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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Abbe Lamennais"
Arthur Aleinschmidt. von

eine Provinz Frankreichs trägt einen so romantischen Charakter
wie die Bretagne; wo wäre die Anhänglichkeit an das Hergebrachte,
die Vorliebe zu den alten dunkeln Sagen und Liedern wirksamer?
Es ist das Land feuriger Einbildungskraft, leidenschaftlicher
Stimmung, düsterer Bigotterie; hier stritten die Chouans für den
Enkel des heiligen Ludwig, hier stand die Wiege von Bertrand Duguesclin,
Chateaubriand und Lamennais.

Am 19. Juni 1782 zu Saint-Malo als Sohn eines mit dem Zusätze
Lamennais geadelten Nhcders Robert geboren, widersetzte sich Hugues Felicite
Robert de Lamennais des Vaters Wunsch, einst seine Geschäfte fortzuführen; von
Jugend auf bekundete er den Starrkopf eines echten Bretonen, große Leiden¬
schaftlichkeit und Schwärmerei, seine Schwester fand an ihm etwas so Eigentüm¬
liches, daß sie sagte: "Er wird ein Dämon oder ein Engel werden." Die
Revolution vernichtete das Vermögen der Familie, und er wuchs im Hasse
gegen die Jakobiner wie in der Verehrung des geächteten Kultus auf. Bei
einem ziemlich tollen Oheim erzogen, der ein Gelehrter und Geguer aller
Philosophie war, las er dessen ganze Bibliothek durch, raffte allerhand Kenntnisse
ohne Methode und Tiefe zusammen, arbeitete Tag und Nacht, obwohl er
lebenslang kränkelte, begeisterte sich für den Evangelisten des Tages, Rousseau,
und nahm eine so ungläubige Richtung, daß seine Kommunion wiederholt ver¬
schoben wurde. In engerm Verkehr mit den Toten als mit den Lebendigen,
litt er an verzehrender Melancholie. Er floh trotz seiner Jugend die Welt,
vergrub sich wie ein Anachoret in die Einsamkeit, betrachtete die Menschheit voll
unklaren Mißtrauens und war doch von ebenso ungeklärter Zärtlichkeit für sie
erfüllt; er mied die Brüder und liebte sie. Im Landhause von La Chorale
bei Dirnen, nahe der ewig ergreifenden Gewalt des Meeres, studirte er mit
Heißbegier Latein, Griechisch, Hebräisch, moderne Sprachen, die Kirchenväter und
die Kontroversschriftsteller, alles als Autodidakt, alles ohne theologische Vor¬
bildung. Religiöse Zweifel zerrissen das junge Gemüt, und erst mit zweiund¬
zwanzig Jahren entschloß er sich zur Kommunion; dann aber widmete er sich,
so viel neue Bedenken auch in ihm aufstiegen, voll Feuer der Theologie und
nahm 1811 die Tonsur; er trat in das von feinem Bruder gegründete kleine
Seminar der Vaterstadt, an dem er in Mathematik unterrichtete, entschloß sich
aber erst 1816, die Priesterweihe in Reimes zu nehmen und ließ sich schon 1819


Abbe Lamennais»
Arthur Aleinschmidt. von

eine Provinz Frankreichs trägt einen so romantischen Charakter
wie die Bretagne; wo wäre die Anhänglichkeit an das Hergebrachte,
die Vorliebe zu den alten dunkeln Sagen und Liedern wirksamer?
Es ist das Land feuriger Einbildungskraft, leidenschaftlicher
Stimmung, düsterer Bigotterie; hier stritten die Chouans für den
Enkel des heiligen Ludwig, hier stand die Wiege von Bertrand Duguesclin,
Chateaubriand und Lamennais.

Am 19. Juni 1782 zu Saint-Malo als Sohn eines mit dem Zusätze
Lamennais geadelten Nhcders Robert geboren, widersetzte sich Hugues Felicite
Robert de Lamennais des Vaters Wunsch, einst seine Geschäfte fortzuführen; von
Jugend auf bekundete er den Starrkopf eines echten Bretonen, große Leiden¬
schaftlichkeit und Schwärmerei, seine Schwester fand an ihm etwas so Eigentüm¬
liches, daß sie sagte: „Er wird ein Dämon oder ein Engel werden." Die
Revolution vernichtete das Vermögen der Familie, und er wuchs im Hasse
gegen die Jakobiner wie in der Verehrung des geächteten Kultus auf. Bei
einem ziemlich tollen Oheim erzogen, der ein Gelehrter und Geguer aller
Philosophie war, las er dessen ganze Bibliothek durch, raffte allerhand Kenntnisse
ohne Methode und Tiefe zusammen, arbeitete Tag und Nacht, obwohl er
lebenslang kränkelte, begeisterte sich für den Evangelisten des Tages, Rousseau,
und nahm eine so ungläubige Richtung, daß seine Kommunion wiederholt ver¬
schoben wurde. In engerm Verkehr mit den Toten als mit den Lebendigen,
litt er an verzehrender Melancholie. Er floh trotz seiner Jugend die Welt,
vergrub sich wie ein Anachoret in die Einsamkeit, betrachtete die Menschheit voll
unklaren Mißtrauens und war doch von ebenso ungeklärter Zärtlichkeit für sie
erfüllt; er mied die Brüder und liebte sie. Im Landhause von La Chorale
bei Dirnen, nahe der ewig ergreifenden Gewalt des Meeres, studirte er mit
Heißbegier Latein, Griechisch, Hebräisch, moderne Sprachen, die Kirchenväter und
die Kontroversschriftsteller, alles als Autodidakt, alles ohne theologische Vor¬
bildung. Religiöse Zweifel zerrissen das junge Gemüt, und erst mit zweiund¬
zwanzig Jahren entschloß er sich zur Kommunion; dann aber widmete er sich,
so viel neue Bedenken auch in ihm aufstiegen, voll Feuer der Theologie und
nahm 1811 die Tonsur; er trat in das von feinem Bruder gegründete kleine
Seminar der Vaterstadt, an dem er in Mathematik unterrichtete, entschloß sich
aber erst 1816, die Priesterweihe in Reimes zu nehmen und ließ sich schon 1819


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[0311] Abbe Lamennais» Arthur Aleinschmidt. von eine Provinz Frankreichs trägt einen so romantischen Charakter wie die Bretagne; wo wäre die Anhänglichkeit an das Hergebrachte, die Vorliebe zu den alten dunkeln Sagen und Liedern wirksamer? Es ist das Land feuriger Einbildungskraft, leidenschaftlicher Stimmung, düsterer Bigotterie; hier stritten die Chouans für den Enkel des heiligen Ludwig, hier stand die Wiege von Bertrand Duguesclin, Chateaubriand und Lamennais. Am 19. Juni 1782 zu Saint-Malo als Sohn eines mit dem Zusätze Lamennais geadelten Nhcders Robert geboren, widersetzte sich Hugues Felicite Robert de Lamennais des Vaters Wunsch, einst seine Geschäfte fortzuführen; von Jugend auf bekundete er den Starrkopf eines echten Bretonen, große Leiden¬ schaftlichkeit und Schwärmerei, seine Schwester fand an ihm etwas so Eigentüm¬ liches, daß sie sagte: „Er wird ein Dämon oder ein Engel werden." Die Revolution vernichtete das Vermögen der Familie, und er wuchs im Hasse gegen die Jakobiner wie in der Verehrung des geächteten Kultus auf. Bei einem ziemlich tollen Oheim erzogen, der ein Gelehrter und Geguer aller Philosophie war, las er dessen ganze Bibliothek durch, raffte allerhand Kenntnisse ohne Methode und Tiefe zusammen, arbeitete Tag und Nacht, obwohl er lebenslang kränkelte, begeisterte sich für den Evangelisten des Tages, Rousseau, und nahm eine so ungläubige Richtung, daß seine Kommunion wiederholt ver¬ schoben wurde. In engerm Verkehr mit den Toten als mit den Lebendigen, litt er an verzehrender Melancholie. Er floh trotz seiner Jugend die Welt, vergrub sich wie ein Anachoret in die Einsamkeit, betrachtete die Menschheit voll unklaren Mißtrauens und war doch von ebenso ungeklärter Zärtlichkeit für sie erfüllt; er mied die Brüder und liebte sie. Im Landhause von La Chorale bei Dirnen, nahe der ewig ergreifenden Gewalt des Meeres, studirte er mit Heißbegier Latein, Griechisch, Hebräisch, moderne Sprachen, die Kirchenväter und die Kontroversschriftsteller, alles als Autodidakt, alles ohne theologische Vor¬ bildung. Religiöse Zweifel zerrissen das junge Gemüt, und erst mit zweiund¬ zwanzig Jahren entschloß er sich zur Kommunion; dann aber widmete er sich, so viel neue Bedenken auch in ihm aufstiegen, voll Feuer der Theologie und nahm 1811 die Tonsur; er trat in das von feinem Bruder gegründete kleine Seminar der Vaterstadt, an dem er in Mathematik unterrichtete, entschloß sich aber erst 1816, die Priesterweihe in Reimes zu nehmen und ließ sich schon 1819

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/311>, abgerufen am 24.07.2024.