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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Deutsche, Polen und Auch-Deutsche.

häugiger und unparteiischer Richter zu legen? Zu allgemeiner Belustigung ver¬
gleicht Herr Hausner die in eigner Sache urteilende Mehrheit eines Parlaments
mit dem Schwurgericht! Der freiwillige Pole jammert über den Rückgang der
Freiheit in Europa, und dabei scheint dem doch so belesenen Manne das Sprich¬
wort von den Gracchen, die Verschwörung wittern, garnicht in Erinnerung ge¬
kommen zu sein. Die parlamentarische Freiheit wird überall bedrängt, natürlich
dnrch die Gewalthaber, und doch sieht, wer Augen hat, wodurch das Ansehen
des Parlamentarismus wirklich untergraben wird. In England stürzt man um
einer Lappalie willen die Negierung in dem Momente einer höchst gefährlichen
Verwicklung in der europäischen Politik -- und das soll der Welt Bewunderung
vor der Majoritätswirtschaft einflößen? In Deutschland diktirt eine Koalition
der geschwornen Feinde des protestantischen Kaisertums, der natürlichen Feinde
des Deutschtums, der Anarchisten und der guten Revolutionäre die Beschlüsse
des Reichstags und bemüht sich, teils sehend, teils verblendet, die Fundamente
dieses so lang ersehnten, mit so viel Blut erkauften Reiches zu unterwühlen --
und man sollte wünschen, daß sich ein Mann wie Bismarck vor dieser Koalition
beuge, beugen müsse? In Ungarn erklärt die Opposition den Zustand der Rechts¬
pflege für heillos, verzichtet aber auf deren Besprechung (vertagt sie nicht), weil
der Justizminister leidend ist: entweder ist also das Gerede von den traurigen
Zuständen grundlos, oder die Volksvertreter verletzen ihre Pflicht aus Höflich¬
keit, als ob sie über ihre persönliche" Angelegenheiten zu verhandeln und zu
verfügen hätten. Und nun diese polnisch-tschechische Mehrheit im österreichischen
Abgeordnetenhaus^ Mit einer fast beispiellosen Offenheit (um einen parlamen¬
tarischen Ausdruck zu wählen) bekennt sie sich dazu, kraft der Mehrheit alles
ersticken und "begraben" zu wollen, was dem Reiche das Bindemittel der Staats¬
sprache gewährleisten, was der Bcdräugung des Deutschtums wehren soll, was
die Vergewaltigten, die Urtheilen, die Deutschen in der Diaspora u. s. w., in der
Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu schützen geeignet wäre. Und in
demselben Atem Freiheit und Volksrechte das dritte Wort! Mit wem rede ich
denn? könnte man mit dem Grafen Appicini fragen. Irgendwer, vielleicht auch
Herr Hausuer, behauptet kecklich, das sogenannte Flottwellsche System habe die
polnischen Aufstände von 1846/48 hervorgerufen. Dell Herren scheint alles Er¬
innerungsvermögen abhanden gekommen zu sein. Eben in diesen Februartagen
hat sich das vierte Jahrzehnt seit jener "Erhebung" vollendet, welche der
Schlacht" in Galizien so übel bekam. War es vielleicht das Flottwellsche
Shstem, welches den geknechteten Bauern die Waffen zu dem grausamsten Nache-
Iricge in die Hand drückte? War der Masure Szela, gegen dessen erbitterte
Schaaren endlich die österreichische Regierung selbst den aufrührerischen Adel in
Schutz nehmen mußte, etwa ein Germauisator? Die Herren, welche von Ver¬
kümmerung der Volksrechte reden, wissen ganz gut, daß in dem Augenblicke,
wo die Macht dieses deutschen Staates Österreich die Hand voll ihnen abzöge,


Deutsche, Polen und Auch-Deutsche.

häugiger und unparteiischer Richter zu legen? Zu allgemeiner Belustigung ver¬
gleicht Herr Hausner die in eigner Sache urteilende Mehrheit eines Parlaments
mit dem Schwurgericht! Der freiwillige Pole jammert über den Rückgang der
Freiheit in Europa, und dabei scheint dem doch so belesenen Manne das Sprich¬
wort von den Gracchen, die Verschwörung wittern, garnicht in Erinnerung ge¬
kommen zu sein. Die parlamentarische Freiheit wird überall bedrängt, natürlich
dnrch die Gewalthaber, und doch sieht, wer Augen hat, wodurch das Ansehen
des Parlamentarismus wirklich untergraben wird. In England stürzt man um
einer Lappalie willen die Negierung in dem Momente einer höchst gefährlichen
Verwicklung in der europäischen Politik — und das soll der Welt Bewunderung
vor der Majoritätswirtschaft einflößen? In Deutschland diktirt eine Koalition
der geschwornen Feinde des protestantischen Kaisertums, der natürlichen Feinde
des Deutschtums, der Anarchisten und der guten Revolutionäre die Beschlüsse
des Reichstags und bemüht sich, teils sehend, teils verblendet, die Fundamente
dieses so lang ersehnten, mit so viel Blut erkauften Reiches zu unterwühlen —
und man sollte wünschen, daß sich ein Mann wie Bismarck vor dieser Koalition
beuge, beugen müsse? In Ungarn erklärt die Opposition den Zustand der Rechts¬
pflege für heillos, verzichtet aber auf deren Besprechung (vertagt sie nicht), weil
der Justizminister leidend ist: entweder ist also das Gerede von den traurigen
Zuständen grundlos, oder die Volksvertreter verletzen ihre Pflicht aus Höflich¬
keit, als ob sie über ihre persönliche» Angelegenheiten zu verhandeln und zu
verfügen hätten. Und nun diese polnisch-tschechische Mehrheit im österreichischen
Abgeordnetenhaus^ Mit einer fast beispiellosen Offenheit (um einen parlamen¬
tarischen Ausdruck zu wählen) bekennt sie sich dazu, kraft der Mehrheit alles
ersticken und „begraben" zu wollen, was dem Reiche das Bindemittel der Staats¬
sprache gewährleisten, was der Bcdräugung des Deutschtums wehren soll, was
die Vergewaltigten, die Urtheilen, die Deutschen in der Diaspora u. s. w., in der
Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu schützen geeignet wäre. Und in
demselben Atem Freiheit und Volksrechte das dritte Wort! Mit wem rede ich
denn? könnte man mit dem Grafen Appicini fragen. Irgendwer, vielleicht auch
Herr Hausuer, behauptet kecklich, das sogenannte Flottwellsche System habe die
polnischen Aufstände von 1846/48 hervorgerufen. Dell Herren scheint alles Er¬
innerungsvermögen abhanden gekommen zu sein. Eben in diesen Februartagen
hat sich das vierte Jahrzehnt seit jener „Erhebung" vollendet, welche der
Schlacht« in Galizien so übel bekam. War es vielleicht das Flottwellsche
Shstem, welches den geknechteten Bauern die Waffen zu dem grausamsten Nache-
Iricge in die Hand drückte? War der Masure Szela, gegen dessen erbitterte
Schaaren endlich die österreichische Regierung selbst den aufrührerischen Adel in
Schutz nehmen mußte, etwa ein Germauisator? Die Herren, welche von Ver¬
kümmerung der Volksrechte reden, wissen ganz gut, daß in dem Augenblicke,
wo die Macht dieses deutschen Staates Österreich die Hand voll ihnen abzöge,


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[0432] Deutsche, Polen und Auch-Deutsche. häugiger und unparteiischer Richter zu legen? Zu allgemeiner Belustigung ver¬ gleicht Herr Hausner die in eigner Sache urteilende Mehrheit eines Parlaments mit dem Schwurgericht! Der freiwillige Pole jammert über den Rückgang der Freiheit in Europa, und dabei scheint dem doch so belesenen Manne das Sprich¬ wort von den Gracchen, die Verschwörung wittern, garnicht in Erinnerung ge¬ kommen zu sein. Die parlamentarische Freiheit wird überall bedrängt, natürlich dnrch die Gewalthaber, und doch sieht, wer Augen hat, wodurch das Ansehen des Parlamentarismus wirklich untergraben wird. In England stürzt man um einer Lappalie willen die Negierung in dem Momente einer höchst gefährlichen Verwicklung in der europäischen Politik — und das soll der Welt Bewunderung vor der Majoritätswirtschaft einflößen? In Deutschland diktirt eine Koalition der geschwornen Feinde des protestantischen Kaisertums, der natürlichen Feinde des Deutschtums, der Anarchisten und der guten Revolutionäre die Beschlüsse des Reichstags und bemüht sich, teils sehend, teils verblendet, die Fundamente dieses so lang ersehnten, mit so viel Blut erkauften Reiches zu unterwühlen — und man sollte wünschen, daß sich ein Mann wie Bismarck vor dieser Koalition beuge, beugen müsse? In Ungarn erklärt die Opposition den Zustand der Rechts¬ pflege für heillos, verzichtet aber auf deren Besprechung (vertagt sie nicht), weil der Justizminister leidend ist: entweder ist also das Gerede von den traurigen Zuständen grundlos, oder die Volksvertreter verletzen ihre Pflicht aus Höflich¬ keit, als ob sie über ihre persönliche» Angelegenheiten zu verhandeln und zu verfügen hätten. Und nun diese polnisch-tschechische Mehrheit im österreichischen Abgeordnetenhaus^ Mit einer fast beispiellosen Offenheit (um einen parlamen¬ tarischen Ausdruck zu wählen) bekennt sie sich dazu, kraft der Mehrheit alles ersticken und „begraben" zu wollen, was dem Reiche das Bindemittel der Staats¬ sprache gewährleisten, was der Bcdräugung des Deutschtums wehren soll, was die Vergewaltigten, die Urtheilen, die Deutschen in der Diaspora u. s. w., in der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu schützen geeignet wäre. Und in demselben Atem Freiheit und Volksrechte das dritte Wort! Mit wem rede ich denn? könnte man mit dem Grafen Appicini fragen. Irgendwer, vielleicht auch Herr Hausuer, behauptet kecklich, das sogenannte Flottwellsche System habe die polnischen Aufstände von 1846/48 hervorgerufen. Dell Herren scheint alles Er¬ innerungsvermögen abhanden gekommen zu sein. Eben in diesen Februartagen hat sich das vierte Jahrzehnt seit jener „Erhebung" vollendet, welche der Schlacht« in Galizien so übel bekam. War es vielleicht das Flottwellsche Shstem, welches den geknechteten Bauern die Waffen zu dem grausamsten Nache- Iricge in die Hand drückte? War der Masure Szela, gegen dessen erbitterte Schaaren endlich die österreichische Regierung selbst den aufrührerischen Adel in Schutz nehmen mußte, etwa ein Germauisator? Die Herren, welche von Ver¬ kümmerung der Volksrechte reden, wissen ganz gut, daß in dem Augenblicke, wo die Macht dieses deutschen Staates Österreich die Hand voll ihnen abzöge,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/432>, abgerufen am 05.02.2025.