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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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steigerten Kampfe ums Dasei" mancher unterliegt und vielleicht elend zu Grunde
geht. Unser Briefschreiber giebt eine traurige Schilderung davon, wie so manches
Leben ans Mangel an kräftiger Nahrung, wegen schlechter ärztlicher oder häus¬
licher Pflege ?e. frühzeitig ende. Das ist gewiß vom Standpunkt der betroffenen
Individuen recht traurig. Aber kann man auch im Namen der Menschheit eine
Klage darüber erheben? Daß viele Existenzen frühzeitig wieder zu Grunde gehen,
ist ein Schicksal, das der Mensch mit allen andern Geschöpfen dieser Erde teilt.
Wenn alle Menschen, die geboren werden, das höchste Alter erreichten, so hätten
wir schon längst so viel Menschen ans der Welt, daß ihnen nichts übrig bliebe,
als sich gegenseitig aufzufressen.

Bekanntlich klagen nicht bloß die Arbeiter über ihre Not, sondern diese
Klage geht auch in die höhern Kreise hinauf. Von dem "Notstand" der Land¬
wirtschaft ist schon lange geredet worden. In neuerer Zeit klagt auch Industrie
und Handel darüber, daß das Geschüft darniederliege. Mitten in der Fülle
aller produzirten Güter -- der "Überproduktion" -- meint fast jeder, daß er
nicht mehr leben könne. Und deshalb ruft er womöglich uach Hilfe des Staates,
statt zunächst daran zu denken, sich selbst zu helfen -- durch Beschränkung
seiner Ausgaben. Ein namhafter Schriftsteller äußert sich über diesen Not¬
stand in folgender Weise: "Wenn die aus den großen Städten herüberschallenden
Klagen über die "schwere Zeit", über Not und Elend wohlberechtigt sind, so
darf man doch billig fragen: Warum haben denn alle die Warnungen vor der
Überspannung des Industrialismus und der Konkurrenz keine Beachtung ge¬
funden? Und ferner: Wie reimen sich mit jenen Klagen diese Thatsachen? Die
Bevölkerungen nehmen überall zu, alle Länder überspannen sich mit Eisen¬
bahnen, mit Telegraphen- und Telcphonnetzen, Städte und Dörfer wachsen und
verschönern sich fortwährend, die Bequemlichkeiten und Behaglichkeiten des Da¬
seins steigen zusehends, der allgemeine Wohlstand nimmt sichtbar zu, der Lebens¬
genuß vervielfältigt sich unendlich, die Künste blühen, Fest reiht sich an Fest,
der Vereinsbummcl blüht jahraus jahrein, die Bankettsäle hallen wider von
Toasten, die Theater, die Kvnzertscile, die Museen, die Schaubuden strotzen von
Besuchern, die Vcchnzüge, die Dampfschiffe, die Gasthöfe, die Weiustuben, die
Bierhallen, die Bäder, die Sommerfrische", die Ballsäle und Tanzböden sind
voll, das reist, sährt, reitet, schießt, turnt, jagt, zecht, singt, tanzt, küßt, lacht,
jubelt -- ja


Das ist die Not der schweren Zeit!
Das ist die schwere Zeit der Not! -c."

Der, welcher also schreibt, ist nicht etwa ein wenig volksfreundlicher Mann. Es
ist der Schweizer Johannes Scherr.

Wenn man ältere Leute befragt, so hört man von ihnen, daß vor fünfzig
und sechzig Jahren im Vergleich mit jetzt alles weit ärmlicher und dürftiger ge-
wesen sei und daß doch nicht eine solche Unzufriedenheit' geherrscht habe. Wie


steigerten Kampfe ums Dasei» mancher unterliegt und vielleicht elend zu Grunde
geht. Unser Briefschreiber giebt eine traurige Schilderung davon, wie so manches
Leben ans Mangel an kräftiger Nahrung, wegen schlechter ärztlicher oder häus¬
licher Pflege ?e. frühzeitig ende. Das ist gewiß vom Standpunkt der betroffenen
Individuen recht traurig. Aber kann man auch im Namen der Menschheit eine
Klage darüber erheben? Daß viele Existenzen frühzeitig wieder zu Grunde gehen,
ist ein Schicksal, das der Mensch mit allen andern Geschöpfen dieser Erde teilt.
Wenn alle Menschen, die geboren werden, das höchste Alter erreichten, so hätten
wir schon längst so viel Menschen ans der Welt, daß ihnen nichts übrig bliebe,
als sich gegenseitig aufzufressen.

Bekanntlich klagen nicht bloß die Arbeiter über ihre Not, sondern diese
Klage geht auch in die höhern Kreise hinauf. Von dem „Notstand" der Land¬
wirtschaft ist schon lange geredet worden. In neuerer Zeit klagt auch Industrie
und Handel darüber, daß das Geschüft darniederliege. Mitten in der Fülle
aller produzirten Güter — der „Überproduktion" — meint fast jeder, daß er
nicht mehr leben könne. Und deshalb ruft er womöglich uach Hilfe des Staates,
statt zunächst daran zu denken, sich selbst zu helfen — durch Beschränkung
seiner Ausgaben. Ein namhafter Schriftsteller äußert sich über diesen Not¬
stand in folgender Weise: „Wenn die aus den großen Städten herüberschallenden
Klagen über die »schwere Zeit«, über Not und Elend wohlberechtigt sind, so
darf man doch billig fragen: Warum haben denn alle die Warnungen vor der
Überspannung des Industrialismus und der Konkurrenz keine Beachtung ge¬
funden? Und ferner: Wie reimen sich mit jenen Klagen diese Thatsachen? Die
Bevölkerungen nehmen überall zu, alle Länder überspannen sich mit Eisen¬
bahnen, mit Telegraphen- und Telcphonnetzen, Städte und Dörfer wachsen und
verschönern sich fortwährend, die Bequemlichkeiten und Behaglichkeiten des Da¬
seins steigen zusehends, der allgemeine Wohlstand nimmt sichtbar zu, der Lebens¬
genuß vervielfältigt sich unendlich, die Künste blühen, Fest reiht sich an Fest,
der Vereinsbummcl blüht jahraus jahrein, die Bankettsäle hallen wider von
Toasten, die Theater, die Kvnzertscile, die Museen, die Schaubuden strotzen von
Besuchern, die Vcchnzüge, die Dampfschiffe, die Gasthöfe, die Weiustuben, die
Bierhallen, die Bäder, die Sommerfrische», die Ballsäle und Tanzböden sind
voll, das reist, sährt, reitet, schießt, turnt, jagt, zecht, singt, tanzt, küßt, lacht,
jubelt — ja


Das ist die Not der schweren Zeit!
Das ist die schwere Zeit der Not! -c."

Der, welcher also schreibt, ist nicht etwa ein wenig volksfreundlicher Mann. Es
ist der Schweizer Johannes Scherr.

Wenn man ältere Leute befragt, so hört man von ihnen, daß vor fünfzig
und sechzig Jahren im Vergleich mit jetzt alles weit ärmlicher und dürftiger ge-
wesen sei und daß doch nicht eine solche Unzufriedenheit' geherrscht habe. Wie


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[0243] steigerten Kampfe ums Dasei» mancher unterliegt und vielleicht elend zu Grunde geht. Unser Briefschreiber giebt eine traurige Schilderung davon, wie so manches Leben ans Mangel an kräftiger Nahrung, wegen schlechter ärztlicher oder häus¬ licher Pflege ?e. frühzeitig ende. Das ist gewiß vom Standpunkt der betroffenen Individuen recht traurig. Aber kann man auch im Namen der Menschheit eine Klage darüber erheben? Daß viele Existenzen frühzeitig wieder zu Grunde gehen, ist ein Schicksal, das der Mensch mit allen andern Geschöpfen dieser Erde teilt. Wenn alle Menschen, die geboren werden, das höchste Alter erreichten, so hätten wir schon längst so viel Menschen ans der Welt, daß ihnen nichts übrig bliebe, als sich gegenseitig aufzufressen. Bekanntlich klagen nicht bloß die Arbeiter über ihre Not, sondern diese Klage geht auch in die höhern Kreise hinauf. Von dem „Notstand" der Land¬ wirtschaft ist schon lange geredet worden. In neuerer Zeit klagt auch Industrie und Handel darüber, daß das Geschüft darniederliege. Mitten in der Fülle aller produzirten Güter — der „Überproduktion" — meint fast jeder, daß er nicht mehr leben könne. Und deshalb ruft er womöglich uach Hilfe des Staates, statt zunächst daran zu denken, sich selbst zu helfen — durch Beschränkung seiner Ausgaben. Ein namhafter Schriftsteller äußert sich über diesen Not¬ stand in folgender Weise: „Wenn die aus den großen Städten herüberschallenden Klagen über die »schwere Zeit«, über Not und Elend wohlberechtigt sind, so darf man doch billig fragen: Warum haben denn alle die Warnungen vor der Überspannung des Industrialismus und der Konkurrenz keine Beachtung ge¬ funden? Und ferner: Wie reimen sich mit jenen Klagen diese Thatsachen? Die Bevölkerungen nehmen überall zu, alle Länder überspannen sich mit Eisen¬ bahnen, mit Telegraphen- und Telcphonnetzen, Städte und Dörfer wachsen und verschönern sich fortwährend, die Bequemlichkeiten und Behaglichkeiten des Da¬ seins steigen zusehends, der allgemeine Wohlstand nimmt sichtbar zu, der Lebens¬ genuß vervielfältigt sich unendlich, die Künste blühen, Fest reiht sich an Fest, der Vereinsbummcl blüht jahraus jahrein, die Bankettsäle hallen wider von Toasten, die Theater, die Kvnzertscile, die Museen, die Schaubuden strotzen von Besuchern, die Vcchnzüge, die Dampfschiffe, die Gasthöfe, die Weiustuben, die Bierhallen, die Bäder, die Sommerfrische», die Ballsäle und Tanzböden sind voll, das reist, sährt, reitet, schießt, turnt, jagt, zecht, singt, tanzt, küßt, lacht, jubelt — ja Das ist die Not der schweren Zeit! Das ist die schwere Zeit der Not! -c." Der, welcher also schreibt, ist nicht etwa ein wenig volksfreundlicher Mann. Es ist der Schweizer Johannes Scherr. Wenn man ältere Leute befragt, so hört man von ihnen, daß vor fünfzig und sechzig Jahren im Vergleich mit jetzt alles weit ärmlicher und dürftiger ge- wesen sei und daß doch nicht eine solche Unzufriedenheit' geherrscht habe. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/243>, abgerufen am 28.09.2024.