Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die naturalistische Schule in Deutschland.

wechslnngen, die durch Vorgeschichte, Lebensalter und Beruf herbeigeführt
werden, die grundverschiedncn Schicksale, in die je nach Zufall und Glück der
modern-materialistische Mensch hineinwächst, sie lassen sich allesamt vertausend¬
fachen. Den Darstellern dieser Welt entgeht eben, welche Eintönigkeit, welche
armselige Öde in einer Mannichfaltigkeit liegt, die jedes geistigen Reizes, jedes
tiefern Empfindens, jeder edlern Lebenshaltung entbehrt. Die Freude am
äußerlich Neuen paart sich bei ihnen mit der prinzipiellen Voraussetzung, daß
die Gemeinheit und die cynische Gennßlust die eigentliche Seele der Wirklichkeit
seien, und so verschließen sie ihre Augen gegen die naheliegende Thatsache, daß
gesunde Tüchtigkeit, Herzenswärme und reine Güte, daß geistiger Schwung und
ideale Erhebung, trotz allem, nicht aussterben in der Welt, und daß es das
Vorrecht des Dichters bleibt, sie hervorzuheben und im schlimmsten Falle, wo
sie nur noch vereinzelt vorhanden sind, nach ihnen zu suchen. Und so kindisch
es wäre, unsre Naturalisten zu beschuldigen, daß sie insgesamt Freude und Be¬
hagen gerade an diesen widrigen und abschreckenden Erscheinungen empfänden,
so macht sie doch der Fanatismus eiuer neuen und vermeintlich ausgiebigen
künstlerischen Richtung wenig geneigt, die ganze Fülle der Wirklichkeiten zu
sehen, welche der pessimistischen Überzeugung von der Erbärmlichkeit des mensch¬
lichen Daseins widersprechen. Ausdrücklich sei übrigens noch hervorgehoben,
daß die Schilderung und Charakteristik der jüngern "gebildeten" Männerwelt,
auf welche sich der Naturalismus nicht wenig zu Gute thut, eine Besonderheit
gerade des deutscheu Naturalismus ist. Die leichtfertigen und ausschweifenden
Jünglingsgestalten Daudets und selbst Zolas haben nicht die Prahlsucht der
Gemeinheit, dnrch welche sich die dentschen Vertreter dieser Art Zeitgeist so
unvorteilhaft auszeichnen. Leicht möglich auch, daß selbst den äußersten fran¬
zösischen Naturalisten ein Bestreben beherrscht, wenigstens in gewissem Sinne
gesellschaftsfähig zu bleiben, während der deutsche Nachfolger das Prinzip der
Wirklichkeitsdarstcllung bis zur letzten Konsequenz treibt.

In der Reihe der deutschen Naturalisten, die sich mit jedem Tage ver¬
größert und bereits den Schwarm jener Nachahmer hinter sich drein zieht,
welche in allen Perioden der Literatur alles nachahmen, was augenblicklich neu
ist und Wirkung verspricht, ragt vor allen andern der Münchner M. G.
Conrad hervor, irren wir nicht, Herausgeber einer besondern Zeitschrift, welche
die Dogmen des reinen Naturalismus auf allen Kunstgebieten und gegenüber
allen Bestrebungen versieht, die sich erkühnen, nicht "naturalistisch" zu sein, jeden¬
falls der Verfasser vortrefflicher, von scharfer Beobachtungsgabe und noch un-
verkümmerter Bcobachtungslust zeugender Pariser Skizzen. Verteidiger Zolas
gegen seine deutschen Widersacher, ist er zugleich ein Schüler des Franzosen,
freilich einer der wenigen Schüler, denen sich selbständiger Geist und eigne Kraft
nicht absprechen läßt. Die im Eingänge charakterisirten Mängel und die über¬
reizten Besonderheiten der Schule fehlen bei ihm nicht, wir begegnen der über-


Die naturalistische Schule in Deutschland.

wechslnngen, die durch Vorgeschichte, Lebensalter und Beruf herbeigeführt
werden, die grundverschiedncn Schicksale, in die je nach Zufall und Glück der
modern-materialistische Mensch hineinwächst, sie lassen sich allesamt vertausend¬
fachen. Den Darstellern dieser Welt entgeht eben, welche Eintönigkeit, welche
armselige Öde in einer Mannichfaltigkeit liegt, die jedes geistigen Reizes, jedes
tiefern Empfindens, jeder edlern Lebenshaltung entbehrt. Die Freude am
äußerlich Neuen paart sich bei ihnen mit der prinzipiellen Voraussetzung, daß
die Gemeinheit und die cynische Gennßlust die eigentliche Seele der Wirklichkeit
seien, und so verschließen sie ihre Augen gegen die naheliegende Thatsache, daß
gesunde Tüchtigkeit, Herzenswärme und reine Güte, daß geistiger Schwung und
ideale Erhebung, trotz allem, nicht aussterben in der Welt, und daß es das
Vorrecht des Dichters bleibt, sie hervorzuheben und im schlimmsten Falle, wo
sie nur noch vereinzelt vorhanden sind, nach ihnen zu suchen. Und so kindisch
es wäre, unsre Naturalisten zu beschuldigen, daß sie insgesamt Freude und Be¬
hagen gerade an diesen widrigen und abschreckenden Erscheinungen empfänden,
so macht sie doch der Fanatismus eiuer neuen und vermeintlich ausgiebigen
künstlerischen Richtung wenig geneigt, die ganze Fülle der Wirklichkeiten zu
sehen, welche der pessimistischen Überzeugung von der Erbärmlichkeit des mensch¬
lichen Daseins widersprechen. Ausdrücklich sei übrigens noch hervorgehoben,
daß die Schilderung und Charakteristik der jüngern „gebildeten" Männerwelt,
auf welche sich der Naturalismus nicht wenig zu Gute thut, eine Besonderheit
gerade des deutscheu Naturalismus ist. Die leichtfertigen und ausschweifenden
Jünglingsgestalten Daudets und selbst Zolas haben nicht die Prahlsucht der
Gemeinheit, dnrch welche sich die dentschen Vertreter dieser Art Zeitgeist so
unvorteilhaft auszeichnen. Leicht möglich auch, daß selbst den äußersten fran¬
zösischen Naturalisten ein Bestreben beherrscht, wenigstens in gewissem Sinne
gesellschaftsfähig zu bleiben, während der deutsche Nachfolger das Prinzip der
Wirklichkeitsdarstcllung bis zur letzten Konsequenz treibt.

In der Reihe der deutschen Naturalisten, die sich mit jedem Tage ver¬
größert und bereits den Schwarm jener Nachahmer hinter sich drein zieht,
welche in allen Perioden der Literatur alles nachahmen, was augenblicklich neu
ist und Wirkung verspricht, ragt vor allen andern der Münchner M. G.
Conrad hervor, irren wir nicht, Herausgeber einer besondern Zeitschrift, welche
die Dogmen des reinen Naturalismus auf allen Kunstgebieten und gegenüber
allen Bestrebungen versieht, die sich erkühnen, nicht „naturalistisch" zu sein, jeden¬
falls der Verfasser vortrefflicher, von scharfer Beobachtungsgabe und noch un-
verkümmerter Bcobachtungslust zeugender Pariser Skizzen. Verteidiger Zolas
gegen seine deutschen Widersacher, ist er zugleich ein Schüler des Franzosen,
freilich einer der wenigen Schüler, denen sich selbständiger Geist und eigne Kraft
nicht absprechen läßt. Die im Eingänge charakterisirten Mängel und die über¬
reizten Besonderheiten der Schule fehlen bei ihm nicht, wir begegnen der über-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0132" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198198"/>
          <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_351" prev="#ID_350"> wechslnngen, die durch Vorgeschichte, Lebensalter und Beruf herbeigeführt<lb/>
werden, die grundverschiedncn Schicksale, in die je nach Zufall und Glück der<lb/>
modern-materialistische Mensch hineinwächst, sie lassen sich allesamt vertausend¬<lb/>
fachen. Den Darstellern dieser Welt entgeht eben, welche Eintönigkeit, welche<lb/>
armselige Öde in einer Mannichfaltigkeit liegt, die jedes geistigen Reizes, jedes<lb/>
tiefern Empfindens, jeder edlern Lebenshaltung entbehrt. Die Freude am<lb/>
äußerlich Neuen paart sich bei ihnen mit der prinzipiellen Voraussetzung, daß<lb/>
die Gemeinheit und die cynische Gennßlust die eigentliche Seele der Wirklichkeit<lb/>
seien, und so verschließen sie ihre Augen gegen die naheliegende Thatsache, daß<lb/>
gesunde Tüchtigkeit, Herzenswärme und reine Güte, daß geistiger Schwung und<lb/>
ideale Erhebung, trotz allem, nicht aussterben in der Welt, und daß es das<lb/>
Vorrecht des Dichters bleibt, sie hervorzuheben und im schlimmsten Falle, wo<lb/>
sie nur noch vereinzelt vorhanden sind, nach ihnen zu suchen. Und so kindisch<lb/>
es wäre, unsre Naturalisten zu beschuldigen, daß sie insgesamt Freude und Be¬<lb/>
hagen gerade an diesen widrigen und abschreckenden Erscheinungen empfänden,<lb/>
so macht sie doch der Fanatismus eiuer neuen und vermeintlich ausgiebigen<lb/>
künstlerischen Richtung wenig geneigt, die ganze Fülle der Wirklichkeiten zu<lb/>
sehen, welche der pessimistischen Überzeugung von der Erbärmlichkeit des mensch¬<lb/>
lichen Daseins widersprechen. Ausdrücklich sei übrigens noch hervorgehoben,<lb/>
daß die Schilderung und Charakteristik der jüngern &#x201E;gebildeten" Männerwelt,<lb/>
auf welche sich der Naturalismus nicht wenig zu Gute thut, eine Besonderheit<lb/>
gerade des deutscheu Naturalismus ist. Die leichtfertigen und ausschweifenden<lb/>
Jünglingsgestalten Daudets und selbst Zolas haben nicht die Prahlsucht der<lb/>
Gemeinheit, dnrch welche sich die dentschen Vertreter dieser Art Zeitgeist so<lb/>
unvorteilhaft auszeichnen. Leicht möglich auch, daß selbst den äußersten fran¬<lb/>
zösischen Naturalisten ein Bestreben beherrscht, wenigstens in gewissem Sinne<lb/>
gesellschaftsfähig zu bleiben, während der deutsche Nachfolger das Prinzip der<lb/>
Wirklichkeitsdarstcllung bis zur letzten Konsequenz treibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_352" next="#ID_353"> In der Reihe der deutschen Naturalisten, die sich mit jedem Tage ver¬<lb/>
größert und bereits den Schwarm jener Nachahmer hinter sich drein zieht,<lb/>
welche in allen Perioden der Literatur alles nachahmen, was augenblicklich neu<lb/>
ist und Wirkung verspricht, ragt vor allen andern der Münchner M. G.<lb/>
Conrad hervor, irren wir nicht, Herausgeber einer besondern Zeitschrift, welche<lb/>
die Dogmen des reinen Naturalismus auf allen Kunstgebieten und gegenüber<lb/>
allen Bestrebungen versieht, die sich erkühnen, nicht &#x201E;naturalistisch" zu sein, jeden¬<lb/>
falls der Verfasser vortrefflicher, von scharfer Beobachtungsgabe und noch un-<lb/>
verkümmerter Bcobachtungslust zeugender Pariser Skizzen. Verteidiger Zolas<lb/>
gegen seine deutschen Widersacher, ist er zugleich ein Schüler des Franzosen,<lb/>
freilich einer der wenigen Schüler, denen sich selbständiger Geist und eigne Kraft<lb/>
nicht absprechen läßt. Die im Eingänge charakterisirten Mängel und die über¬<lb/>
reizten Besonderheiten der Schule fehlen bei ihm nicht, wir begegnen der über-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0132] Die naturalistische Schule in Deutschland. wechslnngen, die durch Vorgeschichte, Lebensalter und Beruf herbeigeführt werden, die grundverschiedncn Schicksale, in die je nach Zufall und Glück der modern-materialistische Mensch hineinwächst, sie lassen sich allesamt vertausend¬ fachen. Den Darstellern dieser Welt entgeht eben, welche Eintönigkeit, welche armselige Öde in einer Mannichfaltigkeit liegt, die jedes geistigen Reizes, jedes tiefern Empfindens, jeder edlern Lebenshaltung entbehrt. Die Freude am äußerlich Neuen paart sich bei ihnen mit der prinzipiellen Voraussetzung, daß die Gemeinheit und die cynische Gennßlust die eigentliche Seele der Wirklichkeit seien, und so verschließen sie ihre Augen gegen die naheliegende Thatsache, daß gesunde Tüchtigkeit, Herzenswärme und reine Güte, daß geistiger Schwung und ideale Erhebung, trotz allem, nicht aussterben in der Welt, und daß es das Vorrecht des Dichters bleibt, sie hervorzuheben und im schlimmsten Falle, wo sie nur noch vereinzelt vorhanden sind, nach ihnen zu suchen. Und so kindisch es wäre, unsre Naturalisten zu beschuldigen, daß sie insgesamt Freude und Be¬ hagen gerade an diesen widrigen und abschreckenden Erscheinungen empfänden, so macht sie doch der Fanatismus eiuer neuen und vermeintlich ausgiebigen künstlerischen Richtung wenig geneigt, die ganze Fülle der Wirklichkeiten zu sehen, welche der pessimistischen Überzeugung von der Erbärmlichkeit des mensch¬ lichen Daseins widersprechen. Ausdrücklich sei übrigens noch hervorgehoben, daß die Schilderung und Charakteristik der jüngern „gebildeten" Männerwelt, auf welche sich der Naturalismus nicht wenig zu Gute thut, eine Besonderheit gerade des deutscheu Naturalismus ist. Die leichtfertigen und ausschweifenden Jünglingsgestalten Daudets und selbst Zolas haben nicht die Prahlsucht der Gemeinheit, dnrch welche sich die dentschen Vertreter dieser Art Zeitgeist so unvorteilhaft auszeichnen. Leicht möglich auch, daß selbst den äußersten fran¬ zösischen Naturalisten ein Bestreben beherrscht, wenigstens in gewissem Sinne gesellschaftsfähig zu bleiben, während der deutsche Nachfolger das Prinzip der Wirklichkeitsdarstcllung bis zur letzten Konsequenz treibt. In der Reihe der deutschen Naturalisten, die sich mit jedem Tage ver¬ größert und bereits den Schwarm jener Nachahmer hinter sich drein zieht, welche in allen Perioden der Literatur alles nachahmen, was augenblicklich neu ist und Wirkung verspricht, ragt vor allen andern der Münchner M. G. Conrad hervor, irren wir nicht, Herausgeber einer besondern Zeitschrift, welche die Dogmen des reinen Naturalismus auf allen Kunstgebieten und gegenüber allen Bestrebungen versieht, die sich erkühnen, nicht „naturalistisch" zu sein, jeden¬ falls der Verfasser vortrefflicher, von scharfer Beobachtungsgabe und noch un- verkümmerter Bcobachtungslust zeugender Pariser Skizzen. Verteidiger Zolas gegen seine deutschen Widersacher, ist er zugleich ein Schüler des Franzosen, freilich einer der wenigen Schüler, denen sich selbständiger Geist und eigne Kraft nicht absprechen läßt. Die im Eingänge charakterisirten Mängel und die über¬ reizten Besonderheiten der Schule fehlen bei ihm nicht, wir begegnen der über-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/132
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/132>, abgerufen am 29.12.2024.