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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Nusikalische Sünden.

haben, daß die Überschrift sozusagen als Entschuldigung des Komponisten auf¬
zufassen ist, daß er uns da ein aus dem Zusammenhange gerissenes Stück von
Goethes "Harzreise im Winter" vorführt? Und wem mag der weggelassene
Anfang dieses großartigen Gedichtes so gegenwärtig gewesen sein, daß er die
Stimmung des Vorspieles begreifen konnte und die Trostlosigkeit, in der dann
der Text einsetzt:'


Aber abseits, wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Wer gewohnt ist, ein Lied nicht zu studiren, ohne daß er die Fassung
des Textes beim Dichter vergleicht, der weiß, wie außerordentlich verbreitet diese
offenbare Unsitte unter den Musikern ist. In welcher Weise aber viele von
ihnen ihr Verhältnis zum Dichter auffassen, das zeigt der zwar schon oft
gerügte, indes immer wieder dann und wann auftauchende Mißbrauch, den
Dichter gar nicht mehr zu nennen. Jeder gebildete Musiker sollte doch hent-
zutage wissen, daß Wort und Weise in einem Liede gleichberechtigte Bestand¬
teile sind nud daß ein echtes Kunstwerk ihre volle gegenseitige Durchdringung
erheischt.

Weit häufiger aber noch, als der Fehler der ehrfurchtslosen Verzerrung der
Texte, ist der zweite, den ich rügen will: verkehrte Wahl der Kompositionsform.

Soll eine kunstgerechte Licdweise das Tonbild, welches die verständige und
ausdrucksvolle Deklamation eines Gedichtes giebt, zu ihrer Grundlage haben,
so darf die Kompositionsform und die durch sie geforderte Vortragsart auch
nicht im Widerspruche stehen mit dem Gedankcnbilde, das der Text schon ohne
Töne in unsrer Seele erzeugt.

Demnach kann ein Gedicht nur dann als Chorlied komponirt werden, wenn
es eine Stimmung wiedergiebt, die viele gemeinsam haben können, wie etwa das
Mendelssohnsche "Wer hat dich, du schöner Wald" (Vers 3: Was wir still
gelobt im Wald, wollens draußen ehrlich halten). Aber ist es nicht komisch,
von einer ganzen Schaar von Männern singen zu hören:


Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur.?

Und muß es nicht geradezu als schlechter Witz gelten, wenn bei dem letzten
großen Hamburger Sängerfeste ein paar tausend Scmgesbrüder das Quartett
von Kvschat vortrugen:


[Beginn Spaltensatz] Verlassen, verlossen,
Verlassen bin i,
Wie der Stoan auf der Straßen,
Ka Diandle mag mi, Drum geh i zum Kirchlan,
Zum Kirchlan hinaus,
Dort tria i mi nieder
Und woan mi halt aus. [Spaltenumbruch] Im Wald steht a Hiigerl,
Viel Bleamerl blühn drauf,
Drunt schloft mei arms Diandle,
Ka Lieb weckts mehr auf. Dorthin is mei Wallfahrt,
Dorthin is mei Sinn,
Dort mirk i halt tendu,
Wia verlossen i bin. [Ende Spaltensatz]

Nusikalische Sünden.

haben, daß die Überschrift sozusagen als Entschuldigung des Komponisten auf¬
zufassen ist, daß er uns da ein aus dem Zusammenhange gerissenes Stück von
Goethes „Harzreise im Winter" vorführt? Und wem mag der weggelassene
Anfang dieses großartigen Gedichtes so gegenwärtig gewesen sein, daß er die
Stimmung des Vorspieles begreifen konnte und die Trostlosigkeit, in der dann
der Text einsetzt:'


Aber abseits, wer ists?
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Wer gewohnt ist, ein Lied nicht zu studiren, ohne daß er die Fassung
des Textes beim Dichter vergleicht, der weiß, wie außerordentlich verbreitet diese
offenbare Unsitte unter den Musikern ist. In welcher Weise aber viele von
ihnen ihr Verhältnis zum Dichter auffassen, das zeigt der zwar schon oft
gerügte, indes immer wieder dann und wann auftauchende Mißbrauch, den
Dichter gar nicht mehr zu nennen. Jeder gebildete Musiker sollte doch hent-
zutage wissen, daß Wort und Weise in einem Liede gleichberechtigte Bestand¬
teile sind nud daß ein echtes Kunstwerk ihre volle gegenseitige Durchdringung
erheischt.

Weit häufiger aber noch, als der Fehler der ehrfurchtslosen Verzerrung der
Texte, ist der zweite, den ich rügen will: verkehrte Wahl der Kompositionsform.

Soll eine kunstgerechte Licdweise das Tonbild, welches die verständige und
ausdrucksvolle Deklamation eines Gedichtes giebt, zu ihrer Grundlage haben,
so darf die Kompositionsform und die durch sie geforderte Vortragsart auch
nicht im Widerspruche stehen mit dem Gedankcnbilde, das der Text schon ohne
Töne in unsrer Seele erzeugt.

Demnach kann ein Gedicht nur dann als Chorlied komponirt werden, wenn
es eine Stimmung wiedergiebt, die viele gemeinsam haben können, wie etwa das
Mendelssohnsche „Wer hat dich, du schöner Wald" (Vers 3: Was wir still
gelobt im Wald, wollens draußen ehrlich halten). Aber ist es nicht komisch,
von einer ganzen Schaar von Männern singen zu hören:


Das ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur.?

Und muß es nicht geradezu als schlechter Witz gelten, wenn bei dem letzten
großen Hamburger Sängerfeste ein paar tausend Scmgesbrüder das Quartett
von Kvschat vortrugen:


[Beginn Spaltensatz] Verlassen, verlossen,
Verlassen bin i,
Wie der Stoan auf der Straßen,
Ka Diandle mag mi, Drum geh i zum Kirchlan,
Zum Kirchlan hinaus,
Dort tria i mi nieder
Und woan mi halt aus. [Spaltenumbruch] Im Wald steht a Hiigerl,
Viel Bleamerl blühn drauf,
Drunt schloft mei arms Diandle,
Ka Lieb weckts mehr auf. Dorthin is mei Wallfahrt,
Dorthin is mei Sinn,
Dort mirk i halt tendu,
Wia verlossen i bin. [Ende Spaltensatz]

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[0579] Nusikalische Sünden. haben, daß die Überschrift sozusagen als Entschuldigung des Komponisten auf¬ zufassen ist, daß er uns da ein aus dem Zusammenhange gerissenes Stück von Goethes „Harzreise im Winter" vorführt? Und wem mag der weggelassene Anfang dieses großartigen Gedichtes so gegenwärtig gewesen sein, daß er die Stimmung des Vorspieles begreifen konnte und die Trostlosigkeit, in der dann der Text einsetzt:' Aber abseits, wer ists? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Wer gewohnt ist, ein Lied nicht zu studiren, ohne daß er die Fassung des Textes beim Dichter vergleicht, der weiß, wie außerordentlich verbreitet diese offenbare Unsitte unter den Musikern ist. In welcher Weise aber viele von ihnen ihr Verhältnis zum Dichter auffassen, das zeigt der zwar schon oft gerügte, indes immer wieder dann und wann auftauchende Mißbrauch, den Dichter gar nicht mehr zu nennen. Jeder gebildete Musiker sollte doch hent- zutage wissen, daß Wort und Weise in einem Liede gleichberechtigte Bestand¬ teile sind nud daß ein echtes Kunstwerk ihre volle gegenseitige Durchdringung erheischt. Weit häufiger aber noch, als der Fehler der ehrfurchtslosen Verzerrung der Texte, ist der zweite, den ich rügen will: verkehrte Wahl der Kompositionsform. Soll eine kunstgerechte Licdweise das Tonbild, welches die verständige und ausdrucksvolle Deklamation eines Gedichtes giebt, zu ihrer Grundlage haben, so darf die Kompositionsform und die durch sie geforderte Vortragsart auch nicht im Widerspruche stehen mit dem Gedankcnbilde, das der Text schon ohne Töne in unsrer Seele erzeugt. Demnach kann ein Gedicht nur dann als Chorlied komponirt werden, wenn es eine Stimmung wiedergiebt, die viele gemeinsam haben können, wie etwa das Mendelssohnsche „Wer hat dich, du schöner Wald" (Vers 3: Was wir still gelobt im Wald, wollens draußen ehrlich halten). Aber ist es nicht komisch, von einer ganzen Schaar von Männern singen zu hören: Das ist der Tag des Herrn! Ich bin allein auf weiter Flur.? Und muß es nicht geradezu als schlechter Witz gelten, wenn bei dem letzten großen Hamburger Sängerfeste ein paar tausend Scmgesbrüder das Quartett von Kvschat vortrugen: Verlassen, verlossen, Verlassen bin i, Wie der Stoan auf der Straßen, Ka Diandle mag mi, Drum geh i zum Kirchlan, Zum Kirchlan hinaus, Dort tria i mi nieder Und woan mi halt aus. Im Wald steht a Hiigerl, Viel Bleamerl blühn drauf, Drunt schloft mei arms Diandle, Ka Lieb weckts mehr auf. Dorthin is mei Wallfahrt, Dorthin is mei Sinn, Dort mirk i halt tendu, Wia verlossen i bin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/579>, abgerufen am 25.07.2024.