Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Beiträge zur sozialen Frage,

politischen Ideal machte, daß dieser Standpunkt ebenso ein Extrem war wie die
Zeit der übertriebenen persönlichen Gebundenheit, der Sklaverei, daß die Wahr¬
heit auch hier in der Mitte liegt, und die Völker desjenigen Staates am glück¬
lichsten sein werden, dessen Rechtsordnung jedes dieser beiden Extreme vermeidet.

Wie wir oben gezeigt haben, führt der Individualismus oder das System
des bloßen Geheulnssens, der übertriebenen Herrschaft des Privateigentums, bei
freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum wirtschaftlichen Ruin des Mittel¬
standes, zum Pauperismus, und damit zu Zuständen, welche ebenfalls nach den
obigen Deduktionen ihre Lösung finden müssen im Sinne der Einschränkung
des übertriebenen Privateigentnmsprinzips und der Vermehrung der persönlichen
Gebundenheit. Es kann sich, wenn man erst zu dieser Einsicht gekommen ist,
nur noch darum handeln, zu entscheiden, ob diese Richtung ebenfalls dem freien
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen werden soll, d. h. ob man ab¬
warten will, bis die Arbeitskraftbesitzer es in die Hand nehmen, auf gewaltsame
Weise für ihre Existenzbedingungen durch Selbsthilfe zu forgen, wie es in Frank¬
reich, England und Belgien die herrschenden Klassen vorzuhaben scheinen, oder
ob der Staat als berufener Fürsorger für das Wohl des Volkes in richtiger
Erkenntnis der Verhältnisse die Neuordnung derselben auf dem ruhigen Wege
gesetzlicher Reform in die Hand nehmen soll, wie dies z. B. die Politik des
deutschen Reichs und feines Kanzlers seit längerer Zeit anstrebt, Krankenkassen¬
gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Altersversorgung, aber auch Tabaks- und
Branntwcinmvnopvl und wie die Tagesfragen alle heißen, sie alle sind freilich
nur ein erster Anfang auf dem neu betretenen Wege sozialer Reform, aber sie
sind bereits ein erster sozialer Eingriff in die freie, schrankenlose Willkür des
Privateigentums, ein erster Schritt zur Einführung eines gewissen Grades per¬
sönlicher Gebundenheit, und deshalb von hoher prinzipieller Bedeutung, Gerade
deshalb finde" aber auch alle diese Bestrebungen den energischen Widerstand
jener weiten, mächtigen und leider so vielfach noch in dem schlecht unterrichteten
Volk so maßgebenden Interessentenkreise, welche mehr oder minder bewußt sich
dadurch in ihrem Privatinteresse geschädigt fühlen und nicht begreifen können,
daß es besser ist, Krankheiten bei Zeiten vorzubeugen, als später ihre Folgen
zu tragen.

Wir können im Rahmen dieser Zeilen, die ja nur den Zweck haben, die
großen Gesichtspunkte zu zeigen, von denen aus die heutige wirtschaftliche und
damit auch die politische Lage zu beurteilen ist, nicht auf Eiuzelvvrschläge ein¬
gehen -- diese werden ja auch für die einzelnen Länder und ihre verschiednen
Verhältnisse verschieden ausfallen müssen --, aber das wird wohl überall die erste
Aufgabe sein, den weitesten Kreisen klar zu machen, daß es sich bei der gegen¬
wärtigen wirtschaftlichen Notlage, wie sie sich durch den Rückgang der Preise
der wichtigsten Produkte, den schlechten Geschäftsgang, die zunehmende Ent¬
wertung des Kapitals und den daraus entspringenden Rückgang des Zinsfußes,


Grenzboten II. 1386, 21
Kritische Beiträge zur sozialen Frage,

politischen Ideal machte, daß dieser Standpunkt ebenso ein Extrem war wie die
Zeit der übertriebenen persönlichen Gebundenheit, der Sklaverei, daß die Wahr¬
heit auch hier in der Mitte liegt, und die Völker desjenigen Staates am glück¬
lichsten sein werden, dessen Rechtsordnung jedes dieser beiden Extreme vermeidet.

Wie wir oben gezeigt haben, führt der Individualismus oder das System
des bloßen Geheulnssens, der übertriebenen Herrschaft des Privateigentums, bei
freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum wirtschaftlichen Ruin des Mittel¬
standes, zum Pauperismus, und damit zu Zuständen, welche ebenfalls nach den
obigen Deduktionen ihre Lösung finden müssen im Sinne der Einschränkung
des übertriebenen Privateigentnmsprinzips und der Vermehrung der persönlichen
Gebundenheit. Es kann sich, wenn man erst zu dieser Einsicht gekommen ist,
nur noch darum handeln, zu entscheiden, ob diese Richtung ebenfalls dem freien
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen werden soll, d. h. ob man ab¬
warten will, bis die Arbeitskraftbesitzer es in die Hand nehmen, auf gewaltsame
Weise für ihre Existenzbedingungen durch Selbsthilfe zu forgen, wie es in Frank¬
reich, England und Belgien die herrschenden Klassen vorzuhaben scheinen, oder
ob der Staat als berufener Fürsorger für das Wohl des Volkes in richtiger
Erkenntnis der Verhältnisse die Neuordnung derselben auf dem ruhigen Wege
gesetzlicher Reform in die Hand nehmen soll, wie dies z. B. die Politik des
deutschen Reichs und feines Kanzlers seit längerer Zeit anstrebt, Krankenkassen¬
gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Altersversorgung, aber auch Tabaks- und
Branntwcinmvnopvl und wie die Tagesfragen alle heißen, sie alle sind freilich
nur ein erster Anfang auf dem neu betretenen Wege sozialer Reform, aber sie
sind bereits ein erster sozialer Eingriff in die freie, schrankenlose Willkür des
Privateigentums, ein erster Schritt zur Einführung eines gewissen Grades per¬
sönlicher Gebundenheit, und deshalb von hoher prinzipieller Bedeutung, Gerade
deshalb finde» aber auch alle diese Bestrebungen den energischen Widerstand
jener weiten, mächtigen und leider so vielfach noch in dem schlecht unterrichteten
Volk so maßgebenden Interessentenkreise, welche mehr oder minder bewußt sich
dadurch in ihrem Privatinteresse geschädigt fühlen und nicht begreifen können,
daß es besser ist, Krankheiten bei Zeiten vorzubeugen, als später ihre Folgen
zu tragen.

Wir können im Rahmen dieser Zeilen, die ja nur den Zweck haben, die
großen Gesichtspunkte zu zeigen, von denen aus die heutige wirtschaftliche und
damit auch die politische Lage zu beurteilen ist, nicht auf Eiuzelvvrschläge ein¬
gehen — diese werden ja auch für die einzelnen Länder und ihre verschiednen
Verhältnisse verschieden ausfallen müssen —, aber das wird wohl überall die erste
Aufgabe sein, den weitesten Kreisen klar zu machen, daß es sich bei der gegen¬
wärtigen wirtschaftlichen Notlage, wie sie sich durch den Rückgang der Preise
der wichtigsten Produkte, den schlechten Geschäftsgang, die zunehmende Ent¬
wertung des Kapitals und den daraus entspringenden Rückgang des Zinsfußes,


Grenzboten II. 1386, 21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0169" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198235"/>
          <fw type="header" place="top"> Kritische Beiträge zur sozialen Frage,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_460" prev="#ID_459"> politischen Ideal machte, daß dieser Standpunkt ebenso ein Extrem war wie die<lb/>
Zeit der übertriebenen persönlichen Gebundenheit, der Sklaverei, daß die Wahr¬<lb/>
heit auch hier in der Mitte liegt, und die Völker desjenigen Staates am glück¬<lb/>
lichsten sein werden, dessen Rechtsordnung jedes dieser beiden Extreme vermeidet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_461"> Wie wir oben gezeigt haben, führt der Individualismus oder das System<lb/>
des bloßen Geheulnssens, der übertriebenen Herrschaft des Privateigentums, bei<lb/>
freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum wirtschaftlichen Ruin des Mittel¬<lb/>
standes, zum Pauperismus, und damit zu Zuständen, welche ebenfalls nach den<lb/>
obigen Deduktionen ihre Lösung finden müssen im Sinne der Einschränkung<lb/>
des übertriebenen Privateigentnmsprinzips und der Vermehrung der persönlichen<lb/>
Gebundenheit. Es kann sich, wenn man erst zu dieser Einsicht gekommen ist,<lb/>
nur noch darum handeln, zu entscheiden, ob diese Richtung ebenfalls dem freien<lb/>
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen werden soll, d. h. ob man ab¬<lb/>
warten will, bis die Arbeitskraftbesitzer es in die Hand nehmen, auf gewaltsame<lb/>
Weise für ihre Existenzbedingungen durch Selbsthilfe zu forgen, wie es in Frank¬<lb/>
reich, England und Belgien die herrschenden Klassen vorzuhaben scheinen, oder<lb/>
ob der Staat als berufener Fürsorger für das Wohl des Volkes in richtiger<lb/>
Erkenntnis der Verhältnisse die Neuordnung derselben auf dem ruhigen Wege<lb/>
gesetzlicher Reform in die Hand nehmen soll, wie dies z. B. die Politik des<lb/>
deutschen Reichs und feines Kanzlers seit längerer Zeit anstrebt, Krankenkassen¬<lb/>
gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Altersversorgung, aber auch Tabaks- und<lb/>
Branntwcinmvnopvl und wie die Tagesfragen alle heißen, sie alle sind freilich<lb/>
nur ein erster Anfang auf dem neu betretenen Wege sozialer Reform, aber sie<lb/>
sind bereits ein erster sozialer Eingriff in die freie, schrankenlose Willkür des<lb/>
Privateigentums, ein erster Schritt zur Einführung eines gewissen Grades per¬<lb/>
sönlicher Gebundenheit, und deshalb von hoher prinzipieller Bedeutung, Gerade<lb/>
deshalb finde» aber auch alle diese Bestrebungen den energischen Widerstand<lb/>
jener weiten, mächtigen und leider so vielfach noch in dem schlecht unterrichteten<lb/>
Volk so maßgebenden Interessentenkreise, welche mehr oder minder bewußt sich<lb/>
dadurch in ihrem Privatinteresse geschädigt fühlen und nicht begreifen können,<lb/>
daß es besser ist, Krankheiten bei Zeiten vorzubeugen, als später ihre Folgen<lb/>
zu tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_462" next="#ID_463"> Wir können im Rahmen dieser Zeilen, die ja nur den Zweck haben, die<lb/>
großen Gesichtspunkte zu zeigen, von denen aus die heutige wirtschaftliche und<lb/>
damit auch die politische Lage zu beurteilen ist, nicht auf Eiuzelvvrschläge ein¬<lb/>
gehen &#x2014; diese werden ja auch für die einzelnen Länder und ihre verschiednen<lb/>
Verhältnisse verschieden ausfallen müssen &#x2014;, aber das wird wohl überall die erste<lb/>
Aufgabe sein, den weitesten Kreisen klar zu machen, daß es sich bei der gegen¬<lb/>
wärtigen wirtschaftlichen Notlage, wie sie sich durch den Rückgang der Preise<lb/>
der wichtigsten Produkte, den schlechten Geschäftsgang, die zunehmende Ent¬<lb/>
wertung des Kapitals und den daraus entspringenden Rückgang des Zinsfußes,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1386, 21</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0169] Kritische Beiträge zur sozialen Frage, politischen Ideal machte, daß dieser Standpunkt ebenso ein Extrem war wie die Zeit der übertriebenen persönlichen Gebundenheit, der Sklaverei, daß die Wahr¬ heit auch hier in der Mitte liegt, und die Völker desjenigen Staates am glück¬ lichsten sein werden, dessen Rechtsordnung jedes dieser beiden Extreme vermeidet. Wie wir oben gezeigt haben, führt der Individualismus oder das System des bloßen Geheulnssens, der übertriebenen Herrschaft des Privateigentums, bei freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zum wirtschaftlichen Ruin des Mittel¬ standes, zum Pauperismus, und damit zu Zuständen, welche ebenfalls nach den obigen Deduktionen ihre Lösung finden müssen im Sinne der Einschränkung des übertriebenen Privateigentnmsprinzips und der Vermehrung der persönlichen Gebundenheit. Es kann sich, wenn man erst zu dieser Einsicht gekommen ist, nur noch darum handeln, zu entscheiden, ob diese Richtung ebenfalls dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassen werden soll, d. h. ob man ab¬ warten will, bis die Arbeitskraftbesitzer es in die Hand nehmen, auf gewaltsame Weise für ihre Existenzbedingungen durch Selbsthilfe zu forgen, wie es in Frank¬ reich, England und Belgien die herrschenden Klassen vorzuhaben scheinen, oder ob der Staat als berufener Fürsorger für das Wohl des Volkes in richtiger Erkenntnis der Verhältnisse die Neuordnung derselben auf dem ruhigen Wege gesetzlicher Reform in die Hand nehmen soll, wie dies z. B. die Politik des deutschen Reichs und feines Kanzlers seit längerer Zeit anstrebt, Krankenkassen¬ gesetz, Unfallversicherungsgesetz, Altersversorgung, aber auch Tabaks- und Branntwcinmvnopvl und wie die Tagesfragen alle heißen, sie alle sind freilich nur ein erster Anfang auf dem neu betretenen Wege sozialer Reform, aber sie sind bereits ein erster sozialer Eingriff in die freie, schrankenlose Willkür des Privateigentums, ein erster Schritt zur Einführung eines gewissen Grades per¬ sönlicher Gebundenheit, und deshalb von hoher prinzipieller Bedeutung, Gerade deshalb finde» aber auch alle diese Bestrebungen den energischen Widerstand jener weiten, mächtigen und leider so vielfach noch in dem schlecht unterrichteten Volk so maßgebenden Interessentenkreise, welche mehr oder minder bewußt sich dadurch in ihrem Privatinteresse geschädigt fühlen und nicht begreifen können, daß es besser ist, Krankheiten bei Zeiten vorzubeugen, als später ihre Folgen zu tragen. Wir können im Rahmen dieser Zeilen, die ja nur den Zweck haben, die großen Gesichtspunkte zu zeigen, von denen aus die heutige wirtschaftliche und damit auch die politische Lage zu beurteilen ist, nicht auf Eiuzelvvrschläge ein¬ gehen — diese werden ja auch für die einzelnen Länder und ihre verschiednen Verhältnisse verschieden ausfallen müssen —, aber das wird wohl überall die erste Aufgabe sein, den weitesten Kreisen klar zu machen, daß es sich bei der gegen¬ wärtigen wirtschaftlichen Notlage, wie sie sich durch den Rückgang der Preise der wichtigsten Produkte, den schlechten Geschäftsgang, die zunehmende Ent¬ wertung des Kapitals und den daraus entspringenden Rückgang des Zinsfußes, Grenzboten II. 1386, 21

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/169
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/169>, abgerufen am 23.07.2024.