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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Acimpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen.

mit Wahrer Andacht den Sinn erklärt hat, und welchen Sinn? Hat denn die
ganze Idee vom Neide der Götter für uns noch einen Sinn?

Der Neuhumanismus hat unleugbar große Verdienste gehabt. Schon daß
er das Hauptgewicht auf die griechische Literatur legte, nicht auf die römische,
und den Inhalt der Meisterwerke zu erschließen suchte, nicht an der Form kleben
blieb, ist ein Verdienst. Freilich hätte nach Vossens Vorgang ungleich mehr
Fleiß ans gute Übersetzungen verwandt werden können, ja der Wert der Über¬
setzungen für den Schulunterricht ist über dem handwerksmäßigen Betriebe der
Grammatik fast ganz übersehen worden. Auch darin besteht sein Verdienst, daß
er die Grenzen der sogenannten höhern Bildung erweiterte, indem er dem lite¬
rarisch geschulten Teile des Vürgcrstandcs Eingang in den geweihten Bezirk
erwarb. Ein großer Vorwurf aber ist den eigentlichen Stockphilologcn und
Gräkvmanen nicht zu ersparen, ein Vorwurf, welcher in der Regel die Zeloten
der fremden Kultur trifft, der einer Unduldsamkeit, die an Dünkel grenzt. Wo
das Latein und Griechisch aufhört, hört für sie die höhere Bildung auf. Einen
andern Bildungsweg giebt es nach ihrer Ansicht nicht. Jeder naturwüchsige,
durchaus nationale Mensch gehört zur Plebs. Die Altmeister der neuhuma-
uistischen Richtung waren in dieser Beziehung geradezu abscheulich. Man höre
nur Wilhelm von Humboldt: "In jeder Katastrophe des Lebens, ja im Mo¬
mente des Todes würden einige Verse des Homer, und wenn sie aus dem
Schiffskatalogus wären, (!) mir mehr das Gefühl des Überschwankens in die
Gottheit geben als irgend etwas andres von einem andern Volke." Oder
Hölderlin, wie er ini Hhperivu die Deutschen schildert: "Barbaren von Alters
her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer ge¬
worden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum
Glücke der heiligen Grazien."*)

Ihr anmaßenden Narren! Wodurch war denn die deutsche Nation so arm,
so geistig elend, so mchtsvermogend und roh geworden? Doch wohl nur
dadurch, daß sie immer und immer wieder in fremde Kulturen hincingequetscht
worden war. Daß wir noch Deutsche sind, ist das Verdienst der Kaufleute,
Handwerker und Bauern, nicht das der durch fremde Sprachen gebildeten mit
und ohne Adelstitel. Wäre es nach deren Neigung und Studium gegangen,
so hätte die deutsche Nation es nicht vermocht, ihre Eigentümlichkeiten zu be¬
wahren, sie wäre romanisirt oder französirt worden. Die untern Volksschichten
hüteten das Nationale in Sprache und Sitte, aber eben darum schritt die
Kultur so langsam vorwärts. Wäre es der deutschen Nation vergönnt gewesen,
mehr aus sich selbst herauszuwachsen, hätten sich die fremden Kulturen nicht
wie ein Alp auf sie gelegt, der gute Hölderlin würde nicht so bitter zu klagen
gehabt haben.



*) F- Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichtes, S. 522.
Der Acimpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen.

mit Wahrer Andacht den Sinn erklärt hat, und welchen Sinn? Hat denn die
ganze Idee vom Neide der Götter für uns noch einen Sinn?

Der Neuhumanismus hat unleugbar große Verdienste gehabt. Schon daß
er das Hauptgewicht auf die griechische Literatur legte, nicht auf die römische,
und den Inhalt der Meisterwerke zu erschließen suchte, nicht an der Form kleben
blieb, ist ein Verdienst. Freilich hätte nach Vossens Vorgang ungleich mehr
Fleiß ans gute Übersetzungen verwandt werden können, ja der Wert der Über¬
setzungen für den Schulunterricht ist über dem handwerksmäßigen Betriebe der
Grammatik fast ganz übersehen worden. Auch darin besteht sein Verdienst, daß
er die Grenzen der sogenannten höhern Bildung erweiterte, indem er dem lite¬
rarisch geschulten Teile des Vürgcrstandcs Eingang in den geweihten Bezirk
erwarb. Ein großer Vorwurf aber ist den eigentlichen Stockphilologcn und
Gräkvmanen nicht zu ersparen, ein Vorwurf, welcher in der Regel die Zeloten
der fremden Kultur trifft, der einer Unduldsamkeit, die an Dünkel grenzt. Wo
das Latein und Griechisch aufhört, hört für sie die höhere Bildung auf. Einen
andern Bildungsweg giebt es nach ihrer Ansicht nicht. Jeder naturwüchsige,
durchaus nationale Mensch gehört zur Plebs. Die Altmeister der neuhuma-
uistischen Richtung waren in dieser Beziehung geradezu abscheulich. Man höre
nur Wilhelm von Humboldt: „In jeder Katastrophe des Lebens, ja im Mo¬
mente des Todes würden einige Verse des Homer, und wenn sie aus dem
Schiffskatalogus wären, (!) mir mehr das Gefühl des Überschwankens in die
Gottheit geben als irgend etwas andres von einem andern Volke." Oder
Hölderlin, wie er ini Hhperivu die Deutschen schildert: „Barbaren von Alters
her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer ge¬
worden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum
Glücke der heiligen Grazien."*)

Ihr anmaßenden Narren! Wodurch war denn die deutsche Nation so arm,
so geistig elend, so mchtsvermogend und roh geworden? Doch wohl nur
dadurch, daß sie immer und immer wieder in fremde Kulturen hincingequetscht
worden war. Daß wir noch Deutsche sind, ist das Verdienst der Kaufleute,
Handwerker und Bauern, nicht das der durch fremde Sprachen gebildeten mit
und ohne Adelstitel. Wäre es nach deren Neigung und Studium gegangen,
so hätte die deutsche Nation es nicht vermocht, ihre Eigentümlichkeiten zu be¬
wahren, sie wäre romanisirt oder französirt worden. Die untern Volksschichten
hüteten das Nationale in Sprache und Sitte, aber eben darum schritt die
Kultur so langsam vorwärts. Wäre es der deutschen Nation vergönnt gewesen,
mehr aus sich selbst herauszuwachsen, hätten sich die fremden Kulturen nicht
wie ein Alp auf sie gelegt, der gute Hölderlin würde nicht so bitter zu klagen
gehabt haben.



*) F- Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichtes, S. 522.
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[0470] Der Acimpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen. mit Wahrer Andacht den Sinn erklärt hat, und welchen Sinn? Hat denn die ganze Idee vom Neide der Götter für uns noch einen Sinn? Der Neuhumanismus hat unleugbar große Verdienste gehabt. Schon daß er das Hauptgewicht auf die griechische Literatur legte, nicht auf die römische, und den Inhalt der Meisterwerke zu erschließen suchte, nicht an der Form kleben blieb, ist ein Verdienst. Freilich hätte nach Vossens Vorgang ungleich mehr Fleiß ans gute Übersetzungen verwandt werden können, ja der Wert der Über¬ setzungen für den Schulunterricht ist über dem handwerksmäßigen Betriebe der Grammatik fast ganz übersehen worden. Auch darin besteht sein Verdienst, daß er die Grenzen der sogenannten höhern Bildung erweiterte, indem er dem lite¬ rarisch geschulten Teile des Vürgcrstandcs Eingang in den geweihten Bezirk erwarb. Ein großer Vorwurf aber ist den eigentlichen Stockphilologcn und Gräkvmanen nicht zu ersparen, ein Vorwurf, welcher in der Regel die Zeloten der fremden Kultur trifft, der einer Unduldsamkeit, die an Dünkel grenzt. Wo das Latein und Griechisch aufhört, hört für sie die höhere Bildung auf. Einen andern Bildungsweg giebt es nach ihrer Ansicht nicht. Jeder naturwüchsige, durchaus nationale Mensch gehört zur Plebs. Die Altmeister der neuhuma- uistischen Richtung waren in dieser Beziehung geradezu abscheulich. Man höre nur Wilhelm von Humboldt: „In jeder Katastrophe des Lebens, ja im Mo¬ mente des Todes würden einige Verse des Homer, und wenn sie aus dem Schiffskatalogus wären, (!) mir mehr das Gefühl des Überschwankens in die Gottheit geben als irgend etwas andres von einem andern Volke." Oder Hölderlin, wie er ini Hhperivu die Deutschen schildert: „Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer ge¬ worden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glücke der heiligen Grazien."*) Ihr anmaßenden Narren! Wodurch war denn die deutsche Nation so arm, so geistig elend, so mchtsvermogend und roh geworden? Doch wohl nur dadurch, daß sie immer und immer wieder in fremde Kulturen hincingequetscht worden war. Daß wir noch Deutsche sind, ist das Verdienst der Kaufleute, Handwerker und Bauern, nicht das der durch fremde Sprachen gebildeten mit und ohne Adelstitel. Wäre es nach deren Neigung und Studium gegangen, so hätte die deutsche Nation es nicht vermocht, ihre Eigentümlichkeiten zu be¬ wahren, sie wäre romanisirt oder französirt worden. Die untern Volksschichten hüteten das Nationale in Sprache und Sitte, aber eben darum schritt die Kultur so langsam vorwärts. Wäre es der deutschen Nation vergönnt gewesen, mehr aus sich selbst herauszuwachsen, hätten sich die fremden Kulturen nicht wie ein Alp auf sie gelegt, der gute Hölderlin würde nicht so bitter zu klagen gehabt haben. *) F- Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichtes, S. 522.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/470>, abgerufen am 25.07.2024.