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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zur Misere unsrer Literatur.

namentlich auch durch fortgesetzte Vermehrung desselben mit den gediegensten
und tüchtigsten neuern Erscheinungen, sowie durch strenge Ausschließung alles
Geringen und Schwachen, Gefährlichen und Verdrehten eine indirekte Zucht über
Schriftsteller und Verleger ausüben. Dies ist recht eine Sache, in der jeder
gleich bei sich selbst anfangen könnte und sollte, ohne sich erst mit seinem
Fleisch und Blute zu besprechen. Wie manches Zehnmarkstück wird für Ver¬
gnügen und Genüsse ausgegeben, die kaum eine Spur hinterlassen, und wie
viel edler und für dauernden Genuß könnte es verwendet werden, wenn
man es zu jenem Zwecke bestimmte! Begriffen und übten Männer von Stand
und Vermögen jene Ehrenpflicht, man würde bald die segensreichsten Früchte
davon sehen.

Denn es ist nicht wahr, daß der nationale Gehalt durch die hinter uns
liegende große Literaturperiode, durch die Zeit Lessings und Goethes, bereits
erschöpft sei. Es ist bekannt genug, daß die bedeutenden schaffenden Geister
jener Zeit ganze große Lebensgebiete ignorirten, denen sie durch den damaligen
Gang der Kultur entfremdet worden waren, und daß seitdem Fermente in das
Nationallcben gedrungen sind, die sich ihnen kaum erst ankündigten. Dies alles
will noch in der Literatur würdig herausgestaltet sein. Wenn Shakespeare es
sür den Zweck des Schauspiels erklärt, "der Natur gleichsam den Spiegel vor¬
zuhalten, der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild und dein
Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen," so
gilt das im weitern Sinne von der ganzen Literatur, und die Schriftsteller
unsrer Nation haben noch viel zu thun, bevor sie dies dem gegenwärtigen Ge¬
schlechte nach den in ihm liegenden Bedingungen geleistet haben. Freilich kann
man Talente nicht machen, geschweige denn Genies. Aber es fehlt anch nicht an
begabten Geistern; sie leisten nnr nicht, was sie vermöchten und sollten, weil
das Rechte nicht von ihnen gefordert und, wenn sie es bringen, nicht aufge¬
nommen wird.

Wenn man so viel von der jetzigen Übersättigung an der Literatur sprechen
hört, so muß dies Gefühl in gewissen Kreisen Wohl vorhanden sein. Woher
kommt das? Wir glauben zunächst daher, daß die klassischen Produkte unsrer
letzten großen Literaturperiode nicht mehr aussprechen, was gegenwärtig in
unserm Volke lebt und webt und uach Gestaltung verlangt; sodann von der
Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit der Erzeugnisse der jüngern Zeit. Mit
demi Vortrefflichen, Bedeutenden, womöglich Großen kann man sich lebenslang
beschäftigen, und daß dessen Anziehungskraft täglich zunimmt, wenn man sich
ihm einmal ergeben hat, erfahren wir noch in unserm vorgerückten Alter täglich
an uns selbst.




Zur Misere unsrer Literatur.

namentlich auch durch fortgesetzte Vermehrung desselben mit den gediegensten
und tüchtigsten neuern Erscheinungen, sowie durch strenge Ausschließung alles
Geringen und Schwachen, Gefährlichen und Verdrehten eine indirekte Zucht über
Schriftsteller und Verleger ausüben. Dies ist recht eine Sache, in der jeder
gleich bei sich selbst anfangen könnte und sollte, ohne sich erst mit seinem
Fleisch und Blute zu besprechen. Wie manches Zehnmarkstück wird für Ver¬
gnügen und Genüsse ausgegeben, die kaum eine Spur hinterlassen, und wie
viel edler und für dauernden Genuß könnte es verwendet werden, wenn
man es zu jenem Zwecke bestimmte! Begriffen und übten Männer von Stand
und Vermögen jene Ehrenpflicht, man würde bald die segensreichsten Früchte
davon sehen.

Denn es ist nicht wahr, daß der nationale Gehalt durch die hinter uns
liegende große Literaturperiode, durch die Zeit Lessings und Goethes, bereits
erschöpft sei. Es ist bekannt genug, daß die bedeutenden schaffenden Geister
jener Zeit ganze große Lebensgebiete ignorirten, denen sie durch den damaligen
Gang der Kultur entfremdet worden waren, und daß seitdem Fermente in das
Nationallcben gedrungen sind, die sich ihnen kaum erst ankündigten. Dies alles
will noch in der Literatur würdig herausgestaltet sein. Wenn Shakespeare es
sür den Zweck des Schauspiels erklärt, „der Natur gleichsam den Spiegel vor¬
zuhalten, der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild und dein
Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen," so
gilt das im weitern Sinne von der ganzen Literatur, und die Schriftsteller
unsrer Nation haben noch viel zu thun, bevor sie dies dem gegenwärtigen Ge¬
schlechte nach den in ihm liegenden Bedingungen geleistet haben. Freilich kann
man Talente nicht machen, geschweige denn Genies. Aber es fehlt anch nicht an
begabten Geistern; sie leisten nnr nicht, was sie vermöchten und sollten, weil
das Rechte nicht von ihnen gefordert und, wenn sie es bringen, nicht aufge¬
nommen wird.

Wenn man so viel von der jetzigen Übersättigung an der Literatur sprechen
hört, so muß dies Gefühl in gewissen Kreisen Wohl vorhanden sein. Woher
kommt das? Wir glauben zunächst daher, daß die klassischen Produkte unsrer
letzten großen Literaturperiode nicht mehr aussprechen, was gegenwärtig in
unserm Volke lebt und webt und uach Gestaltung verlangt; sodann von der
Unzulänglichkeit und Mittelmäßigkeit der Erzeugnisse der jüngern Zeit. Mit
demi Vortrefflichen, Bedeutenden, womöglich Großen kann man sich lebenslang
beschäftigen, und daß dessen Anziehungskraft täglich zunimmt, wenn man sich
ihm einmal ergeben hat, erfahren wir noch in unserm vorgerückten Alter täglich
an uns selbst.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/88>, abgerufen am 05.02.2025.