im einfachen populären Liede liegen. Allerdings
muß man die komische Kraft der englischen Sprache im Gesang in Betracht
ziehen und die Frische der Empfindung, welche sich die Engländer noch für diese
naturwüchsige Kunst bewahrt haben. Wer einmal in seinen Studeutenjcchren
englische Kommilitonen ihre schnatternden, plärrenden, sprudelnden, wispernden
sonM mit der unglaublichen Zungenfertigkeit zum Klavier hat singen hören,
der wird sich gewiß der komischsten Wirkung erinnern, die je Musik auf ihn
ausgeübt hat. Es wäre originell, wenn auch auf dies verdorrende Feld einmal
eine erfrischende Brise vom stammverwandten Inselreiche herüberwehte, von dem
den Deutschen künstlerisches Heil schon manches mal gekommen.

Und nun schließlich der Gilbertsche Text, von dem wir ausgegangen sind.
Toll genug ist er für eine Komödie. Da ist irgend ein Reich von seltsamen
Vögeln und noch seltsameren Einrichtungen und Gesetzen, ein Chor, der sich über
sich selbst moquirt, eine Liebhaberin, frisch aus der Pension, mit dem süßen
Namen „Anm-Anm," ein „Nanki-Puh" von Liebhaberpriuz, der, als fahrender
Sänger verkleidet, sich darüber wundert, daß ihm ein Reichswürdenträger, mit
dein er „zufällig" zusammentrifft, unbekannterweise die ausführliche Exposition
des Stückes erzählt. Da ist eine Handlung, so monströs, daß mau garnicht
ernsthaft auf sie Acht giebt, sondern nur auf die buntscheckigen, queren Situationen,
die sich an ihr ausrotte». Ein Gesetz ist erlasse» worden von einem höchst mora¬
lischen Mikado, welches jede Galanterie mit dem Tode bestraft. Für England
sicherlich das passendste satirische Sujet. Unzählige Opfer sind dem schreckliche»
Gesetze schon gefallen. Endlich revoltirt das Volk. Um ihm zu genügen und
doch das Gesetz nicht umzustoßen, wird das neueste Opfer, ein Schneiderlein,
begnadigt und zugleich zum Oberhofhcnker (I,ore1 Hig-it ZZxsoutiouör), der höchsten
Würde im Reiche, befördert. Jetzt kann niemand mehr nach dem bewußten Ge¬
setze gerichtet werden, der Oberhofhenker müßte sich denn zuerst selbst köpfen.
Wie nun das Schneiderlein, das den Traditionen seines Standes gemäß absolut
kein Talent zum Henker hat, seinen Pflichten genügt, wie es nach einem Jahre
vergeblichen Ringens, endlich jemand umzubringen, durch einen Eilbefehl des


Grenzboten II. 1886. 7S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/633>, abgerufen am 25.08.2024.