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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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demokratcn sein sollten, es aber aus zufälligen Einflüssen der Geburt, der Er¬
ziehung, der äußern Verhältnisse oder weil diese Lehre in verständlicher, an¬
regender Form noch nicht in ihre Abgeschiedenheit gedrungen ist, nicht geworden
sind. Diese Schaar ist beängstigend groß, und es gehört zu den schlimmsten
Seiten "nsrer öffentlichen Zustände, daß sie, recht aus dem "Geiste der Zeit"
heraus, noch in beständigem Wachstume ist. Denn man wisse: wer, sei es mit
seiner eignen sozialen und wirtschaftlichen Lage oder mit derjenigen der Ge¬
samtheit, unzufrieden ist und eine Besserung für ein Gebot der Gerechtigkeit
hält, und wer sich dabei nicht durch energisches Staatsgefühl, oder durch mon¬
archische Gesinnung, oder durch die Gebote der Religion gebunden fühlt, alles,
was er erstrebt, nur innerhalb eines festbegrenztcn Rahmens zu erstreben, diel¬
mehr die Frage nach den zu schaffenden Einrichtungen und den zur Geltung zu
bringenden Grundsätzen für eine offne, von der Masse der gegenwärtigen Inter¬
essenten nach ihrem bon xlaisir und dabei mit der Wahrscheinlichkeit vollen Er¬
folges zu beantwortende hält, der ist im Herzen ein Sozialdemokrat, und es
ist reiner Zufall, wenn er außerhalb derselbe" im Banne irgendeiner andern
Partei steht. Das Wesen der Sozialdemokratie läßt sich nämlich dahin defi-
niren, daß sie keinen Anschluß an eine geschichtliche Entwicklung, keine Rücksicht
auf etwas über die bloße "Verständigkeit" hinaus in der Menschennatur lie¬
gendes, keine Fesselung der menschlichen Antriebe durch eine dem Menschen an¬
zuerziehende sittliche Kraft und Entsngungsfähigkeit, und demgemäß anch keine
Einwirkung auf das Gemüt des Menschen durch jene tausend geheimen Einflüsse,
wie sie aus festen Einrichtungen und Anschauungen her sich zu einer Schutzwehr
der Sitte gestalten, für erforderlich hält, Ist aber nicht diese Anschauung, und
zwar nicht nur unter besitzlosen und gedrückten Arbeitermassen, die herrschende,
und wird sie es nicht mit jedem Tage mehr? Hat der Individualismus, der sich
an nichts unlösbar gebunden hält, der nur sein eignes Urteil und sein eignes Inter¬
esse für absolut maßgebend ansieht, einmal das ganze ihm offenstehende Gebiet
erobert, und sind dann die Leute einmal zum Bewußtsein dessen gekommen,
worauf ihre ganze Denkweise sie hinweist, dann -- sind neun Zehntel unsers
Volkes Sozialdemokraten geworden. Auch hier nützt das Sozialistcngesetz ein
wenig, indem es diese ganze Entwicklung verlangsamt; einmal dadurch, daß es
in der energischen Geltung des Gesetzes für manche Leute doch eine Art Surrogat
dessen herstellt, was sonst durch Religion, gefestigte Sitte und staatliches Pflicht¬
bewußtsein geleistet wird, und sodann dadurch, daß die Thätigkeit der sozial-
demokratischen Agitation nun doch nicht so ausgebreitet, so gleichsam allgegen¬
wärtig sein kann, als dies zur Zeit der überall auftauchenden, allen lokalen
und provinziellen Verhältnissen sich anschmiegenden sozialdemokratischen Blätter
möglich war. Aber an der Sache selbst wird hierdurch natürlich nichts geändert!

Ja, wir sind immer noch nicht zu Ende, Es giebt noch einen Punkt, der
bei den Vertretern der Ordnung negativ wirkt und hierdurch natürlich dem


demokratcn sein sollten, es aber aus zufälligen Einflüssen der Geburt, der Er¬
ziehung, der äußern Verhältnisse oder weil diese Lehre in verständlicher, an¬
regender Form noch nicht in ihre Abgeschiedenheit gedrungen ist, nicht geworden
sind. Diese Schaar ist beängstigend groß, und es gehört zu den schlimmsten
Seiten »nsrer öffentlichen Zustände, daß sie, recht aus dem „Geiste der Zeit"
heraus, noch in beständigem Wachstume ist. Denn man wisse: wer, sei es mit
seiner eignen sozialen und wirtschaftlichen Lage oder mit derjenigen der Ge¬
samtheit, unzufrieden ist und eine Besserung für ein Gebot der Gerechtigkeit
hält, und wer sich dabei nicht durch energisches Staatsgefühl, oder durch mon¬
archische Gesinnung, oder durch die Gebote der Religion gebunden fühlt, alles,
was er erstrebt, nur innerhalb eines festbegrenztcn Rahmens zu erstreben, diel¬
mehr die Frage nach den zu schaffenden Einrichtungen und den zur Geltung zu
bringenden Grundsätzen für eine offne, von der Masse der gegenwärtigen Inter¬
essenten nach ihrem bon xlaisir und dabei mit der Wahrscheinlichkeit vollen Er¬
folges zu beantwortende hält, der ist im Herzen ein Sozialdemokrat, und es
ist reiner Zufall, wenn er außerhalb derselbe» im Banne irgendeiner andern
Partei steht. Das Wesen der Sozialdemokratie läßt sich nämlich dahin defi-
niren, daß sie keinen Anschluß an eine geschichtliche Entwicklung, keine Rücksicht
auf etwas über die bloße „Verständigkeit" hinaus in der Menschennatur lie¬
gendes, keine Fesselung der menschlichen Antriebe durch eine dem Menschen an¬
zuerziehende sittliche Kraft und Entsngungsfähigkeit, und demgemäß anch keine
Einwirkung auf das Gemüt des Menschen durch jene tausend geheimen Einflüsse,
wie sie aus festen Einrichtungen und Anschauungen her sich zu einer Schutzwehr
der Sitte gestalten, für erforderlich hält, Ist aber nicht diese Anschauung, und
zwar nicht nur unter besitzlosen und gedrückten Arbeitermassen, die herrschende,
und wird sie es nicht mit jedem Tage mehr? Hat der Individualismus, der sich
an nichts unlösbar gebunden hält, der nur sein eignes Urteil und sein eignes Inter¬
esse für absolut maßgebend ansieht, einmal das ganze ihm offenstehende Gebiet
erobert, und sind dann die Leute einmal zum Bewußtsein dessen gekommen,
worauf ihre ganze Denkweise sie hinweist, dann — sind neun Zehntel unsers
Volkes Sozialdemokraten geworden. Auch hier nützt das Sozialistcngesetz ein
wenig, indem es diese ganze Entwicklung verlangsamt; einmal dadurch, daß es
in der energischen Geltung des Gesetzes für manche Leute doch eine Art Surrogat
dessen herstellt, was sonst durch Religion, gefestigte Sitte und staatliches Pflicht¬
bewußtsein geleistet wird, und sodann dadurch, daß die Thätigkeit der sozial-
demokratischen Agitation nun doch nicht so ausgebreitet, so gleichsam allgegen¬
wärtig sein kann, als dies zur Zeit der überall auftauchenden, allen lokalen
und provinziellen Verhältnissen sich anschmiegenden sozialdemokratischen Blätter
möglich war. Aber an der Sache selbst wird hierdurch natürlich nichts geändert!

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bei den Vertretern der Ordnung negativ wirkt und hierdurch natürlich dem


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[0256] demokratcn sein sollten, es aber aus zufälligen Einflüssen der Geburt, der Er¬ ziehung, der äußern Verhältnisse oder weil diese Lehre in verständlicher, an¬ regender Form noch nicht in ihre Abgeschiedenheit gedrungen ist, nicht geworden sind. Diese Schaar ist beängstigend groß, und es gehört zu den schlimmsten Seiten »nsrer öffentlichen Zustände, daß sie, recht aus dem „Geiste der Zeit" heraus, noch in beständigem Wachstume ist. Denn man wisse: wer, sei es mit seiner eignen sozialen und wirtschaftlichen Lage oder mit derjenigen der Ge¬ samtheit, unzufrieden ist und eine Besserung für ein Gebot der Gerechtigkeit hält, und wer sich dabei nicht durch energisches Staatsgefühl, oder durch mon¬ archische Gesinnung, oder durch die Gebote der Religion gebunden fühlt, alles, was er erstrebt, nur innerhalb eines festbegrenztcn Rahmens zu erstreben, diel¬ mehr die Frage nach den zu schaffenden Einrichtungen und den zur Geltung zu bringenden Grundsätzen für eine offne, von der Masse der gegenwärtigen Inter¬ essenten nach ihrem bon xlaisir und dabei mit der Wahrscheinlichkeit vollen Er¬ folges zu beantwortende hält, der ist im Herzen ein Sozialdemokrat, und es ist reiner Zufall, wenn er außerhalb derselbe» im Banne irgendeiner andern Partei steht. Das Wesen der Sozialdemokratie läßt sich nämlich dahin defi- niren, daß sie keinen Anschluß an eine geschichtliche Entwicklung, keine Rücksicht auf etwas über die bloße „Verständigkeit" hinaus in der Menschennatur lie¬ gendes, keine Fesselung der menschlichen Antriebe durch eine dem Menschen an¬ zuerziehende sittliche Kraft und Entsngungsfähigkeit, und demgemäß anch keine Einwirkung auf das Gemüt des Menschen durch jene tausend geheimen Einflüsse, wie sie aus festen Einrichtungen und Anschauungen her sich zu einer Schutzwehr der Sitte gestalten, für erforderlich hält, Ist aber nicht diese Anschauung, und zwar nicht nur unter besitzlosen und gedrückten Arbeitermassen, die herrschende, und wird sie es nicht mit jedem Tage mehr? Hat der Individualismus, der sich an nichts unlösbar gebunden hält, der nur sein eignes Urteil und sein eignes Inter¬ esse für absolut maßgebend ansieht, einmal das ganze ihm offenstehende Gebiet erobert, und sind dann die Leute einmal zum Bewußtsein dessen gekommen, worauf ihre ganze Denkweise sie hinweist, dann — sind neun Zehntel unsers Volkes Sozialdemokraten geworden. Auch hier nützt das Sozialistcngesetz ein wenig, indem es diese ganze Entwicklung verlangsamt; einmal dadurch, daß es in der energischen Geltung des Gesetzes für manche Leute doch eine Art Surrogat dessen herstellt, was sonst durch Religion, gefestigte Sitte und staatliches Pflicht¬ bewußtsein geleistet wird, und sodann dadurch, daß die Thätigkeit der sozial- demokratischen Agitation nun doch nicht so ausgebreitet, so gleichsam allgegen¬ wärtig sein kann, als dies zur Zeit der überall auftauchenden, allen lokalen und provinziellen Verhältnissen sich anschmiegenden sozialdemokratischen Blätter möglich war. Aber an der Sache selbst wird hierdurch natürlich nichts geändert! Ja, wir sind immer noch nicht zu Ende, Es giebt noch einen Punkt, der bei den Vertretern der Ordnung negativ wirkt und hierdurch natürlich dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/256>, abgerufen am 26.07.2024.