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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Lutherspiele in Erfurt und Jena.

bei dieser seiner Eigentümlichkeit das Herrigsche Spiel rasch genug, die Erfurter
Aufführung nahm mit den die Darstellung begleitenden "der vielmehr unter¬
brechenden zehn Chorälen genau zwei Stunden in Anspruch.

Die Darstellung verdiente unter den einmal angenommenen Voraussetzungen
volles Lob, sie war durchaus würdig und ernst gehalten, eine ersichtliche Wechsel¬
wirkung fand zwischen der Stimmung der Darstellenden und der Stimmung des
Publikums statt. Charakteristisch ist und bleibt es freilich, daß diese neuen
Bürgerschauspiele sowohl in Jena als in Erfurt uur unter der entscheidenden
Mitwirkung eines Berufsschauspielers stattfinden konnten; in Erfurt spielte der
frühere Schauspieldirektor in Straßburg Alexander Heßler, in Jena Dr. Otto
Devrient, der Verfasser des Jenenser Lutherspiels, die Titelrolle, und das Be¬
denken, daß sich an diese Aufführungen eine neue Art von Virtuosentum auhüugeu
und anhaften möge, ist daher nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.
Doch erachten wir aus den schon oben angedeuteten Gründen die Gefahr für
nicht allzugroß, die betreffenden Schauspiele können eben nur in der festen Ver¬
bindung mit lokalem Geiste gedeihen, und ein fahrender Komödiant, der auf der
Basis einer "guten Maske" als Wallenstein, Karl XII. oder Napoleon sich die
bürgerlichen Mitspieler in irgendeiner beliebigen Stadt suchen wollte, dürste
unerfreuliche Erfahrungen machen. Sonach ist also die Mitwirkung von Berufs¬
schauspielern in gewissen Hauptrollen kaum anders anzusehen, als die Übernahme
von Solopartien bei großen Oratorienaufführuugcu durch künstlerisch geschulte
Säuger. Sie sprengen den gezognen Nahmen des Unternehmens nicht, sie fügen
sich in denselben ein.

Von überwiegender Wichtigkeit aber erscheint die Frage, ob die Jnszenirung
ohne Dekorationen, die bloße Andeutung von Massenwirkungen, mit einem
Wort, das Wiederaufleben einer nur symbolischen Darstellung großer Momente
der Handlung in der That glücklich ist und nicht allzusehr ein archaistisches
Gepräge trägt. Es ist immer mißlich, hinter die Kunstmittel und hinter die
Gewöhnungen der eignen Zeit, soweit dieselben nicht gerade unkünstlerisch, zweck-
gefährdeud und verwerflich siud, zurückzugehen. Auch läßt sich -- das erwies
die Erfurter Lutherspieldarstelluug klar genug -- eine rein symbolische Vor¬
führung nicht durchsetzen. Das Bürgerspiel des sechzehnten Jahrhunderts hat
sicher mit viel geringern äußern Hilfsmitteln gewirtschaftet, aber die Berufs¬
schauspieler der gleichen Zeit, die "englischen Komödianten," werden eben auch
keinen größern besessen haben. Bei diesem neuesten Spiel ist in Kostümen, kleinen
Requisiten aller Art schon viel zu viel von dem modernen Ausstattnugsrealismus
Gebrauch gemacht, um das plötzliche Innehalten an einem bestimmten Punkte
nicht wie einen unbehaglichen Ruck und einen innern Widerspruch dazu zu
empfinden. Die Szene, in der Luther die Verbrennung der Bannbulle beschließt
und bespricht, ist viel zu bewegt, um nicht das Verlangen nach dem wirklichen
Vorgang der Handlung zu wecken. Die Andeutung des Wormser Reichstages


Lutherspiele in Erfurt und Jena.

bei dieser seiner Eigentümlichkeit das Herrigsche Spiel rasch genug, die Erfurter
Aufführung nahm mit den die Darstellung begleitenden »der vielmehr unter¬
brechenden zehn Chorälen genau zwei Stunden in Anspruch.

Die Darstellung verdiente unter den einmal angenommenen Voraussetzungen
volles Lob, sie war durchaus würdig und ernst gehalten, eine ersichtliche Wechsel¬
wirkung fand zwischen der Stimmung der Darstellenden und der Stimmung des
Publikums statt. Charakteristisch ist und bleibt es freilich, daß diese neuen
Bürgerschauspiele sowohl in Jena als in Erfurt uur unter der entscheidenden
Mitwirkung eines Berufsschauspielers stattfinden konnten; in Erfurt spielte der
frühere Schauspieldirektor in Straßburg Alexander Heßler, in Jena Dr. Otto
Devrient, der Verfasser des Jenenser Lutherspiels, die Titelrolle, und das Be¬
denken, daß sich an diese Aufführungen eine neue Art von Virtuosentum auhüugeu
und anhaften möge, ist daher nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen.
Doch erachten wir aus den schon oben angedeuteten Gründen die Gefahr für
nicht allzugroß, die betreffenden Schauspiele können eben nur in der festen Ver¬
bindung mit lokalem Geiste gedeihen, und ein fahrender Komödiant, der auf der
Basis einer „guten Maske" als Wallenstein, Karl XII. oder Napoleon sich die
bürgerlichen Mitspieler in irgendeiner beliebigen Stadt suchen wollte, dürste
unerfreuliche Erfahrungen machen. Sonach ist also die Mitwirkung von Berufs¬
schauspielern in gewissen Hauptrollen kaum anders anzusehen, als die Übernahme
von Solopartien bei großen Oratorienaufführuugcu durch künstlerisch geschulte
Säuger. Sie sprengen den gezognen Nahmen des Unternehmens nicht, sie fügen
sich in denselben ein.

Von überwiegender Wichtigkeit aber erscheint die Frage, ob die Jnszenirung
ohne Dekorationen, die bloße Andeutung von Massenwirkungen, mit einem
Wort, das Wiederaufleben einer nur symbolischen Darstellung großer Momente
der Handlung in der That glücklich ist und nicht allzusehr ein archaistisches
Gepräge trägt. Es ist immer mißlich, hinter die Kunstmittel und hinter die
Gewöhnungen der eignen Zeit, soweit dieselben nicht gerade unkünstlerisch, zweck-
gefährdeud und verwerflich siud, zurückzugehen. Auch läßt sich — das erwies
die Erfurter Lutherspieldarstelluug klar genug — eine rein symbolische Vor¬
führung nicht durchsetzen. Das Bürgerspiel des sechzehnten Jahrhunderts hat
sicher mit viel geringern äußern Hilfsmitteln gewirtschaftet, aber die Berufs¬
schauspieler der gleichen Zeit, die „englischen Komödianten," werden eben auch
keinen größern besessen haben. Bei diesem neuesten Spiel ist in Kostümen, kleinen
Requisiten aller Art schon viel zu viel von dem modernen Ausstattnugsrealismus
Gebrauch gemacht, um das plötzliche Innehalten an einem bestimmten Punkte
nicht wie einen unbehaglichen Ruck und einen innern Widerspruch dazu zu
empfinden. Die Szene, in der Luther die Verbrennung der Bannbulle beschließt
und bespricht, ist viel zu bewegt, um nicht das Verlangen nach dem wirklichen
Vorgang der Handlung zu wecken. Die Andeutung des Wormser Reichstages


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[0484] Lutherspiele in Erfurt und Jena. bei dieser seiner Eigentümlichkeit das Herrigsche Spiel rasch genug, die Erfurter Aufführung nahm mit den die Darstellung begleitenden »der vielmehr unter¬ brechenden zehn Chorälen genau zwei Stunden in Anspruch. Die Darstellung verdiente unter den einmal angenommenen Voraussetzungen volles Lob, sie war durchaus würdig und ernst gehalten, eine ersichtliche Wechsel¬ wirkung fand zwischen der Stimmung der Darstellenden und der Stimmung des Publikums statt. Charakteristisch ist und bleibt es freilich, daß diese neuen Bürgerschauspiele sowohl in Jena als in Erfurt uur unter der entscheidenden Mitwirkung eines Berufsschauspielers stattfinden konnten; in Erfurt spielte der frühere Schauspieldirektor in Straßburg Alexander Heßler, in Jena Dr. Otto Devrient, der Verfasser des Jenenser Lutherspiels, die Titelrolle, und das Be¬ denken, daß sich an diese Aufführungen eine neue Art von Virtuosentum auhüugeu und anhaften möge, ist daher nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Doch erachten wir aus den schon oben angedeuteten Gründen die Gefahr für nicht allzugroß, die betreffenden Schauspiele können eben nur in der festen Ver¬ bindung mit lokalem Geiste gedeihen, und ein fahrender Komödiant, der auf der Basis einer „guten Maske" als Wallenstein, Karl XII. oder Napoleon sich die bürgerlichen Mitspieler in irgendeiner beliebigen Stadt suchen wollte, dürste unerfreuliche Erfahrungen machen. Sonach ist also die Mitwirkung von Berufs¬ schauspielern in gewissen Hauptrollen kaum anders anzusehen, als die Übernahme von Solopartien bei großen Oratorienaufführuugcu durch künstlerisch geschulte Säuger. Sie sprengen den gezognen Nahmen des Unternehmens nicht, sie fügen sich in denselben ein. Von überwiegender Wichtigkeit aber erscheint die Frage, ob die Jnszenirung ohne Dekorationen, die bloße Andeutung von Massenwirkungen, mit einem Wort, das Wiederaufleben einer nur symbolischen Darstellung großer Momente der Handlung in der That glücklich ist und nicht allzusehr ein archaistisches Gepräge trägt. Es ist immer mißlich, hinter die Kunstmittel und hinter die Gewöhnungen der eignen Zeit, soweit dieselben nicht gerade unkünstlerisch, zweck- gefährdeud und verwerflich siud, zurückzugehen. Auch läßt sich — das erwies die Erfurter Lutherspieldarstelluug klar genug — eine rein symbolische Vor¬ führung nicht durchsetzen. Das Bürgerspiel des sechzehnten Jahrhunderts hat sicher mit viel geringern äußern Hilfsmitteln gewirtschaftet, aber die Berufs¬ schauspieler der gleichen Zeit, die „englischen Komödianten," werden eben auch keinen größern besessen haben. Bei diesem neuesten Spiel ist in Kostümen, kleinen Requisiten aller Art schon viel zu viel von dem modernen Ausstattnugsrealismus Gebrauch gemacht, um das plötzliche Innehalten an einem bestimmten Punkte nicht wie einen unbehaglichen Ruck und einen innern Widerspruch dazu zu empfinden. Die Szene, in der Luther die Verbrennung der Bannbulle beschließt und bespricht, ist viel zu bewegt, um nicht das Verlangen nach dem wirklichen Vorgang der Handlung zu wecken. Die Andeutung des Wormser Reichstages

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/484>, abgerufen am 24.07.2024.