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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Ramxf um die Schule in Belgien.

Interessen des Landes. Es fehlt an einer starken, mit ihren Wurzeln durch
Jahrhunderte reichenden und von den Parlamenten unabhängigen Dynastie,
welche gegen die Kammern, den Ausdruck der Augenblicksstimmung der Wähler,
die entscheidenden Lebensbedingungen des Ganzen zu betonen und, wenn nötig,
auch trotz der Paragraphen der Verfassung durchzuführen Willens und imstande
wäre. Eben deshalb ist die Geschichte des Kampfes um die Schule nur Ma¬
terial, welches anderweitig zur Lösung der Volksunterrichtsfragc zu verwenden
sein wird. Belgien wird so wenig wie Frankreich der schwierigen Aufgabe ge¬
wachsen sein. Beide scheinen die Bestimmung zu haben, zwischen der rein utili-
tarischen, die Moral nur formal fassenden religionslosen Schule lind der ver¬
alteten konfessionellen hin und her zu schwanken oder besser hin und her zu zucken.

Die gewaltsame Ausstoßung des Protestantismus, aus welchem das moderne
wirkliche Leben hervorgegangen ist, hat offenbar eine Art geistiger Lähmung
zur Folge gehabt, deren Wirkung man sich trotz aller Anstrengung nicht zu
entziehen vermag. Es gilt von den Völkern wie von den Einzelnen:


Was man von der Minute ausgeschlagen,
Giebt keine Ewigkeit zurück.

Nur die großen paritätischen Nationalstaaten scheinen geeignet, die Aufgabe
vollständig zu erfassen und gründlich in Angriff zu nehmen. Wie der Krieg
die erhabene Mission der Völkerbildung zu seiner Rechtfertigung bedarf (man
verstehe nur die Deutschland einigende und damit schaffende Kraft der he¬
roischen Erhebung von 1370--71), so hat auch der Kampf zweier sich zu¬
gleich entgegenstehenden und ergänzenden Weltansichten, wie sie im Protestan¬
tismus und Katholizismus vorliegen, zuletzt eine zu neuen Bildungen führende
Wirkung. Vor allein aber wird und muß diese Neubildung durch den natio¬
nalen Boden bedingt sein, dem sie entkeimt. Wie die Sprache eines Volkes
ein genaues Bild seiner besondern Erfahrungen, Empfindungen und Ausdrucks-
cigentümlichkeiten darstellt, so wird auch die Lebensauffassung. die Sittlichkeits¬
richtung -- und dahin wird die neue Ideal- oder Neligionsgründung aufzu¬
blicken haben -- bei jedem Volke eine besondre, aus der bestimmten nationalen
Anlage hervorgegangene und durch sie bedingte sein. Das eigenartige Verhalten
eines Volkes gegen sich selbst und gegen die Nachbarvölker wird den Kern seiner
besondern Sittlichkeit ausmachen. Wie die gewaltige Gährung der Reformation
des sechzehnten Jahrhunderts das bis dcihiu naive und einfache Christentum in
eine Reihe verschiedenartiger selbständiger Konfessionen verwandelte und that¬
sächlich uatioualisirte, so wird auch das moderne Sichwiederbesinnen der ger¬
manischen Völker auf ihr Innerstes und Eigenstes eine Reihe neuer Sittlich¬
keit?'- und Moralarteu, d. h. die erhebende Herausgestaltung eben der nationalen
Eigenart und ihrer Vorzüge, zum Segen aller zur Folge haben.


G. Schlaeger.


Der Ramxf um die Schule in Belgien.

Interessen des Landes. Es fehlt an einer starken, mit ihren Wurzeln durch
Jahrhunderte reichenden und von den Parlamenten unabhängigen Dynastie,
welche gegen die Kammern, den Ausdruck der Augenblicksstimmung der Wähler,
die entscheidenden Lebensbedingungen des Ganzen zu betonen und, wenn nötig,
auch trotz der Paragraphen der Verfassung durchzuführen Willens und imstande
wäre. Eben deshalb ist die Geschichte des Kampfes um die Schule nur Ma¬
terial, welches anderweitig zur Lösung der Volksunterrichtsfragc zu verwenden
sein wird. Belgien wird so wenig wie Frankreich der schwierigen Aufgabe ge¬
wachsen sein. Beide scheinen die Bestimmung zu haben, zwischen der rein utili-
tarischen, die Moral nur formal fassenden religionslosen Schule lind der ver¬
alteten konfessionellen hin und her zu schwanken oder besser hin und her zu zucken.

Die gewaltsame Ausstoßung des Protestantismus, aus welchem das moderne
wirkliche Leben hervorgegangen ist, hat offenbar eine Art geistiger Lähmung
zur Folge gehabt, deren Wirkung man sich trotz aller Anstrengung nicht zu
entziehen vermag. Es gilt von den Völkern wie von den Einzelnen:


Was man von der Minute ausgeschlagen,
Giebt keine Ewigkeit zurück.

Nur die großen paritätischen Nationalstaaten scheinen geeignet, die Aufgabe
vollständig zu erfassen und gründlich in Angriff zu nehmen. Wie der Krieg
die erhabene Mission der Völkerbildung zu seiner Rechtfertigung bedarf (man
verstehe nur die Deutschland einigende und damit schaffende Kraft der he¬
roischen Erhebung von 1370—71), so hat auch der Kampf zweier sich zu¬
gleich entgegenstehenden und ergänzenden Weltansichten, wie sie im Protestan¬
tismus und Katholizismus vorliegen, zuletzt eine zu neuen Bildungen führende
Wirkung. Vor allein aber wird und muß diese Neubildung durch den natio¬
nalen Boden bedingt sein, dem sie entkeimt. Wie die Sprache eines Volkes
ein genaues Bild seiner besondern Erfahrungen, Empfindungen und Ausdrucks-
cigentümlichkeiten darstellt, so wird auch die Lebensauffassung. die Sittlichkeits¬
richtung — und dahin wird die neue Ideal- oder Neligionsgründung aufzu¬
blicken haben — bei jedem Volke eine besondre, aus der bestimmten nationalen
Anlage hervorgegangene und durch sie bedingte sein. Das eigenartige Verhalten
eines Volkes gegen sich selbst und gegen die Nachbarvölker wird den Kern seiner
besondern Sittlichkeit ausmachen. Wie die gewaltige Gährung der Reformation
des sechzehnten Jahrhunderts das bis dcihiu naive und einfache Christentum in
eine Reihe verschiedenartiger selbständiger Konfessionen verwandelte und that¬
sächlich uatioualisirte, so wird auch das moderne Sichwiederbesinnen der ger¬
manischen Völker auf ihr Innerstes und Eigenstes eine Reihe neuer Sittlich¬
keit?'- und Moralarteu, d. h. die erhebende Herausgestaltung eben der nationalen
Eigenart und ihrer Vorzüge, zum Segen aller zur Folge haben.


G. Schlaeger.


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[0215] Der Ramxf um die Schule in Belgien. Interessen des Landes. Es fehlt an einer starken, mit ihren Wurzeln durch Jahrhunderte reichenden und von den Parlamenten unabhängigen Dynastie, welche gegen die Kammern, den Ausdruck der Augenblicksstimmung der Wähler, die entscheidenden Lebensbedingungen des Ganzen zu betonen und, wenn nötig, auch trotz der Paragraphen der Verfassung durchzuführen Willens und imstande wäre. Eben deshalb ist die Geschichte des Kampfes um die Schule nur Ma¬ terial, welches anderweitig zur Lösung der Volksunterrichtsfragc zu verwenden sein wird. Belgien wird so wenig wie Frankreich der schwierigen Aufgabe ge¬ wachsen sein. Beide scheinen die Bestimmung zu haben, zwischen der rein utili- tarischen, die Moral nur formal fassenden religionslosen Schule lind der ver¬ alteten konfessionellen hin und her zu schwanken oder besser hin und her zu zucken. Die gewaltsame Ausstoßung des Protestantismus, aus welchem das moderne wirkliche Leben hervorgegangen ist, hat offenbar eine Art geistiger Lähmung zur Folge gehabt, deren Wirkung man sich trotz aller Anstrengung nicht zu entziehen vermag. Es gilt von den Völkern wie von den Einzelnen: Was man von der Minute ausgeschlagen, Giebt keine Ewigkeit zurück. Nur die großen paritätischen Nationalstaaten scheinen geeignet, die Aufgabe vollständig zu erfassen und gründlich in Angriff zu nehmen. Wie der Krieg die erhabene Mission der Völkerbildung zu seiner Rechtfertigung bedarf (man verstehe nur die Deutschland einigende und damit schaffende Kraft der he¬ roischen Erhebung von 1370—71), so hat auch der Kampf zweier sich zu¬ gleich entgegenstehenden und ergänzenden Weltansichten, wie sie im Protestan¬ tismus und Katholizismus vorliegen, zuletzt eine zu neuen Bildungen führende Wirkung. Vor allein aber wird und muß diese Neubildung durch den natio¬ nalen Boden bedingt sein, dem sie entkeimt. Wie die Sprache eines Volkes ein genaues Bild seiner besondern Erfahrungen, Empfindungen und Ausdrucks- cigentümlichkeiten darstellt, so wird auch die Lebensauffassung. die Sittlichkeits¬ richtung — und dahin wird die neue Ideal- oder Neligionsgründung aufzu¬ blicken haben — bei jedem Volke eine besondre, aus der bestimmten nationalen Anlage hervorgegangene und durch sie bedingte sein. Das eigenartige Verhalten eines Volkes gegen sich selbst und gegen die Nachbarvölker wird den Kern seiner besondern Sittlichkeit ausmachen. Wie die gewaltige Gährung der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts das bis dcihiu naive und einfache Christentum in eine Reihe verschiedenartiger selbständiger Konfessionen verwandelte und that¬ sächlich uatioualisirte, so wird auch das moderne Sichwiederbesinnen der ger¬ manischen Völker auf ihr Innerstes und Eigenstes eine Reihe neuer Sittlich¬ keit?'- und Moralarteu, d. h. die erhebende Herausgestaltung eben der nationalen Eigenart und ihrer Vorzüge, zum Segen aller zur Folge haben. G. Schlaeger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/215>, abgerufen am 25.07.2024.