Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Notizen. Die Parteien und die Gerichte. Es ist eine traurige Erscheinung in Grenzboten I. 1886. 72
Notizen. Die Parteien und die Gerichte. Es ist eine traurige Erscheinung in Grenzboten I. 1886. 72
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0577" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198001"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Notizen.</head><lb/> <div n="2"> <head> Die Parteien und die Gerichte.</head> <p xml:id="ID_1712" next="#ID_1713"> Es ist eine traurige Erscheinung in<lb/> unserm Parteileben, daß alle Fragen, mögen sie Namen haben, welche sie wollen,<lb/> dazu benutzt werden, die Parteileidenschaften aufzustacheln, im Parteiinteresse ver¬<lb/> wertet zu werden. Die letzten Reichstagsverhandlnngeu haben das wieder recht<lb/> gezeigt. Da standen eine Reihe von teils rein technisch-juristischen, teils rechts-<lb/> philosophischeu Frage» zur Beratung, und was wurde unter den Händen der Reichs-<lb/> tagsmehrheit daraus? Alles wurde benutzt, um Mißtrauen gegen die Regierung<lb/> und, was das erbärmlichste ist, gegen unsre Gerichte und ihre Unparteilichkeit zu<lb/> säen. Die Wiedereinführung der Berufung, die Entschädigung unschuldig ver¬<lb/> urteilter, der Antrag Windthorst über die Interpretation des Artikels 30 der Reichs¬<lb/> verfassung und der Zeugniszwang gegen Reichstagsabgeorduete — das sind ja alles<lb/> Fragen, die mit der Politik garnichts zu thun haben, die lediglich von juristischen<lb/> und, vielleicht auch wie die der Entschädigung unschuldig verurteilter von all¬<lb/> gemein menschlichen Gesichtspunkten ans zu entscheiden sind und entschieden werden<lb/> sollten. Was hat es mit Konservatismus oder Klerikalismus oder Liberalismus<lb/> oder wie sonst die „ismus" heißen, zu thun, ob deu Angeklagten zwei oder nnr<lb/> eine Instanz gegeben werden? Was giebt den Demokraten das Recht, die Frage<lb/> der Entschädigung unschuldig verurteilter gewissermaßen in Erbpacht zu nehmen<lb/> und sich gegen jeden, der mit Rücksicht auf eine gedeihliche Strafrechtspflege auf<lb/> die Schwierigkeiten der Lösung hinweist, zu geberden, als ob er ein Reaktionär<lb/> von der schwärzesten Farbe sei? Arbeiten nicht alle Parteien, arbeitet nicht die<lb/> Negierung in gleicher Weise, wenn auch mehr und mit Recht die praktischen Seiten<lb/> betonend, eifrig mit, um unsre Rechtszustände fortwährend zu vervollkommnen, um<lb/> unsern Staat, der jetzt schon als Rechtsstaat allen rudern Staaten zuvorgekommen<lb/> ist, immer mehr zu einem solchen zu gestalten, in dem nur das Gesetz und nicht<lb/> der Wille der Negierung, aber auch nicht der Wille einzelner Parteien (das letztere<lb/> ist noch gefährlicher) maßgebend ist? Doch das beiläufig. Es sollte hier vor allem<lb/> betont werden, wie bei der Beratung der erwähnten Fragen im Reichstage die<lb/> Regierung und unsre Gerichte behandelt worden sind. Nicht sachliche Gründe<lb/> wurden vorgetragen, sondern in erster Linie wurde die Sache von vielen Seiten<lb/> so dargestellt, als ob die Negierung und die Gerichte im Strafverfahren Hand in<lb/> Hand gingen, um die armen Angeklagten möglichst (man verzeihe deu Ausdruck)<lb/> hineinzureiten. Hat sich doch ein Sozinldemvkrat erlaubt, im Reichstage von einer<lb/> „angefressenen" Rechtspflege zu reden, und hat doch ein andrer die Behauptung<lb/> aufgestellt, die Fälle seien nicht selten, in welchen Leute im Gefängnisse gehalten<lb/> würden, um ein Geständnis von ihnen zu erpressen! Und auch andre Abgeordnete,<lb/> denen man doch mehr Einsicht zutrauen sollte, haben mehr oder weniger vorsichtig<lb/> ein ganz ähnliches Mißtrauen zur Schan getragen und ausgesprochen. Der ganze<lb/> Antrag Windthorst über die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten entspringt<lb/> einem solchen Mißtrauen. Er glaubt, die Gerichte würden sich beeinflussen lassen,<lb/> den Abgeordnete» das von diesen auf Grund des Artikels 30 neuerdings bean¬<lb/> spruchte Recht der Zeugnisverweigerung abzusprechen, und will deshalb vorbeugen.<lb/> Hätte der Abgeordnete Windthorst den Artikel 30 wirklich für so klar gehalten,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1886. 72</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0577]
Notizen.
Die Parteien und die Gerichte. Es ist eine traurige Erscheinung in
unserm Parteileben, daß alle Fragen, mögen sie Namen haben, welche sie wollen,
dazu benutzt werden, die Parteileidenschaften aufzustacheln, im Parteiinteresse ver¬
wertet zu werden. Die letzten Reichstagsverhandlnngeu haben das wieder recht
gezeigt. Da standen eine Reihe von teils rein technisch-juristischen, teils rechts-
philosophischeu Frage» zur Beratung, und was wurde unter den Händen der Reichs-
tagsmehrheit daraus? Alles wurde benutzt, um Mißtrauen gegen die Regierung
und, was das erbärmlichste ist, gegen unsre Gerichte und ihre Unparteilichkeit zu
säen. Die Wiedereinführung der Berufung, die Entschädigung unschuldig ver¬
urteilter, der Antrag Windthorst über die Interpretation des Artikels 30 der Reichs¬
verfassung und der Zeugniszwang gegen Reichstagsabgeorduete — das sind ja alles
Fragen, die mit der Politik garnichts zu thun haben, die lediglich von juristischen
und, vielleicht auch wie die der Entschädigung unschuldig verurteilter von all¬
gemein menschlichen Gesichtspunkten ans zu entscheiden sind und entschieden werden
sollten. Was hat es mit Konservatismus oder Klerikalismus oder Liberalismus
oder wie sonst die „ismus" heißen, zu thun, ob deu Angeklagten zwei oder nnr
eine Instanz gegeben werden? Was giebt den Demokraten das Recht, die Frage
der Entschädigung unschuldig verurteilter gewissermaßen in Erbpacht zu nehmen
und sich gegen jeden, der mit Rücksicht auf eine gedeihliche Strafrechtspflege auf
die Schwierigkeiten der Lösung hinweist, zu geberden, als ob er ein Reaktionär
von der schwärzesten Farbe sei? Arbeiten nicht alle Parteien, arbeitet nicht die
Negierung in gleicher Weise, wenn auch mehr und mit Recht die praktischen Seiten
betonend, eifrig mit, um unsre Rechtszustände fortwährend zu vervollkommnen, um
unsern Staat, der jetzt schon als Rechtsstaat allen rudern Staaten zuvorgekommen
ist, immer mehr zu einem solchen zu gestalten, in dem nur das Gesetz und nicht
der Wille der Negierung, aber auch nicht der Wille einzelner Parteien (das letztere
ist noch gefährlicher) maßgebend ist? Doch das beiläufig. Es sollte hier vor allem
betont werden, wie bei der Beratung der erwähnten Fragen im Reichstage die
Regierung und unsre Gerichte behandelt worden sind. Nicht sachliche Gründe
wurden vorgetragen, sondern in erster Linie wurde die Sache von vielen Seiten
so dargestellt, als ob die Negierung und die Gerichte im Strafverfahren Hand in
Hand gingen, um die armen Angeklagten möglichst (man verzeihe deu Ausdruck)
hineinzureiten. Hat sich doch ein Sozinldemvkrat erlaubt, im Reichstage von einer
„angefressenen" Rechtspflege zu reden, und hat doch ein andrer die Behauptung
aufgestellt, die Fälle seien nicht selten, in welchen Leute im Gefängnisse gehalten
würden, um ein Geständnis von ihnen zu erpressen! Und auch andre Abgeordnete,
denen man doch mehr Einsicht zutrauen sollte, haben mehr oder weniger vorsichtig
ein ganz ähnliches Mißtrauen zur Schan getragen und ausgesprochen. Der ganze
Antrag Windthorst über die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten entspringt
einem solchen Mißtrauen. Er glaubt, die Gerichte würden sich beeinflussen lassen,
den Abgeordnete» das von diesen auf Grund des Artikels 30 neuerdings bean¬
spruchte Recht der Zeugnisverweigerung abzusprechen, und will deshalb vorbeugen.
Hätte der Abgeordnete Windthorst den Artikel 30 wirklich für so klar gehalten,
Grenzboten I. 1886. 72
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |