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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die evangelische Kirche und der Staat.

Als eine Erweiterung der Kompetenz, als eine Beseitigung lästiger Formalitüten,
darüber ließe sich reden. Es handelt sich aber um eine wirkliche Lösung des
bestehenden Verhältnisses von Kirche und Staat. Dies wird zwar in dem frag¬
lichen Antrage nicht ausdrücklich ausgesprochen, derselbe besitzt ja auch jetzt eine
mehrfach abgeschwächte Form, aber die eigentliche Meinung der Antragsteller ist
auf eine wirkliche Trennung von Kirche und Staat gerichtet.

Daß die katholische Kirche ohne staatliche Hilfe bestehen kann, daß es in
Amerika Kirchenbildungen giebt, die durchaus selbständig sind, wird als Grund
für die Möglichkeit der Sache angeführt, während durch beides eigentlich das
Gegenteil bewiesen wird. Ob das Experiment Erfolg haben werde, die Frage
beunruhigt die Unternehmer nicht, da sie von der Nichtigkeit des Prinzips über¬
zeugt sind und ein Zerfall der Landeskirche als ein Übel -- wenigstens von
einem Teile der Partei -- nicht gefürchtet wird. Schrieb man doch neulich
aus Bielefeld: "Habt ihr Mut? Wir müssen und werden die freie Kirche haben,
n"d wenn das nicht -- die Freikirche," d. h. den amerikanischen Zustand.

Da wir eine solche Perspektive nicht erfreulich finden, so werfen wir ernstlich
die Frage auf: Was wird aus der evangelischen Kirche, wenn sie den Halt,
den sie bisher genossen und ohne den sie von den Tagen ihrer Entstehung an
überhaupt nicht gelebt hat, sollte entbehren müssen? Irgendwo müssen doch
die Knochen sitzen, entweder inwendig, wie beim Wirbeltier, oder auswendig,
wie bei der Schildkröte, inwendig, wie beim hart gewordnen Lehrgerüste der
katholischen Kirche, oder auswendig, wie bei der äußern, staatlich gegebenen Form
der evangelischen Kirche. Das die Lehre wie die Verfassung festlegende Dogma,
dessen Formulirung in "unfehlbarer" Hand liegt, giebt der katholischen Kirche
ihre Festigkeit, Gliederung und sichere Abgrenzung und macht diese Kirche so
stark, daß sie nicht allein ohne eine Staatsgewalt leben, sondern auch den
Kampf gegen dieselbe führen kann. Damit muß sie freilich alle jene Schäden,
jene Knechtung der Geister, jene Trübung des christlichen Glaubens mit in den
Kauf nehmen, welche einst unsern Vätern den Aufenthalt in jenem stolzen Ban
unmöglich machten. Wenn wir das Recht des Einzelnen, seine eigne Ver¬
antwortung zu tragen, seiner eignen Überzeugung und dem eignen Gewissen zu
folgen, bewahren wollen, müssen wir auf die Stereotypirung der Lehre und
damit auf das innere Knochengerüst verzichten. Unsre Stärke ist zugleich unsre
Schwäche. Die heilige Schrift ist das unverrückbare Fundament, aber die
Forschung in der Schrift, die Zusammenfassung der Lehre zu Lehrsätzen muß
frei sein. Wird jedoch die Kirchenlehre, und wenn es auch die der Reformatoren
ist, in einer Weise fixirt, daß sie objektive Norm wird, so mag dies immerhin
der Kirche zur Stärkung gereichen, zu einer sichern Abgrenzung nach außen und
zu einer engern Zusammenfassung nach innen, aber die kirchliche Entwicklung
hätte die verhängnisvolle Wendung gemacht, die von den evangelischen Grund¬
sätzen hinweg die Richtung der römischen einschlägt.


Die evangelische Kirche und der Staat.

Als eine Erweiterung der Kompetenz, als eine Beseitigung lästiger Formalitüten,
darüber ließe sich reden. Es handelt sich aber um eine wirkliche Lösung des
bestehenden Verhältnisses von Kirche und Staat. Dies wird zwar in dem frag¬
lichen Antrage nicht ausdrücklich ausgesprochen, derselbe besitzt ja auch jetzt eine
mehrfach abgeschwächte Form, aber die eigentliche Meinung der Antragsteller ist
auf eine wirkliche Trennung von Kirche und Staat gerichtet.

Daß die katholische Kirche ohne staatliche Hilfe bestehen kann, daß es in
Amerika Kirchenbildungen giebt, die durchaus selbständig sind, wird als Grund
für die Möglichkeit der Sache angeführt, während durch beides eigentlich das
Gegenteil bewiesen wird. Ob das Experiment Erfolg haben werde, die Frage
beunruhigt die Unternehmer nicht, da sie von der Nichtigkeit des Prinzips über¬
zeugt sind und ein Zerfall der Landeskirche als ein Übel — wenigstens von
einem Teile der Partei — nicht gefürchtet wird. Schrieb man doch neulich
aus Bielefeld: „Habt ihr Mut? Wir müssen und werden die freie Kirche haben,
n»d wenn das nicht — die Freikirche," d. h. den amerikanischen Zustand.

Da wir eine solche Perspektive nicht erfreulich finden, so werfen wir ernstlich
die Frage auf: Was wird aus der evangelischen Kirche, wenn sie den Halt,
den sie bisher genossen und ohne den sie von den Tagen ihrer Entstehung an
überhaupt nicht gelebt hat, sollte entbehren müssen? Irgendwo müssen doch
die Knochen sitzen, entweder inwendig, wie beim Wirbeltier, oder auswendig,
wie bei der Schildkröte, inwendig, wie beim hart gewordnen Lehrgerüste der
katholischen Kirche, oder auswendig, wie bei der äußern, staatlich gegebenen Form
der evangelischen Kirche. Das die Lehre wie die Verfassung festlegende Dogma,
dessen Formulirung in „unfehlbarer" Hand liegt, giebt der katholischen Kirche
ihre Festigkeit, Gliederung und sichere Abgrenzung und macht diese Kirche so
stark, daß sie nicht allein ohne eine Staatsgewalt leben, sondern auch den
Kampf gegen dieselbe führen kann. Damit muß sie freilich alle jene Schäden,
jene Knechtung der Geister, jene Trübung des christlichen Glaubens mit in den
Kauf nehmen, welche einst unsern Vätern den Aufenthalt in jenem stolzen Ban
unmöglich machten. Wenn wir das Recht des Einzelnen, seine eigne Ver¬
antwortung zu tragen, seiner eignen Überzeugung und dem eignen Gewissen zu
folgen, bewahren wollen, müssen wir auf die Stereotypirung der Lehre und
damit auf das innere Knochengerüst verzichten. Unsre Stärke ist zugleich unsre
Schwäche. Die heilige Schrift ist das unverrückbare Fundament, aber die
Forschung in der Schrift, die Zusammenfassung der Lehre zu Lehrsätzen muß
frei sein. Wird jedoch die Kirchenlehre, und wenn es auch die der Reformatoren
ist, in einer Weise fixirt, daß sie objektive Norm wird, so mag dies immerhin
der Kirche zur Stärkung gereichen, zu einer sichern Abgrenzung nach außen und
zu einer engern Zusammenfassung nach innen, aber die kirchliche Entwicklung
hätte die verhängnisvolle Wendung gemacht, die von den evangelischen Grund¬
sätzen hinweg die Richtung der römischen einschlägt.


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[0619] Die evangelische Kirche und der Staat. Als eine Erweiterung der Kompetenz, als eine Beseitigung lästiger Formalitüten, darüber ließe sich reden. Es handelt sich aber um eine wirkliche Lösung des bestehenden Verhältnisses von Kirche und Staat. Dies wird zwar in dem frag¬ lichen Antrage nicht ausdrücklich ausgesprochen, derselbe besitzt ja auch jetzt eine mehrfach abgeschwächte Form, aber die eigentliche Meinung der Antragsteller ist auf eine wirkliche Trennung von Kirche und Staat gerichtet. Daß die katholische Kirche ohne staatliche Hilfe bestehen kann, daß es in Amerika Kirchenbildungen giebt, die durchaus selbständig sind, wird als Grund für die Möglichkeit der Sache angeführt, während durch beides eigentlich das Gegenteil bewiesen wird. Ob das Experiment Erfolg haben werde, die Frage beunruhigt die Unternehmer nicht, da sie von der Nichtigkeit des Prinzips über¬ zeugt sind und ein Zerfall der Landeskirche als ein Übel — wenigstens von einem Teile der Partei — nicht gefürchtet wird. Schrieb man doch neulich aus Bielefeld: „Habt ihr Mut? Wir müssen und werden die freie Kirche haben, n»d wenn das nicht — die Freikirche," d. h. den amerikanischen Zustand. Da wir eine solche Perspektive nicht erfreulich finden, so werfen wir ernstlich die Frage auf: Was wird aus der evangelischen Kirche, wenn sie den Halt, den sie bisher genossen und ohne den sie von den Tagen ihrer Entstehung an überhaupt nicht gelebt hat, sollte entbehren müssen? Irgendwo müssen doch die Knochen sitzen, entweder inwendig, wie beim Wirbeltier, oder auswendig, wie bei der Schildkröte, inwendig, wie beim hart gewordnen Lehrgerüste der katholischen Kirche, oder auswendig, wie bei der äußern, staatlich gegebenen Form der evangelischen Kirche. Das die Lehre wie die Verfassung festlegende Dogma, dessen Formulirung in „unfehlbarer" Hand liegt, giebt der katholischen Kirche ihre Festigkeit, Gliederung und sichere Abgrenzung und macht diese Kirche so stark, daß sie nicht allein ohne eine Staatsgewalt leben, sondern auch den Kampf gegen dieselbe führen kann. Damit muß sie freilich alle jene Schäden, jene Knechtung der Geister, jene Trübung des christlichen Glaubens mit in den Kauf nehmen, welche einst unsern Vätern den Aufenthalt in jenem stolzen Ban unmöglich machten. Wenn wir das Recht des Einzelnen, seine eigne Ver¬ antwortung zu tragen, seiner eignen Überzeugung und dem eignen Gewissen zu folgen, bewahren wollen, müssen wir auf die Stereotypirung der Lehre und damit auf das innere Knochengerüst verzichten. Unsre Stärke ist zugleich unsre Schwäche. Die heilige Schrift ist das unverrückbare Fundament, aber die Forschung in der Schrift, die Zusammenfassung der Lehre zu Lehrsätzen muß frei sein. Wird jedoch die Kirchenlehre, und wenn es auch die der Reformatoren ist, in einer Weise fixirt, daß sie objektive Norm wird, so mag dies immerhin der Kirche zur Stärkung gereichen, zu einer sichern Abgrenzung nach außen und zu einer engern Zusammenfassung nach innen, aber die kirchliche Entwicklung hätte die verhängnisvolle Wendung gemacht, die von den evangelischen Grund¬ sätzen hinweg die Richtung der römischen einschlägt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/619>, abgerufen am 26.08.2024.