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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Line neue Kunstgeschichte des Mittelalters.

Renaissancekunst zu inciuguriren, zumal da schon Giovanni Pisano wieder in
gothische Bahnen einlenkt. Dem gegenüber muß auf die Vorstufen dieser anti-
kisirenden Richtung in Unteritalien unter Friedrich dem Zweiten und auf die
Nachfolge in Orvieto, Pisa, Bologna und Pistoja hingewiesen, sowie der in¬
dividuelle Charakter der Kunst Giovannis hervorgehoben werden, der bei aller
äußern Anlehnung an die Gothik Renaissancegcpräge trägt.

Mehr noch als in der Skulptur zeigen sich in der Malerei chronologische
Widersprüche, wenn man eine feste Zeitgrenze für das Mittelalter sucht. Die
Vorbereitung für die neue Zeit kreuzt und mischt sich mit dem Absterben der
mittelalterlichen Ideale. Die niederländische Malerschule des fünfzehnten Jahr¬
hunderts wird ungerecht lind einseitig beurteilt, wenn man sie, wie Reder es
thut, als die "höchste Erscheinung der mittelalterlichen Malerei in den nördlichen
Ländern" auffaßt. Wichtige technische und geistige Errungenschaften, die sich
an den Namen der Brüder van Eyck knüpfen, brechen einer neuen Entwicklung
die Bahn, wenn auch inhaltlich die mittelalterliche Tradition noch lange fort¬
lebt. Mau giebt ein wichtiges Merkmal der neu auflebenden Kunstentwicklung
preis, wenn man das rücksichtslose Naturstudium der Eycks als einen Aus¬
läufer mittelalterlicher Bestrebungen auffaßt, zu denen es nun einmal in dia¬
metralem Gegensatz steht. Auch die Schöpfung des selbständigen Tafelbildes
mit landschaftlich vertieften Hintergründen muß man als Neuerung betrachten,
deren eine absterbende Kunstrichtung nicht fähig ist.

Wenn man daher der Auffassung Uebers, daß die giotteske Kunst sich
noch völlig in mittelalterlichen Bahnen bewege, bedingt beistimmen kann, so
darf man doch den Unterschied zwischen dieser und der niederländischen, die sich
weit eher mit der Masaccios vergleichen ließe, nicht übersehen.

Gleichwohl ist es sehr verlockend, die mittelalterlichen Elemente in den
Kunstdarstellungen auch über die Grenzen des eigentlichen Mittelalters hinaus
zu verfolgen, um zu erkennen, wie der Umschwung der Anschauungen und Kunst¬
sitte kein plötzlicher und auf allen Gebieten gleichzeitig auftretender ist. Der
Reiz dieser Betrachtung der Grenzgebiete darf uns aber nicht verführen, die
historischen Grenzen selbst zu verschieben, weil dadurch die Schilderung der Kunst¬
entwicklung ini Mittelalter an Geschlossenheit verliert und gegen den Schluß
widerspruchsvolle und verwirrende Farben annimmt.

Abgesehen von diesen Einwänden muß hervorgehoben werden, daß inner¬
halb der nach unsrer Ansicht zu weit gesteckten Grenzen die Darstellung Uebers
der logischen Folgerichtigkeit nicht entbehrt. Ob die letztere indes den frühern
Leistungen der mittelalterlichen Kunstgeschichtschreibung so völlig abgebe, wie
der Verfasser (S. XXXIII) annimmt, dürfte im Hinblick anf Schnaases "Ge¬
schichte der bildenden Künste" noch zu entscheiden sein. Auch konnte dem Be¬
dürfnis einer zusammenfassenden Schilderung, welche die Monumente nach den
durch die neueste Spezialforschung gebotenen Grundsätzen gruppirt, aus dem


Line neue Kunstgeschichte des Mittelalters.

Renaissancekunst zu inciuguriren, zumal da schon Giovanni Pisano wieder in
gothische Bahnen einlenkt. Dem gegenüber muß auf die Vorstufen dieser anti-
kisirenden Richtung in Unteritalien unter Friedrich dem Zweiten und auf die
Nachfolge in Orvieto, Pisa, Bologna und Pistoja hingewiesen, sowie der in¬
dividuelle Charakter der Kunst Giovannis hervorgehoben werden, der bei aller
äußern Anlehnung an die Gothik Renaissancegcpräge trägt.

Mehr noch als in der Skulptur zeigen sich in der Malerei chronologische
Widersprüche, wenn man eine feste Zeitgrenze für das Mittelalter sucht. Die
Vorbereitung für die neue Zeit kreuzt und mischt sich mit dem Absterben der
mittelalterlichen Ideale. Die niederländische Malerschule des fünfzehnten Jahr¬
hunderts wird ungerecht lind einseitig beurteilt, wenn man sie, wie Reder es
thut, als die „höchste Erscheinung der mittelalterlichen Malerei in den nördlichen
Ländern" auffaßt. Wichtige technische und geistige Errungenschaften, die sich
an den Namen der Brüder van Eyck knüpfen, brechen einer neuen Entwicklung
die Bahn, wenn auch inhaltlich die mittelalterliche Tradition noch lange fort¬
lebt. Mau giebt ein wichtiges Merkmal der neu auflebenden Kunstentwicklung
preis, wenn man das rücksichtslose Naturstudium der Eycks als einen Aus¬
läufer mittelalterlicher Bestrebungen auffaßt, zu denen es nun einmal in dia¬
metralem Gegensatz steht. Auch die Schöpfung des selbständigen Tafelbildes
mit landschaftlich vertieften Hintergründen muß man als Neuerung betrachten,
deren eine absterbende Kunstrichtung nicht fähig ist.

Wenn man daher der Auffassung Uebers, daß die giotteske Kunst sich
noch völlig in mittelalterlichen Bahnen bewege, bedingt beistimmen kann, so
darf man doch den Unterschied zwischen dieser und der niederländischen, die sich
weit eher mit der Masaccios vergleichen ließe, nicht übersehen.

Gleichwohl ist es sehr verlockend, die mittelalterlichen Elemente in den
Kunstdarstellungen auch über die Grenzen des eigentlichen Mittelalters hinaus
zu verfolgen, um zu erkennen, wie der Umschwung der Anschauungen und Kunst¬
sitte kein plötzlicher und auf allen Gebieten gleichzeitig auftretender ist. Der
Reiz dieser Betrachtung der Grenzgebiete darf uns aber nicht verführen, die
historischen Grenzen selbst zu verschieben, weil dadurch die Schilderung der Kunst¬
entwicklung ini Mittelalter an Geschlossenheit verliert und gegen den Schluß
widerspruchsvolle und verwirrende Farben annimmt.

Abgesehen von diesen Einwänden muß hervorgehoben werden, daß inner¬
halb der nach unsrer Ansicht zu weit gesteckten Grenzen die Darstellung Uebers
der logischen Folgerichtigkeit nicht entbehrt. Ob die letztere indes den frühern
Leistungen der mittelalterlichen Kunstgeschichtschreibung so völlig abgebe, wie
der Verfasser (S. XXXIII) annimmt, dürfte im Hinblick anf Schnaases „Ge¬
schichte der bildenden Künste" noch zu entscheiden sein. Auch konnte dem Be¬
dürfnis einer zusammenfassenden Schilderung, welche die Monumente nach den
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[0626] Line neue Kunstgeschichte des Mittelalters. Renaissancekunst zu inciuguriren, zumal da schon Giovanni Pisano wieder in gothische Bahnen einlenkt. Dem gegenüber muß auf die Vorstufen dieser anti- kisirenden Richtung in Unteritalien unter Friedrich dem Zweiten und auf die Nachfolge in Orvieto, Pisa, Bologna und Pistoja hingewiesen, sowie der in¬ dividuelle Charakter der Kunst Giovannis hervorgehoben werden, der bei aller äußern Anlehnung an die Gothik Renaissancegcpräge trägt. Mehr noch als in der Skulptur zeigen sich in der Malerei chronologische Widersprüche, wenn man eine feste Zeitgrenze für das Mittelalter sucht. Die Vorbereitung für die neue Zeit kreuzt und mischt sich mit dem Absterben der mittelalterlichen Ideale. Die niederländische Malerschule des fünfzehnten Jahr¬ hunderts wird ungerecht lind einseitig beurteilt, wenn man sie, wie Reder es thut, als die „höchste Erscheinung der mittelalterlichen Malerei in den nördlichen Ländern" auffaßt. Wichtige technische und geistige Errungenschaften, die sich an den Namen der Brüder van Eyck knüpfen, brechen einer neuen Entwicklung die Bahn, wenn auch inhaltlich die mittelalterliche Tradition noch lange fort¬ lebt. Mau giebt ein wichtiges Merkmal der neu auflebenden Kunstentwicklung preis, wenn man das rücksichtslose Naturstudium der Eycks als einen Aus¬ läufer mittelalterlicher Bestrebungen auffaßt, zu denen es nun einmal in dia¬ metralem Gegensatz steht. Auch die Schöpfung des selbständigen Tafelbildes mit landschaftlich vertieften Hintergründen muß man als Neuerung betrachten, deren eine absterbende Kunstrichtung nicht fähig ist. Wenn man daher der Auffassung Uebers, daß die giotteske Kunst sich noch völlig in mittelalterlichen Bahnen bewege, bedingt beistimmen kann, so darf man doch den Unterschied zwischen dieser und der niederländischen, die sich weit eher mit der Masaccios vergleichen ließe, nicht übersehen. Gleichwohl ist es sehr verlockend, die mittelalterlichen Elemente in den Kunstdarstellungen auch über die Grenzen des eigentlichen Mittelalters hinaus zu verfolgen, um zu erkennen, wie der Umschwung der Anschauungen und Kunst¬ sitte kein plötzlicher und auf allen Gebieten gleichzeitig auftretender ist. Der Reiz dieser Betrachtung der Grenzgebiete darf uns aber nicht verführen, die historischen Grenzen selbst zu verschieben, weil dadurch die Schilderung der Kunst¬ entwicklung ini Mittelalter an Geschlossenheit verliert und gegen den Schluß widerspruchsvolle und verwirrende Farben annimmt. Abgesehen von diesen Einwänden muß hervorgehoben werden, daß inner¬ halb der nach unsrer Ansicht zu weit gesteckten Grenzen die Darstellung Uebers der logischen Folgerichtigkeit nicht entbehrt. Ob die letztere indes den frühern Leistungen der mittelalterlichen Kunstgeschichtschreibung so völlig abgebe, wie der Verfasser (S. XXXIII) annimmt, dürfte im Hinblick anf Schnaases „Ge¬ schichte der bildenden Künste" noch zu entscheiden sein. Auch konnte dem Be¬ dürfnis einer zusammenfassenden Schilderung, welche die Monumente nach den durch die neueste Spezialforschung gebotenen Grundsätzen gruppirt, aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/626>, abgerufen am 27.12.2024.