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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Nochmals zur sozialen Frage.

Daß auch heute noch bei uns viel Elend besteht, daß dasselbe namentlich
in den großen Städten sich zusammendrängt, kann niemand bestreiten. Ebenso
erkennen wir durchaus an, daß es Pflicht der bessergestellten Klassen ist, dieses
Elend nach Kräften zu mildern. Es mag sein, daß manche sich dieser Pflicht
nicht genügend bewußt sind oder sich hoffärtig darüber hinwegsetzen. Im all¬
gemeinen aber müssen wir doch behaupten, daß der Sinn dafür, den Armen
und Elenden zu helfen, in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sehr lebendig
ist. Was geschieht nicht alles heute für diesen Zweck! Staat, Gemeinden und
Private wetteifern, für ihn zu arbeiten. Die Städte suchen eine Ehre darin,
gemeinnützige Anstalten zu schaffen und ihrer Armenverwaltung die möglichst
beste Einrichtung zu geben. Auf dem Wege freiwilliger gemeinnütziger Thätigkeit
erstehen überall Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat, Svmmerpflegen für
Kinder, Knabcnhorte, Asyle für Obdachlose, Krankenhäuser, Schulen aller Art
von den Kleinkinderbewahranstalten bis zu den Schulen für Handfertigkeits¬
unterricht, Volksküchen, Vvlkskaffeehäuser, Volksbibliotheken und wie sie alle
heißen, die Anstalten, die man zum Besten der geringern Klassen gründet. Neben
diesen Anstalten verfolgen unzählige Vereine Zwecke der Wohlthätigkeit nach
allen Richtungen hin. Wenn anch manches, was auf diesem Gebiete geschieht,
nicht ganz frei von Ostentation sein mag, so geschieht es doch, und es kommt
den Notleidenden zu gute. Zu den: allen tritt nun noch die Thätigkeit des
Staates, welcher in großem Stile unternommen hat, für die Abhilfe der
schlimmsten Notstände, die unsre Arbeiter durch Krankheit, Unfall oder Alter
treffen, zu sorgen. Selbst für die allernnglücklichste Klasse unsrer Gesellschaft,
für die Verbrecher, wird durch die moderne Einrichtung unsrer Gefängnisse mit
einer Humanität gesorgt, die den Ernst der Strafe mitunter in Frage zu stellen
scheint.

Auf der andern Seite darf man nicht vergessen, daß es recht schwer ist,
die wirkliche Bedürftigkeit überall herauszuerkennen und dementsprechend eine
vernünftige Wohlthätigkeit zu üben. Eine verkehrt angewandte Wohlthätigkeit
wirkt nicht nützlich, sondern schädlich. Das kann man unter anderm daran er¬
kennen, daß in Städten, wo kraft alter Stiftungen oder ähnlicher Einrichtungen
mitunter eine verkehrte Wohlthätigkeit geübt wird, der Bettel in üppiger Blüte
steht. Nach dem allen glauben wir behaupten zu dürfen, daß in der heutigen
bürgerlichen Gesellschaft für die Notleidenden mehr geschieht als je zuvor.

Aber wenn anch noch weit mehr geschähe, würde doch nicht alles Elend
gehoben werden können. Gleichwohl behaupten wir, daß die Darstellung des
früher von uns besprochenen Schriftstellers, der auch jetzt unser Briefschreiber
beipflichten zu Wollen scheint, daß nämlich die große Masse unsers Volkes im
tiefsten Elend schmachte, während Einzelne in größter Üppigkeit leben, unrichtig
ist. Zunächst ist diese Darstellung darin unrichtig, daß sie das sehr bedeutende
Element der mittlern Stände ganz ignorirt, während doch gerade der Bestand


Nochmals zur sozialen Frage.

Daß auch heute noch bei uns viel Elend besteht, daß dasselbe namentlich
in den großen Städten sich zusammendrängt, kann niemand bestreiten. Ebenso
erkennen wir durchaus an, daß es Pflicht der bessergestellten Klassen ist, dieses
Elend nach Kräften zu mildern. Es mag sein, daß manche sich dieser Pflicht
nicht genügend bewußt sind oder sich hoffärtig darüber hinwegsetzen. Im all¬
gemeinen aber müssen wir doch behaupten, daß der Sinn dafür, den Armen
und Elenden zu helfen, in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sehr lebendig
ist. Was geschieht nicht alles heute für diesen Zweck! Staat, Gemeinden und
Private wetteifern, für ihn zu arbeiten. Die Städte suchen eine Ehre darin,
gemeinnützige Anstalten zu schaffen und ihrer Armenverwaltung die möglichst
beste Einrichtung zu geben. Auf dem Wege freiwilliger gemeinnütziger Thätigkeit
erstehen überall Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat, Svmmerpflegen für
Kinder, Knabcnhorte, Asyle für Obdachlose, Krankenhäuser, Schulen aller Art
von den Kleinkinderbewahranstalten bis zu den Schulen für Handfertigkeits¬
unterricht, Volksküchen, Vvlkskaffeehäuser, Volksbibliotheken und wie sie alle
heißen, die Anstalten, die man zum Besten der geringern Klassen gründet. Neben
diesen Anstalten verfolgen unzählige Vereine Zwecke der Wohlthätigkeit nach
allen Richtungen hin. Wenn anch manches, was auf diesem Gebiete geschieht,
nicht ganz frei von Ostentation sein mag, so geschieht es doch, und es kommt
den Notleidenden zu gute. Zu den: allen tritt nun noch die Thätigkeit des
Staates, welcher in großem Stile unternommen hat, für die Abhilfe der
schlimmsten Notstände, die unsre Arbeiter durch Krankheit, Unfall oder Alter
treffen, zu sorgen. Selbst für die allernnglücklichste Klasse unsrer Gesellschaft,
für die Verbrecher, wird durch die moderne Einrichtung unsrer Gefängnisse mit
einer Humanität gesorgt, die den Ernst der Strafe mitunter in Frage zu stellen
scheint.

Auf der andern Seite darf man nicht vergessen, daß es recht schwer ist,
die wirkliche Bedürftigkeit überall herauszuerkennen und dementsprechend eine
vernünftige Wohlthätigkeit zu üben. Eine verkehrt angewandte Wohlthätigkeit
wirkt nicht nützlich, sondern schädlich. Das kann man unter anderm daran er¬
kennen, daß in Städten, wo kraft alter Stiftungen oder ähnlicher Einrichtungen
mitunter eine verkehrte Wohlthätigkeit geübt wird, der Bettel in üppiger Blüte
steht. Nach dem allen glauben wir behaupten zu dürfen, daß in der heutigen
bürgerlichen Gesellschaft für die Notleidenden mehr geschieht als je zuvor.

Aber wenn anch noch weit mehr geschähe, würde doch nicht alles Elend
gehoben werden können. Gleichwohl behaupten wir, daß die Darstellung des
früher von uns besprochenen Schriftstellers, der auch jetzt unser Briefschreiber
beipflichten zu Wollen scheint, daß nämlich die große Masse unsers Volkes im
tiefsten Elend schmachte, während Einzelne in größter Üppigkeit leben, unrichtig
ist. Zunächst ist diese Darstellung darin unrichtig, daß sie das sehr bedeutende
Element der mittlern Stände ganz ignorirt, während doch gerade der Bestand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/240>, abgerufen am 01.07.2024.