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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zum Verständnis "ut zum Schutze des ersten Faustmonologs.

dränge erfüllender Anziehung bedurft, ehe Faust mit der stärksten, sein Leben
aufs Spiel setzenden Willenskraft es wagt, durch Aussprechen des geheimnis¬
vollen Namens den Geist zum Erscheinen zu zwingen. Und dies hätte der
Dichter nicht als langes Saugen an dessen Sphäre bezeichnen dürfen? Mit
solchen kleinen Mittelchen, mit solchem überkritischen Spannen auf die Folter
sollte man den Dichter verschonen und vielmehr sich redlich bemühen, das, was
er gewollt hat, zum klaren Verständnis zu bringen. In dem Glauben, nicht
weit genug gehen zu dürfen, übersieht man das nächste. Iirtollög'Lnäo lÄvwnt,
ut M intollug'g.ut.

Scherer will nun in den beiden ersten Partien, in die er den Monolog
zerhackt hat, zur Vollendung seines Beweises auch einen verschiednen Stil auf¬
zeigen. In den erstei? 32 Versen finde sich eine kindlich undramatische Exposition,
wogegen in 33--74 alles vollkommen dramatisch sei, wahre Empfindung des
Augenblickes. Der Eingang musste aber gerade den Zustand, in welchem Faust
sich eben befand, zur Darstellung bringen; daraus folgte von selbst, daß wir hier
"überwiegend thatsächlichen Bericht empfangen," aber von dem selbst tief bewegten
Faust, wodurch auch hier lebendiges dramatisches Leben entsteht von dem ersten
"ach!" an bis zu dem seinen tiefsten Widerwillen verratenden "Und thu' nicht
mehr in Worten kramen." Dabei soll nicht geleugnet werden, es sei nicht gerade
durch den Augenblick geboten, daß Faust seines bisherigen vergeblichen Strebens
und seiner dadurch erregten Verzweiflung gedenkt; aber der Dichter war dazu
genötigt, wenn er den Übergang zur Magie begründen wollte. Freilich hätte er
den Faust gerade in dem Augenblicke einführen können, wo er allen Wissenschaften
entsagt nud sich der Magie ergiebt, aber er wollte ihn eben als schon längere
Zeit ihr ergeben und dem Augenblicke sehnlich entgegensehend darstellen, in welchem
er endlich die Beschwörung wagen könne, damit er "des Geistes Kraft und
Mund" vernehme; zu dieser sollte er rasch hingerissen werden. Der abweichende
Ton des Folgenden liegt in dem durchaus verschiednen Charakter der bewegten
Handlung begründet, nicht darin, daß der Dichter bei höherer dichterischer Aus¬
bildung diesen schwungvollen Drang nach der Verbindung mit der Geisterwelt
schrieb. Daß die innere Form des Einganges "prosaisch" sei, hat Scherer be¬
hauptet, aber nicht bewiesen; auch hier ist Faust tief bewegt, aber er mußte zum
Verständnisse seines Zustandes manches aus der Vergangenheit hereinziehen, wozu
der Anfang einer Exposition sich so häufig genötigt sieht. Aus dem verschiednen
Charakter und Tone ergab sich anch die metrische Verschiedenheit, nicht aus der
fortschreitenden Entwicklung des Dichters. Wenn nach Scherer in der zweiten
Partie "ein strengeres Gesetz im Sinne einer an den Jambus gewöhnten Kunst"
herrscht, so werden wir doch wohl nicht glauben sollen, dies sei Goethe bei
Dichtung dieser Partie, die Scherer selbst nicht vor die Leipziger Zeit zu setzen
wagt, noch nicht geläufig gewesen; hiergegen würde die einfache Verweisung auf
die Leipziger Lieder genügen. Daß Goethe zuweilen den Haussachsischen


Zum Verständnis »ut zum Schutze des ersten Faustmonologs.

dränge erfüllender Anziehung bedurft, ehe Faust mit der stärksten, sein Leben
aufs Spiel setzenden Willenskraft es wagt, durch Aussprechen des geheimnis¬
vollen Namens den Geist zum Erscheinen zu zwingen. Und dies hätte der
Dichter nicht als langes Saugen an dessen Sphäre bezeichnen dürfen? Mit
solchen kleinen Mittelchen, mit solchem überkritischen Spannen auf die Folter
sollte man den Dichter verschonen und vielmehr sich redlich bemühen, das, was
er gewollt hat, zum klaren Verständnis zu bringen. In dem Glauben, nicht
weit genug gehen zu dürfen, übersieht man das nächste. Iirtollög'Lnäo lÄvwnt,
ut M intollug'g.ut.

Scherer will nun in den beiden ersten Partien, in die er den Monolog
zerhackt hat, zur Vollendung seines Beweises auch einen verschiednen Stil auf¬
zeigen. In den erstei? 32 Versen finde sich eine kindlich undramatische Exposition,
wogegen in 33—74 alles vollkommen dramatisch sei, wahre Empfindung des
Augenblickes. Der Eingang musste aber gerade den Zustand, in welchem Faust
sich eben befand, zur Darstellung bringen; daraus folgte von selbst, daß wir hier
„überwiegend thatsächlichen Bericht empfangen," aber von dem selbst tief bewegten
Faust, wodurch auch hier lebendiges dramatisches Leben entsteht von dem ersten
„ach!" an bis zu dem seinen tiefsten Widerwillen verratenden „Und thu' nicht
mehr in Worten kramen." Dabei soll nicht geleugnet werden, es sei nicht gerade
durch den Augenblick geboten, daß Faust seines bisherigen vergeblichen Strebens
und seiner dadurch erregten Verzweiflung gedenkt; aber der Dichter war dazu
genötigt, wenn er den Übergang zur Magie begründen wollte. Freilich hätte er
den Faust gerade in dem Augenblicke einführen können, wo er allen Wissenschaften
entsagt nud sich der Magie ergiebt, aber er wollte ihn eben als schon längere
Zeit ihr ergeben und dem Augenblicke sehnlich entgegensehend darstellen, in welchem
er endlich die Beschwörung wagen könne, damit er „des Geistes Kraft und
Mund" vernehme; zu dieser sollte er rasch hingerissen werden. Der abweichende
Ton des Folgenden liegt in dem durchaus verschiednen Charakter der bewegten
Handlung begründet, nicht darin, daß der Dichter bei höherer dichterischer Aus¬
bildung diesen schwungvollen Drang nach der Verbindung mit der Geisterwelt
schrieb. Daß die innere Form des Einganges „prosaisch" sei, hat Scherer be¬
hauptet, aber nicht bewiesen; auch hier ist Faust tief bewegt, aber er mußte zum
Verständnisse seines Zustandes manches aus der Vergangenheit hereinziehen, wozu
der Anfang einer Exposition sich so häufig genötigt sieht. Aus dem verschiednen
Charakter und Tone ergab sich anch die metrische Verschiedenheit, nicht aus der
fortschreitenden Entwicklung des Dichters. Wenn nach Scherer in der zweiten
Partie „ein strengeres Gesetz im Sinne einer an den Jambus gewöhnten Kunst"
herrscht, so werden wir doch wohl nicht glauben sollen, dies sei Goethe bei
Dichtung dieser Partie, die Scherer selbst nicht vor die Leipziger Zeit zu setzen
wagt, noch nicht geläufig gewesen; hiergegen würde die einfache Verweisung auf
die Leipziger Lieder genügen. Daß Goethe zuweilen den Haussachsischen


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[0622] Zum Verständnis »ut zum Schutze des ersten Faustmonologs. dränge erfüllender Anziehung bedurft, ehe Faust mit der stärksten, sein Leben aufs Spiel setzenden Willenskraft es wagt, durch Aussprechen des geheimnis¬ vollen Namens den Geist zum Erscheinen zu zwingen. Und dies hätte der Dichter nicht als langes Saugen an dessen Sphäre bezeichnen dürfen? Mit solchen kleinen Mittelchen, mit solchem überkritischen Spannen auf die Folter sollte man den Dichter verschonen und vielmehr sich redlich bemühen, das, was er gewollt hat, zum klaren Verständnis zu bringen. In dem Glauben, nicht weit genug gehen zu dürfen, übersieht man das nächste. Iirtollög'Lnäo lÄvwnt, ut M intollug'g.ut. Scherer will nun in den beiden ersten Partien, in die er den Monolog zerhackt hat, zur Vollendung seines Beweises auch einen verschiednen Stil auf¬ zeigen. In den erstei? 32 Versen finde sich eine kindlich undramatische Exposition, wogegen in 33—74 alles vollkommen dramatisch sei, wahre Empfindung des Augenblickes. Der Eingang musste aber gerade den Zustand, in welchem Faust sich eben befand, zur Darstellung bringen; daraus folgte von selbst, daß wir hier „überwiegend thatsächlichen Bericht empfangen," aber von dem selbst tief bewegten Faust, wodurch auch hier lebendiges dramatisches Leben entsteht von dem ersten „ach!" an bis zu dem seinen tiefsten Widerwillen verratenden „Und thu' nicht mehr in Worten kramen." Dabei soll nicht geleugnet werden, es sei nicht gerade durch den Augenblick geboten, daß Faust seines bisherigen vergeblichen Strebens und seiner dadurch erregten Verzweiflung gedenkt; aber der Dichter war dazu genötigt, wenn er den Übergang zur Magie begründen wollte. Freilich hätte er den Faust gerade in dem Augenblicke einführen können, wo er allen Wissenschaften entsagt nud sich der Magie ergiebt, aber er wollte ihn eben als schon längere Zeit ihr ergeben und dem Augenblicke sehnlich entgegensehend darstellen, in welchem er endlich die Beschwörung wagen könne, damit er „des Geistes Kraft und Mund" vernehme; zu dieser sollte er rasch hingerissen werden. Der abweichende Ton des Folgenden liegt in dem durchaus verschiednen Charakter der bewegten Handlung begründet, nicht darin, daß der Dichter bei höherer dichterischer Aus¬ bildung diesen schwungvollen Drang nach der Verbindung mit der Geisterwelt schrieb. Daß die innere Form des Einganges „prosaisch" sei, hat Scherer be¬ hauptet, aber nicht bewiesen; auch hier ist Faust tief bewegt, aber er mußte zum Verständnisse seines Zustandes manches aus der Vergangenheit hereinziehen, wozu der Anfang einer Exposition sich so häufig genötigt sieht. Aus dem verschiednen Charakter und Tone ergab sich anch die metrische Verschiedenheit, nicht aus der fortschreitenden Entwicklung des Dichters. Wenn nach Scherer in der zweiten Partie „ein strengeres Gesetz im Sinne einer an den Jambus gewöhnten Kunst" herrscht, so werden wir doch wohl nicht glauben sollen, dies sei Goethe bei Dichtung dieser Partie, die Scherer selbst nicht vor die Leipziger Zeit zu setzen wagt, noch nicht geläufig gewesen; hiergegen würde die einfache Verweisung auf die Leipziger Lieder genügen. Daß Goethe zuweilen den Haussachsischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/622>, abgerufen am 05.02.2025.