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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

und muß. Je lebhafter man der Anhängerschaft die Unwiderleglichkeit der
sozialdemokratischen Lehren und die Notwendigkeit des bevorstehenden Umsturzes
gepredigt hat, desto drohender wird die Frage das Haupt erheben, warum
nicht jetzt, warum nicht in der und der Weise losgebrochen, warum nicht der
Losbruch so und so vorbereitet worden sei u, s. w., und das Kapital des Ver¬
trauens ihrer Anhängerschaften, mit dem unsre sozialdemokratischen Führer zu
arbeiten haben, ist ohnehin nur sehr schwach. Und dabei muß auch der radikalste
Sozialdemokrat, mag er vom heutigen Staate so schlecht und so gering denken
wie er immer will, sich doch -- vorausgesetzt, daß er nicht ganz urteilsunfähig
ist -- gestehen, daß der Staat seitdem nicht schwächer, sondern stärker geworden
ist, daß insbesondre gerade das ihm so widerwärtige und gefährliche Staats¬
bewußtsein gewaltige Fortschritte gemacht und in gewissem Sinne selbst unter
den Arbeitern, ja unter den eignen Parteigenossen um sich gegriffen hat. Auch
die Achtung oder wenigstens doch die Furcht vor dem Staate und seinen
Gesetzen ist durch das Sozialistengesetz und die gelegentliche energische Hand¬
habung desselben entschieden gekräftigt worden. Mau muß in der Lage gewesen
sein, die höhnische Art mit anzusehen, mit der lange Zeit in Wort und Schrift
die Staatsautvritcit besprochen und die Unfähigkeit des heutigen Staates, sich
anch nur noch ernstlich seiner Haut zu wehren, zu verstehen gegeben wurde,
um den Fortschritt zu würdigen, der immerhin auch auf diesem Gebiete nicht
zu verkennen ist. Das spöttische Lachen ist doch verstummt. Und auch in
Bezug hierauf dürfte das Wort gelten: Oäsrwt, arrr mvwkmt!

Einem vereinzelten Ausbruche aber stehen die Schwäche und der Mangel
an Schwungkraft bei der Sozialdemokratie, wie solche aus dem steten Verkünden
der bevorstehenden Revolution, ohne daß doch etwas aus der Sache geworden
ist, hervorgehen mußten, durchaus nicht im Wege. Im Gegenteil, es wird
umso wahrscheinlicher, daß die überreizten lind erbitterten Massen einmal bei
irgendeinem ihnen passend erscheinenden Anlasse losschlagen, und es ist nicht
unwahrscheinlich, daß in solchem Falle einmal, um aus der nicht mehr rück¬
gängig zu machenden Revolte den möglichst großen Nutzen zu ziehen, das Signal
zu allgemeiner Empörung gegeben werden würde. Welche Wahrscheinlichkeit ist
dafür vorhanden, daß eine solche Erhebung siegreich sein könnte? Mit den
Redensarten wie "unmöglich," wie "Treue unsrer Truppen" u. s. w. bleibe man
uns vom Halse; alles ist möglich, auch der Abfall großer Truppenteile zum
"Volke." Selbst an einer halbwegs befriedigenden militärischen Leitung braucht
es nicht zu fehlen; wie 1848 und 1849 preußische Offiziere zur Fahne der
Revolution übergingen, wie wir eben jetzt einen Major sehen, der in die
Reihen der Deutschfreisinnigen eingetreten ist, so ist es auch nicht ausgeschlossen,
daß die Sozialdemokratie in der Lage wäre, über eine hinlängliche Anzahl von
Offiziere" zu verfügen. Dennoch glauben wir allerdings, daß anf eine von
dieser Seite ausgeführte Revolution sehr schnell, und zwar noch ehe sie zur


In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

und muß. Je lebhafter man der Anhängerschaft die Unwiderleglichkeit der
sozialdemokratischen Lehren und die Notwendigkeit des bevorstehenden Umsturzes
gepredigt hat, desto drohender wird die Frage das Haupt erheben, warum
nicht jetzt, warum nicht in der und der Weise losgebrochen, warum nicht der
Losbruch so und so vorbereitet worden sei u, s. w., und das Kapital des Ver¬
trauens ihrer Anhängerschaften, mit dem unsre sozialdemokratischen Führer zu
arbeiten haben, ist ohnehin nur sehr schwach. Und dabei muß auch der radikalste
Sozialdemokrat, mag er vom heutigen Staate so schlecht und so gering denken
wie er immer will, sich doch — vorausgesetzt, daß er nicht ganz urteilsunfähig
ist — gestehen, daß der Staat seitdem nicht schwächer, sondern stärker geworden
ist, daß insbesondre gerade das ihm so widerwärtige und gefährliche Staats¬
bewußtsein gewaltige Fortschritte gemacht und in gewissem Sinne selbst unter
den Arbeitern, ja unter den eignen Parteigenossen um sich gegriffen hat. Auch
die Achtung oder wenigstens doch die Furcht vor dem Staate und seinen
Gesetzen ist durch das Sozialistengesetz und die gelegentliche energische Hand¬
habung desselben entschieden gekräftigt worden. Mau muß in der Lage gewesen
sein, die höhnische Art mit anzusehen, mit der lange Zeit in Wort und Schrift
die Staatsautvritcit besprochen und die Unfähigkeit des heutigen Staates, sich
anch nur noch ernstlich seiner Haut zu wehren, zu verstehen gegeben wurde,
um den Fortschritt zu würdigen, der immerhin auch auf diesem Gebiete nicht
zu verkennen ist. Das spöttische Lachen ist doch verstummt. Und auch in
Bezug hierauf dürfte das Wort gelten: Oäsrwt, arrr mvwkmt!

Einem vereinzelten Ausbruche aber stehen die Schwäche und der Mangel
an Schwungkraft bei der Sozialdemokratie, wie solche aus dem steten Verkünden
der bevorstehenden Revolution, ohne daß doch etwas aus der Sache geworden
ist, hervorgehen mußten, durchaus nicht im Wege. Im Gegenteil, es wird
umso wahrscheinlicher, daß die überreizten lind erbitterten Massen einmal bei
irgendeinem ihnen passend erscheinenden Anlasse losschlagen, und es ist nicht
unwahrscheinlich, daß in solchem Falle einmal, um aus der nicht mehr rück¬
gängig zu machenden Revolte den möglichst großen Nutzen zu ziehen, das Signal
zu allgemeiner Empörung gegeben werden würde. Welche Wahrscheinlichkeit ist
dafür vorhanden, daß eine solche Erhebung siegreich sein könnte? Mit den
Redensarten wie „unmöglich," wie „Treue unsrer Truppen" u. s. w. bleibe man
uns vom Halse; alles ist möglich, auch der Abfall großer Truppenteile zum
„Volke." Selbst an einer halbwegs befriedigenden militärischen Leitung braucht
es nicht zu fehlen; wie 1848 und 1849 preußische Offiziere zur Fahne der
Revolution übergingen, wie wir eben jetzt einen Major sehen, der in die
Reihen der Deutschfreisinnigen eingetreten ist, so ist es auch nicht ausgeschlossen,
daß die Sozialdemokratie in der Lage wäre, über eine hinlängliche Anzahl von
Offiziere» zu verfügen. Dennoch glauben wir allerdings, daß anf eine von
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[0259] In elfter, vielleicht zwölfter Stunde. und muß. Je lebhafter man der Anhängerschaft die Unwiderleglichkeit der sozialdemokratischen Lehren und die Notwendigkeit des bevorstehenden Umsturzes gepredigt hat, desto drohender wird die Frage das Haupt erheben, warum nicht jetzt, warum nicht in der und der Weise losgebrochen, warum nicht der Losbruch so und so vorbereitet worden sei u, s. w., und das Kapital des Ver¬ trauens ihrer Anhängerschaften, mit dem unsre sozialdemokratischen Führer zu arbeiten haben, ist ohnehin nur sehr schwach. Und dabei muß auch der radikalste Sozialdemokrat, mag er vom heutigen Staate so schlecht und so gering denken wie er immer will, sich doch — vorausgesetzt, daß er nicht ganz urteilsunfähig ist — gestehen, daß der Staat seitdem nicht schwächer, sondern stärker geworden ist, daß insbesondre gerade das ihm so widerwärtige und gefährliche Staats¬ bewußtsein gewaltige Fortschritte gemacht und in gewissem Sinne selbst unter den Arbeitern, ja unter den eignen Parteigenossen um sich gegriffen hat. Auch die Achtung oder wenigstens doch die Furcht vor dem Staate und seinen Gesetzen ist durch das Sozialistengesetz und die gelegentliche energische Hand¬ habung desselben entschieden gekräftigt worden. Mau muß in der Lage gewesen sein, die höhnische Art mit anzusehen, mit der lange Zeit in Wort und Schrift die Staatsautvritcit besprochen und die Unfähigkeit des heutigen Staates, sich anch nur noch ernstlich seiner Haut zu wehren, zu verstehen gegeben wurde, um den Fortschritt zu würdigen, der immerhin auch auf diesem Gebiete nicht zu verkennen ist. Das spöttische Lachen ist doch verstummt. Und auch in Bezug hierauf dürfte das Wort gelten: Oäsrwt, arrr mvwkmt! Einem vereinzelten Ausbruche aber stehen die Schwäche und der Mangel an Schwungkraft bei der Sozialdemokratie, wie solche aus dem steten Verkünden der bevorstehenden Revolution, ohne daß doch etwas aus der Sache geworden ist, hervorgehen mußten, durchaus nicht im Wege. Im Gegenteil, es wird umso wahrscheinlicher, daß die überreizten lind erbitterten Massen einmal bei irgendeinem ihnen passend erscheinenden Anlasse losschlagen, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß in solchem Falle einmal, um aus der nicht mehr rück¬ gängig zu machenden Revolte den möglichst großen Nutzen zu ziehen, das Signal zu allgemeiner Empörung gegeben werden würde. Welche Wahrscheinlichkeit ist dafür vorhanden, daß eine solche Erhebung siegreich sein könnte? Mit den Redensarten wie „unmöglich," wie „Treue unsrer Truppen" u. s. w. bleibe man uns vom Halse; alles ist möglich, auch der Abfall großer Truppenteile zum „Volke." Selbst an einer halbwegs befriedigenden militärischen Leitung braucht es nicht zu fehlen; wie 1848 und 1849 preußische Offiziere zur Fahne der Revolution übergingen, wie wir eben jetzt einen Major sehen, der in die Reihen der Deutschfreisinnigen eingetreten ist, so ist es auch nicht ausgeschlossen, daß die Sozialdemokratie in der Lage wäre, über eine hinlängliche Anzahl von Offiziere» zu verfügen. Dennoch glauben wir allerdings, daß anf eine von dieser Seite ausgeführte Revolution sehr schnell, und zwar noch ehe sie zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/259>, abgerufen am 25.07.2024.