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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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derner Männer das Kennzeichen der Bildung ist, wird längst über die musi¬
kalische Überproduktion, die aus jeder dritten Tochter gebildeter Eltern eine
Pianistin oder Klavierlehrerin, aus jeder Großstadt ein Pianopolis macht, ge¬
spottet. Am schweren Ernst der Sachlage ändert der wohlfeile Hohn nichts.
Wenn der Vorsteher eines der Privatkonservatvrien in Berlin kalten Blutes
ausspricht: "Wir machen jährlich tausend Musiklehrer und Lehrerinnen fertig,"
so übertreibt er vielleicht um ein paar hundert in der Zahl, aber da in. jeder
kleinen Residenz, wo sich eine Hofkapelle befindet, in jeder Stadt über fünfzig¬
tausend Einwohner ein Konservatorium, Musikinstitnt oder wie immer es sich
benennen mag, begründet wird, da alle diese Anstalten um die Wette bemüht
sind, ihre Schüler- und Schülerinnenzahl rücksichtslos, wahllos und sinnlos
ins ungemessne zu steigern, so wird der Ausfall an den jährlichen Tausend der
Reichshauptstadt von der Provinz mehr als gedeckt. Kein Mensch scheint jemals
die Frage aufzuwerfen, was aus der ganzen Masse leidlich gedrillter, aber no¬
torisch völlig talentloser Musiker und Musikerinnen werden soll, die man all¬
jährlich auf den Markt wirft. Trotz des bis ins ungeheure gesteigerten Be¬
darfes von Musikunterricht, trotz eines Dilettantismus, der schon nicht mehr
ins Kraut schießt, sondern wie die Pilze nach dem Regen wuchert, trotz der unab¬
lässigen Auswanderung deutscher Musiklehrer und Musiklehrerinnen nach allen
zweiunddreißig Strichen der Windrose, übersteigt das Angebot die Nachfrage
schon längst und schon weit. Wer mit deu Verhältnissen einigermaßen vertraut
ist, weiß, daß die entsetzlichen Inserate, in denen Klavierunterricht zum Preise
von 75 und 50 Pfennigen für die Stunde angepriesen wird, keineswegs bloß von
armen Seminaristen, von Orchestermusikern, die ihre dürftige Einnahme verbessern
wollen, sondern zum guten Teil von "konservatoristisch gebildeten," mit guten
Prüfnugszeuguisse" ausgestatteten jungen Damen und jungen Männern aus¬
gehen, die sich um jeden Preis eine Existenz schaffen müssen. Er weiß, daß
die Zahl der Musiker, welche ohne Anstellung halb bettelnd und halb darbend
von Ort zu Ort ziehen, in beständigem Wachsen ist, weiß, daß Elend viel
schlimmerer Art den weiblichen Teil der überflüssig vorhandnen Berufskünstler
in mannichfacher Gestalt bedroht. Er weiß, daß die wilde und schrankenlose
Konkurrenz der Talentlosen auch die Talentvollen schädigt, sie zum Teil auf
falsche Bahnen treibt und in die Kunstverhältnisse der Gegenwart eine wüste
und häßliche Reklamewirtschaft hineinträgt. Und er muß sich fragen, wohin
die Dinge gedeihen sollen, wenn mir noch ein Jahrzehnt in der bisherigen Weise
und mit entsprechender Progression fortgeivirtschaftet wird.

In erster Linie trifft der Vorwurf, diese Zustände herbeigeführt zu haben,
die offiziellen musikalischen Bildungsstätten, die Konservatorien der Musik. So
lange nur wenige dieser Institute existirten, so lange der Geist, der die ersten
geschaffen, aus Kuratoren und Lehrern derselbe" ruhte, war es möglich, die
Frage, die bei Kunstschulen bestimmter, schärfer, unerbittlicher aufgeworfen werden


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derner Männer das Kennzeichen der Bildung ist, wird längst über die musi¬
kalische Überproduktion, die aus jeder dritten Tochter gebildeter Eltern eine
Pianistin oder Klavierlehrerin, aus jeder Großstadt ein Pianopolis macht, ge¬
spottet. Am schweren Ernst der Sachlage ändert der wohlfeile Hohn nichts.
Wenn der Vorsteher eines der Privatkonservatvrien in Berlin kalten Blutes
ausspricht: „Wir machen jährlich tausend Musiklehrer und Lehrerinnen fertig,"
so übertreibt er vielleicht um ein paar hundert in der Zahl, aber da in. jeder
kleinen Residenz, wo sich eine Hofkapelle befindet, in jeder Stadt über fünfzig¬
tausend Einwohner ein Konservatorium, Musikinstitnt oder wie immer es sich
benennen mag, begründet wird, da alle diese Anstalten um die Wette bemüht
sind, ihre Schüler- und Schülerinnenzahl rücksichtslos, wahllos und sinnlos
ins ungemessne zu steigern, so wird der Ausfall an den jährlichen Tausend der
Reichshauptstadt von der Provinz mehr als gedeckt. Kein Mensch scheint jemals
die Frage aufzuwerfen, was aus der ganzen Masse leidlich gedrillter, aber no¬
torisch völlig talentloser Musiker und Musikerinnen werden soll, die man all¬
jährlich auf den Markt wirft. Trotz des bis ins ungeheure gesteigerten Be¬
darfes von Musikunterricht, trotz eines Dilettantismus, der schon nicht mehr
ins Kraut schießt, sondern wie die Pilze nach dem Regen wuchert, trotz der unab¬
lässigen Auswanderung deutscher Musiklehrer und Musiklehrerinnen nach allen
zweiunddreißig Strichen der Windrose, übersteigt das Angebot die Nachfrage
schon längst und schon weit. Wer mit deu Verhältnissen einigermaßen vertraut
ist, weiß, daß die entsetzlichen Inserate, in denen Klavierunterricht zum Preise
von 75 und 50 Pfennigen für die Stunde angepriesen wird, keineswegs bloß von
armen Seminaristen, von Orchestermusikern, die ihre dürftige Einnahme verbessern
wollen, sondern zum guten Teil von „konservatoristisch gebildeten," mit guten
Prüfnugszeuguisse» ausgestatteten jungen Damen und jungen Männern aus¬
gehen, die sich um jeden Preis eine Existenz schaffen müssen. Er weiß, daß
die Zahl der Musiker, welche ohne Anstellung halb bettelnd und halb darbend
von Ort zu Ort ziehen, in beständigem Wachsen ist, weiß, daß Elend viel
schlimmerer Art den weiblichen Teil der überflüssig vorhandnen Berufskünstler
in mannichfacher Gestalt bedroht. Er weiß, daß die wilde und schrankenlose
Konkurrenz der Talentlosen auch die Talentvollen schädigt, sie zum Teil auf
falsche Bahnen treibt und in die Kunstverhältnisse der Gegenwart eine wüste
und häßliche Reklamewirtschaft hineinträgt. Und er muß sich fragen, wohin
die Dinge gedeihen sollen, wenn mir noch ein Jahrzehnt in der bisherigen Weise
und mit entsprechender Progression fortgeivirtschaftet wird.

In erster Linie trifft der Vorwurf, diese Zustände herbeigeführt zu haben,
die offiziellen musikalischen Bildungsstätten, die Konservatorien der Musik. So
lange nur wenige dieser Institute existirten, so lange der Geist, der die ersten
geschaffen, aus Kuratoren und Lehrern derselbe» ruhte, war es möglich, die
Frage, die bei Kunstschulen bestimmter, schärfer, unerbittlicher aufgeworfen werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/41>, abgerufen am 05.02.2025.