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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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weiteren Abschlachten der staatstreuen Lehrer Einhalt zu gebietein Dennoch ist
das Werk des Ausjätens des "Unkrauts" aus dem ultramontanen Weizen, wenn
auch in vorsichtigerer Weise, fortgesetzt wordein Auf wiederholtes Drängen des alten
Führers der Liberalen, Frsre-Orden, erstattete neulich der Minister des Innern
und des Unterrichts Bericht über die aufräumenden Wirkungen des Schulgesetzes,
Er giebt zu, daß 880 Lehrer auf Wartegeld gesetzt sind, daß von 1933 Volks¬
schulen 877 aufgehoben sind, ebenso daß 228 Kindergärten und 1079 Fortbildungs¬
schulen für Erwachsene dasselbe Schicksal ereilt hat. (Die Wichtigkeit der letzten
ist eine außerordentliche. Es ist notorisch, daß die große Mehrheit der Elementar¬
schüler, welche keine Fortbildungsschulen besucht haben, im Alter von 13 Jahren
kaum mehr lesen und schreiben können.) Es wurden ferner 3316 Lehrer mit
Gehaltsverminderung heimgesucht. (Ersparung von 959 220 Franken für den
Staat.) Dagegen wurden nicht weniger als 1465 Klosterschulen von den be¬
treffenden Gemeinden adoptirt, d. h. an Stelle der öffentlichen Schulen den
Steuerzählern von Gemeinde, Provinz und Staat aufgeladen und den Taschen
der sie bisher erhaltenden Bischöfe und der Gläubigen abgenommen. Wenn
man bedenkt, daß es im ganzen etwa 4200 Gemeindeschulen gab, nämlich 1483
Knaben-, 1042 Mädchen- und 1632 gemischte Schulen und etwa 5000 Lehrer¬
und 2242 Lehrerinnenstellen, kann man sich einen Begriff von der Umwälzung
machen, welche seit 1884 in dem Personal wie in dem Charakter der Volks¬
schule stattgefunden hat.

Das Unterrichtswesen Belgiens ist auf viele Jahre hinaus desorganifirt
und geschädigt, die Einwirkung des Staates auf dasselbe vollständig unzu¬
länglich geworden, das Niveau der Volksschule erheblich herabgedrückt. Die
Liberalen fürchten infolge dessen einen weiteren Niedergang der belgischen In¬
dustrie auf dem Weltmarkte, auf welchem die Deutschen sie ohnedies bereits zu
verdrängen anfangen. Die Schulfrage wird somit zugleich eine wichtige mate¬
rielle, finanzielle und volkswirtschaftliche Frage. Dennoch sind die Aussichten,
das Verlorne Feld wiederzugewinnen, für die Liberalen keine besondern. Die
zunehmende Spaltung der liberalen Partei in Liberale und Radikale war teil¬
weise mit die Ursache der Niederlagen der Jahre 1884/85, und die klerikale
Partei hat diesen Zwiespalt in ebenso geschickter Weise auszunutzen verstanden wie
in Deutschland das Centrum einen ähnlichen. Sie hat die radikalen Kandidaten
in den großen Städten ebenso gegen die Liberalen unterstützt wie in Berlin
die Katholiken den Kandidaten der freisinnigen Partei (Ludwig Löwe) gegen
Professor A. Wagner, den konservativen Kathedersozialisten. Sie wird auch
bei den Wahlen dieses Sommers dieselbe Taktik befolgen. Die Radikalen ver¬
langen nicht nur eine Aufhebung der Besoldung der Geistlichkeit aus der Staats¬
kasse, sondern auch Revision des § 47 der Verfassung, welcher das Wahlrecht
an die Zahlung einer nicht unbedeutenden direkten Steuer (nicht unter zehn Gul¬
den) knüpft. Von einer Million erwachsener Belgier haben jetzt nur 125 000


weiteren Abschlachten der staatstreuen Lehrer Einhalt zu gebietein Dennoch ist
das Werk des Ausjätens des „Unkrauts" aus dem ultramontanen Weizen, wenn
auch in vorsichtigerer Weise, fortgesetzt wordein Auf wiederholtes Drängen des alten
Führers der Liberalen, Frsre-Orden, erstattete neulich der Minister des Innern
und des Unterrichts Bericht über die aufräumenden Wirkungen des Schulgesetzes,
Er giebt zu, daß 880 Lehrer auf Wartegeld gesetzt sind, daß von 1933 Volks¬
schulen 877 aufgehoben sind, ebenso daß 228 Kindergärten und 1079 Fortbildungs¬
schulen für Erwachsene dasselbe Schicksal ereilt hat. (Die Wichtigkeit der letzten
ist eine außerordentliche. Es ist notorisch, daß die große Mehrheit der Elementar¬
schüler, welche keine Fortbildungsschulen besucht haben, im Alter von 13 Jahren
kaum mehr lesen und schreiben können.) Es wurden ferner 3316 Lehrer mit
Gehaltsverminderung heimgesucht. (Ersparung von 959 220 Franken für den
Staat.) Dagegen wurden nicht weniger als 1465 Klosterschulen von den be¬
treffenden Gemeinden adoptirt, d. h. an Stelle der öffentlichen Schulen den
Steuerzählern von Gemeinde, Provinz und Staat aufgeladen und den Taschen
der sie bisher erhaltenden Bischöfe und der Gläubigen abgenommen. Wenn
man bedenkt, daß es im ganzen etwa 4200 Gemeindeschulen gab, nämlich 1483
Knaben-, 1042 Mädchen- und 1632 gemischte Schulen und etwa 5000 Lehrer¬
und 2242 Lehrerinnenstellen, kann man sich einen Begriff von der Umwälzung
machen, welche seit 1884 in dem Personal wie in dem Charakter der Volks¬
schule stattgefunden hat.

Das Unterrichtswesen Belgiens ist auf viele Jahre hinaus desorganifirt
und geschädigt, die Einwirkung des Staates auf dasselbe vollständig unzu¬
länglich geworden, das Niveau der Volksschule erheblich herabgedrückt. Die
Liberalen fürchten infolge dessen einen weiteren Niedergang der belgischen In¬
dustrie auf dem Weltmarkte, auf welchem die Deutschen sie ohnedies bereits zu
verdrängen anfangen. Die Schulfrage wird somit zugleich eine wichtige mate¬
rielle, finanzielle und volkswirtschaftliche Frage. Dennoch sind die Aussichten,
das Verlorne Feld wiederzugewinnen, für die Liberalen keine besondern. Die
zunehmende Spaltung der liberalen Partei in Liberale und Radikale war teil¬
weise mit die Ursache der Niederlagen der Jahre 1884/85, und die klerikale
Partei hat diesen Zwiespalt in ebenso geschickter Weise auszunutzen verstanden wie
in Deutschland das Centrum einen ähnlichen. Sie hat die radikalen Kandidaten
in den großen Städten ebenso gegen die Liberalen unterstützt wie in Berlin
die Katholiken den Kandidaten der freisinnigen Partei (Ludwig Löwe) gegen
Professor A. Wagner, den konservativen Kathedersozialisten. Sie wird auch
bei den Wahlen dieses Sommers dieselbe Taktik befolgen. Die Radikalen ver¬
langen nicht nur eine Aufhebung der Besoldung der Geistlichkeit aus der Staats¬
kasse, sondern auch Revision des § 47 der Verfassung, welcher das Wahlrecht
an die Zahlung einer nicht unbedeutenden direkten Steuer (nicht unter zehn Gul¬
den) knüpft. Von einer Million erwachsener Belgier haben jetzt nur 125 000


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[0212] weiteren Abschlachten der staatstreuen Lehrer Einhalt zu gebietein Dennoch ist das Werk des Ausjätens des „Unkrauts" aus dem ultramontanen Weizen, wenn auch in vorsichtigerer Weise, fortgesetzt wordein Auf wiederholtes Drängen des alten Führers der Liberalen, Frsre-Orden, erstattete neulich der Minister des Innern und des Unterrichts Bericht über die aufräumenden Wirkungen des Schulgesetzes, Er giebt zu, daß 880 Lehrer auf Wartegeld gesetzt sind, daß von 1933 Volks¬ schulen 877 aufgehoben sind, ebenso daß 228 Kindergärten und 1079 Fortbildungs¬ schulen für Erwachsene dasselbe Schicksal ereilt hat. (Die Wichtigkeit der letzten ist eine außerordentliche. Es ist notorisch, daß die große Mehrheit der Elementar¬ schüler, welche keine Fortbildungsschulen besucht haben, im Alter von 13 Jahren kaum mehr lesen und schreiben können.) Es wurden ferner 3316 Lehrer mit Gehaltsverminderung heimgesucht. (Ersparung von 959 220 Franken für den Staat.) Dagegen wurden nicht weniger als 1465 Klosterschulen von den be¬ treffenden Gemeinden adoptirt, d. h. an Stelle der öffentlichen Schulen den Steuerzählern von Gemeinde, Provinz und Staat aufgeladen und den Taschen der sie bisher erhaltenden Bischöfe und der Gläubigen abgenommen. Wenn man bedenkt, daß es im ganzen etwa 4200 Gemeindeschulen gab, nämlich 1483 Knaben-, 1042 Mädchen- und 1632 gemischte Schulen und etwa 5000 Lehrer¬ und 2242 Lehrerinnenstellen, kann man sich einen Begriff von der Umwälzung machen, welche seit 1884 in dem Personal wie in dem Charakter der Volks¬ schule stattgefunden hat. Das Unterrichtswesen Belgiens ist auf viele Jahre hinaus desorganifirt und geschädigt, die Einwirkung des Staates auf dasselbe vollständig unzu¬ länglich geworden, das Niveau der Volksschule erheblich herabgedrückt. Die Liberalen fürchten infolge dessen einen weiteren Niedergang der belgischen In¬ dustrie auf dem Weltmarkte, auf welchem die Deutschen sie ohnedies bereits zu verdrängen anfangen. Die Schulfrage wird somit zugleich eine wichtige mate¬ rielle, finanzielle und volkswirtschaftliche Frage. Dennoch sind die Aussichten, das Verlorne Feld wiederzugewinnen, für die Liberalen keine besondern. Die zunehmende Spaltung der liberalen Partei in Liberale und Radikale war teil¬ weise mit die Ursache der Niederlagen der Jahre 1884/85, und die klerikale Partei hat diesen Zwiespalt in ebenso geschickter Weise auszunutzen verstanden wie in Deutschland das Centrum einen ähnlichen. Sie hat die radikalen Kandidaten in den großen Städten ebenso gegen die Liberalen unterstützt wie in Berlin die Katholiken den Kandidaten der freisinnigen Partei (Ludwig Löwe) gegen Professor A. Wagner, den konservativen Kathedersozialisten. Sie wird auch bei den Wahlen dieses Sommers dieselbe Taktik befolgen. Die Radikalen ver¬ langen nicht nur eine Aufhebung der Besoldung der Geistlichkeit aus der Staats¬ kasse, sondern auch Revision des § 47 der Verfassung, welcher das Wahlrecht an die Zahlung einer nicht unbedeutenden direkten Steuer (nicht unter zehn Gul¬ den) knüpft. Von einer Million erwachsener Belgier haben jetzt nur 125 000

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/212>, abgerufen am 25.07.2024.