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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

sie forderten, was für Argumente sie anwendeten, wie sie sich zu den einzelnen
Tagesfragen stellten -- das alles war von einer wahrhaft chinesischen Gleich¬
mäßigkeit. Denk ist ein Ende gemacht. Der Strom eigner Gedankengänge kann
und wird wieder in den einzelnen Köpfen finden, und nur bei wenigen wird die
Parteidoktrin stark und starr genug sein, um diesem Strome zu widerstehen.
Mögen einzelne Propheten des atheistischen Sozialismus oder Kollektivismus
noch so grimmig behaupten, ihre Lehren bildeten "der Weisheit letzten Schluß" --
die menschheitliche und nationale Entwicklung wird, so Gott will, anch dieses
Hindernisses Herr werden und es, statt sich von ihm in den Abgrund schleudern
zu lassen, auflösen in eine Welt von Ahnungen und Empfindungen, aus welcher
neue Bahnen und neue Ziele dem Lichte entgegenstreben!

Und dennoch Kassandra-Rufe? und dennoch halb verzweifelte Betrachtungen
darüber, ob denn überhaupt ein ausreichender Widerstand gegen die sozialdemo-
kratische Hochflut möglich sein werde? und dennoch die Besorgnis, daß die Ge¬
müter der Menschen sich aus einmal als von sozialdemokratischen Anschauungen
erfüllt zeigen werden? Ja dennoch, denn die in den Gemütern sich vollziehende
Bewegung, auf die wir in der That unsre besten Hoffnungen setzen, ist eine
langsame, sehr möglicherweise anch zu langsame; wenn es dem Eiseshnuche des
Atheismus und Materialismus gelingt, in die Gemüter der Massen tief genug
einzudringen, so vertrocknet der Strom des Lebens in uns, der aus Unbewußtein
heraus unsre Kultur bis hierher geführt hat und allein sie weiterzuführen ver¬
mag. Und wenn es auch so weit nicht kommt, so können doch furchtbare Stürme
und Verwüstungen, es kann ein neuer dreißigjähriger Krieg über uns dahin¬
gehen, ehe es uns gelingt, der bösen Einflüsse Herr zu werden und aus dem
Innersten unsers Volksgeistes heraus die Zukunft unsers Volkes zu retten. Die
Gefahr ist sehr groß. Es ist möglich, daß die Entwicklungsfähigkeit unsers
Volkes auf Jahrhunderte hinaus gebrochen, es ist auch das möglich, daß der
Geist der Barbarei über unser ganzes Kulturleben Herr und die Menschheit
aus emporstrebenden Geschöpfen in eine vegetirende Herde verwandelt werde,
wie dies unsrer Überzeugung nach bei dem doppelten Siege des Atheismus und
der Sozialdemokratie der Fall sein würde. Darum hüte mau sich. Die leben¬
digen Kräfte unsrer Kultur, deren Pflege allein uns zu retten vermag, sind:
Religion, soziale Monarchie und nationaler Staat. Wer helfen will, der
helfe hier. Wer aber unsern Staat, unser Volk und unsre ganze Kultur den
Mächten der Zerstörung ausliefern oder doch denselben gegenüber thunlichst
schwachen will, der fahre nur auf dem Wege fort, den die Mehrheit des deutschet,
Reichstages zur Zeit wandelt!




In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

sie forderten, was für Argumente sie anwendeten, wie sie sich zu den einzelnen
Tagesfragen stellten — das alles war von einer wahrhaft chinesischen Gleich¬
mäßigkeit. Denk ist ein Ende gemacht. Der Strom eigner Gedankengänge kann
und wird wieder in den einzelnen Köpfen finden, und nur bei wenigen wird die
Parteidoktrin stark und starr genug sein, um diesem Strome zu widerstehen.
Mögen einzelne Propheten des atheistischen Sozialismus oder Kollektivismus
noch so grimmig behaupten, ihre Lehren bildeten „der Weisheit letzten Schluß" —
die menschheitliche und nationale Entwicklung wird, so Gott will, anch dieses
Hindernisses Herr werden und es, statt sich von ihm in den Abgrund schleudern
zu lassen, auflösen in eine Welt von Ahnungen und Empfindungen, aus welcher
neue Bahnen und neue Ziele dem Lichte entgegenstreben!

Und dennoch Kassandra-Rufe? und dennoch halb verzweifelte Betrachtungen
darüber, ob denn überhaupt ein ausreichender Widerstand gegen die sozialdemo-
kratische Hochflut möglich sein werde? und dennoch die Besorgnis, daß die Ge¬
müter der Menschen sich aus einmal als von sozialdemokratischen Anschauungen
erfüllt zeigen werden? Ja dennoch, denn die in den Gemütern sich vollziehende
Bewegung, auf die wir in der That unsre besten Hoffnungen setzen, ist eine
langsame, sehr möglicherweise anch zu langsame; wenn es dem Eiseshnuche des
Atheismus und Materialismus gelingt, in die Gemüter der Massen tief genug
einzudringen, so vertrocknet der Strom des Lebens in uns, der aus Unbewußtein
heraus unsre Kultur bis hierher geführt hat und allein sie weiterzuführen ver¬
mag. Und wenn es auch so weit nicht kommt, so können doch furchtbare Stürme
und Verwüstungen, es kann ein neuer dreißigjähriger Krieg über uns dahin¬
gehen, ehe es uns gelingt, der bösen Einflüsse Herr zu werden und aus dem
Innersten unsers Volksgeistes heraus die Zukunft unsers Volkes zu retten. Die
Gefahr ist sehr groß. Es ist möglich, daß die Entwicklungsfähigkeit unsers
Volkes auf Jahrhunderte hinaus gebrochen, es ist auch das möglich, daß der
Geist der Barbarei über unser ganzes Kulturleben Herr und die Menschheit
aus emporstrebenden Geschöpfen in eine vegetirende Herde verwandelt werde,
wie dies unsrer Überzeugung nach bei dem doppelten Siege des Atheismus und
der Sozialdemokratie der Fall sein würde. Darum hüte mau sich. Die leben¬
digen Kräfte unsrer Kultur, deren Pflege allein uns zu retten vermag, sind:
Religion, soziale Monarchie und nationaler Staat. Wer helfen will, der
helfe hier. Wer aber unsern Staat, unser Volk und unsre ganze Kultur den
Mächten der Zerstörung ausliefern oder doch denselben gegenüber thunlichst
schwachen will, der fahre nur auf dem Wege fort, den die Mehrheit des deutschet,
Reichstages zur Zeit wandelt!




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[0262] In elfter, vielleicht zwölfter Stunde. sie forderten, was für Argumente sie anwendeten, wie sie sich zu den einzelnen Tagesfragen stellten — das alles war von einer wahrhaft chinesischen Gleich¬ mäßigkeit. Denk ist ein Ende gemacht. Der Strom eigner Gedankengänge kann und wird wieder in den einzelnen Köpfen finden, und nur bei wenigen wird die Parteidoktrin stark und starr genug sein, um diesem Strome zu widerstehen. Mögen einzelne Propheten des atheistischen Sozialismus oder Kollektivismus noch so grimmig behaupten, ihre Lehren bildeten „der Weisheit letzten Schluß" — die menschheitliche und nationale Entwicklung wird, so Gott will, anch dieses Hindernisses Herr werden und es, statt sich von ihm in den Abgrund schleudern zu lassen, auflösen in eine Welt von Ahnungen und Empfindungen, aus welcher neue Bahnen und neue Ziele dem Lichte entgegenstreben! Und dennoch Kassandra-Rufe? und dennoch halb verzweifelte Betrachtungen darüber, ob denn überhaupt ein ausreichender Widerstand gegen die sozialdemo- kratische Hochflut möglich sein werde? und dennoch die Besorgnis, daß die Ge¬ müter der Menschen sich aus einmal als von sozialdemokratischen Anschauungen erfüllt zeigen werden? Ja dennoch, denn die in den Gemütern sich vollziehende Bewegung, auf die wir in der That unsre besten Hoffnungen setzen, ist eine langsame, sehr möglicherweise anch zu langsame; wenn es dem Eiseshnuche des Atheismus und Materialismus gelingt, in die Gemüter der Massen tief genug einzudringen, so vertrocknet der Strom des Lebens in uns, der aus Unbewußtein heraus unsre Kultur bis hierher geführt hat und allein sie weiterzuführen ver¬ mag. Und wenn es auch so weit nicht kommt, so können doch furchtbare Stürme und Verwüstungen, es kann ein neuer dreißigjähriger Krieg über uns dahin¬ gehen, ehe es uns gelingt, der bösen Einflüsse Herr zu werden und aus dem Innersten unsers Volksgeistes heraus die Zukunft unsers Volkes zu retten. Die Gefahr ist sehr groß. Es ist möglich, daß die Entwicklungsfähigkeit unsers Volkes auf Jahrhunderte hinaus gebrochen, es ist auch das möglich, daß der Geist der Barbarei über unser ganzes Kulturleben Herr und die Menschheit aus emporstrebenden Geschöpfen in eine vegetirende Herde verwandelt werde, wie dies unsrer Überzeugung nach bei dem doppelten Siege des Atheismus und der Sozialdemokratie der Fall sein würde. Darum hüte mau sich. Die leben¬ digen Kräfte unsrer Kultur, deren Pflege allein uns zu retten vermag, sind: Religion, soziale Monarchie und nationaler Staat. Wer helfen will, der helfe hier. Wer aber unsern Staat, unser Volk und unsre ganze Kultur den Mächten der Zerstörung ausliefern oder doch denselben gegenüber thunlichst schwachen will, der fahre nur auf dem Wege fort, den die Mehrheit des deutschet, Reichstages zur Zeit wandelt!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/262>, abgerufen am 25.07.2024.