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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Die Verlängerung der Giltigkeitsdauer des Sozialistengesetzes.

Lebensmittelsteuern und Monopole weiter treiben zu können, denn um diese
mit Erfolg durchzuführen, bedürfe sie der politischen Knebelung der breiten
Massen des Volkes. "Fort mit dem Ausnahmegesetz, Rückkehr zum gemeinen
Recht!"

Wenn um, wie der Fortschritt sagt, seit Jahr und Tag nnter der Herr¬
schaft des Svzialistengesetzes in Deutschland die Arbeiterbevölkerung ihre ganze
Kraft ans die Gewerkschaftsbewegung und Fabrikgesetzgebung gerichtet hat, so ist
sie an diesem erlaubten Unternehmen durch das Sozialistengcsetz eben nicht ge¬
hindert worden, und es ist nicht abzusehen, wie die Aufhebung dieses, wie wir
hören, für solche Bestrebungen ganz irrelevanten Gesetzes den vorausgesagte"
"unwiderstehlichen Aufschwung" herbeiführen sollte und wie bei seinem Fortbe¬
stande die bisher zurückgedrängte Umsturzpartei "wieder oben auf" kommen sollte;
warum nicht vielmehr im Gegenteil ans der Thatsache, daß die Bewegung diese
Richtung eingeschlagen hat, mit Recht gefolgert werden dürfe, daß das Bestehen
des Sozialistengesetzes die Bewegung vom verbrecherischen Wege ab und, soweit
möglich, auf den erlaubten gelenkt habe. Ebenso steht es aber mit der Behaup¬
tung, eine unter ein Ausnahmegesetz gestellte Bevölkerungsklasse sei stets revo-
lutiouür gesinnt. Nicht eine Bcvölkerungsklasse, die Arbeiterklasse, ist dnrch das
Svzinlistcngesctz unter Ausnahmebestimmungen gestellt, sondern nur derjenige
Teil derselben, welcher den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung bezweckt, d. h. diejenigen Individuen, mögen sie der Arbeiterklasse oder
einer sonstigen Gesellschaftsklasse angehören, welche dnrch Mord und Brand eine
Änderung der bestehenden Zustünde herbeiführen wollen.

Alle solche Einwendungen sind also faule Fische gerade wie der "politische
Knebel," welcher der Regierung angeblich dazu dienen soll, ihre Politik der
Lebensmittelftencrn und Monopole durchzuführen. Wo steckt denn der politische
Knebel? Können die Herren nicht schreiben und reden, was sie wollen, solange sie
nicht geradezu zum frischen, fröhlichen Mord auffordern? Besteht nicht das
freie Vereinigungsrccht, solange es nicht zu Umsturzbestrebungcn mißbraucht
wird? Sind nicht auch unter dem Svzialisteugcsctzc die Versammlungen zum
Zwecke einer abgeschriebenen Wahl zum Reichstage oder zur Landesvertretung
von der polizeilichen Genehmigung selbst bei verhängtem kleinem Belagerungs¬
zustände befreit? Können die Mitglieder des Reichstages und der Lcmdcs-
vertretungen nicht ungestraft die Gegner in jeder ihnen zusagenden Weise be¬
leidigen und verleumden?

Aber sehen wir uns weiter die Schlagworte vom Ausnahmegesetz und
von der Rückkehr zum gemeinen Recht an. Ein Gesetz ist ein Erzeugnis des
nationalen NeckMbewnßtseinS eines Volkes. Es wird hervorgerufen dnrch das
Bedürfnis desselben, eine bestimmte Frage allgemein giltig zu regeln und durch
die gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der
hierzu vorgeschlagenen Mittel. Treten im Leben eines Volkes Ausnahme-


Die Verlängerung der Giltigkeitsdauer des Sozialistengesetzes.

Lebensmittelsteuern und Monopole weiter treiben zu können, denn um diese
mit Erfolg durchzuführen, bedürfe sie der politischen Knebelung der breiten
Massen des Volkes. „Fort mit dem Ausnahmegesetz, Rückkehr zum gemeinen
Recht!"

Wenn um, wie der Fortschritt sagt, seit Jahr und Tag nnter der Herr¬
schaft des Svzialistengesetzes in Deutschland die Arbeiterbevölkerung ihre ganze
Kraft ans die Gewerkschaftsbewegung und Fabrikgesetzgebung gerichtet hat, so ist
sie an diesem erlaubten Unternehmen durch das Sozialistengcsetz eben nicht ge¬
hindert worden, und es ist nicht abzusehen, wie die Aufhebung dieses, wie wir
hören, für solche Bestrebungen ganz irrelevanten Gesetzes den vorausgesagte»
„unwiderstehlichen Aufschwung" herbeiführen sollte und wie bei seinem Fortbe¬
stande die bisher zurückgedrängte Umsturzpartei „wieder oben auf" kommen sollte;
warum nicht vielmehr im Gegenteil ans der Thatsache, daß die Bewegung diese
Richtung eingeschlagen hat, mit Recht gefolgert werden dürfe, daß das Bestehen
des Sozialistengesetzes die Bewegung vom verbrecherischen Wege ab und, soweit
möglich, auf den erlaubten gelenkt habe. Ebenso steht es aber mit der Behaup¬
tung, eine unter ein Ausnahmegesetz gestellte Bevölkerungsklasse sei stets revo-
lutiouür gesinnt. Nicht eine Bcvölkerungsklasse, die Arbeiterklasse, ist dnrch das
Svzinlistcngesctz unter Ausnahmebestimmungen gestellt, sondern nur derjenige
Teil derselben, welcher den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung bezweckt, d. h. diejenigen Individuen, mögen sie der Arbeiterklasse oder
einer sonstigen Gesellschaftsklasse angehören, welche dnrch Mord und Brand eine
Änderung der bestehenden Zustünde herbeiführen wollen.

Alle solche Einwendungen sind also faule Fische gerade wie der „politische
Knebel," welcher der Regierung angeblich dazu dienen soll, ihre Politik der
Lebensmittelftencrn und Monopole durchzuführen. Wo steckt denn der politische
Knebel? Können die Herren nicht schreiben und reden, was sie wollen, solange sie
nicht geradezu zum frischen, fröhlichen Mord auffordern? Besteht nicht das
freie Vereinigungsrccht, solange es nicht zu Umsturzbestrebungcn mißbraucht
wird? Sind nicht auch unter dem Svzialisteugcsctzc die Versammlungen zum
Zwecke einer abgeschriebenen Wahl zum Reichstage oder zur Landesvertretung
von der polizeilichen Genehmigung selbst bei verhängtem kleinem Belagerungs¬
zustände befreit? Können die Mitglieder des Reichstages und der Lcmdcs-
vertretungen nicht ungestraft die Gegner in jeder ihnen zusagenden Weise be¬
leidigen und verleumden?

Aber sehen wir uns weiter die Schlagworte vom Ausnahmegesetz und
von der Rückkehr zum gemeinen Recht an. Ein Gesetz ist ein Erzeugnis des
nationalen NeckMbewnßtseinS eines Volkes. Es wird hervorgerufen dnrch das
Bedürfnis desselben, eine bestimmte Frage allgemein giltig zu regeln und durch
die gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der
hierzu vorgeschlagenen Mittel. Treten im Leben eines Volkes Ausnahme-


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[0395] Die Verlängerung der Giltigkeitsdauer des Sozialistengesetzes. Lebensmittelsteuern und Monopole weiter treiben zu können, denn um diese mit Erfolg durchzuführen, bedürfe sie der politischen Knebelung der breiten Massen des Volkes. „Fort mit dem Ausnahmegesetz, Rückkehr zum gemeinen Recht!" Wenn um, wie der Fortschritt sagt, seit Jahr und Tag nnter der Herr¬ schaft des Svzialistengesetzes in Deutschland die Arbeiterbevölkerung ihre ganze Kraft ans die Gewerkschaftsbewegung und Fabrikgesetzgebung gerichtet hat, so ist sie an diesem erlaubten Unternehmen durch das Sozialistengcsetz eben nicht ge¬ hindert worden, und es ist nicht abzusehen, wie die Aufhebung dieses, wie wir hören, für solche Bestrebungen ganz irrelevanten Gesetzes den vorausgesagte» „unwiderstehlichen Aufschwung" herbeiführen sollte und wie bei seinem Fortbe¬ stande die bisher zurückgedrängte Umsturzpartei „wieder oben auf" kommen sollte; warum nicht vielmehr im Gegenteil ans der Thatsache, daß die Bewegung diese Richtung eingeschlagen hat, mit Recht gefolgert werden dürfe, daß das Bestehen des Sozialistengesetzes die Bewegung vom verbrecherischen Wege ab und, soweit möglich, auf den erlaubten gelenkt habe. Ebenso steht es aber mit der Behaup¬ tung, eine unter ein Ausnahmegesetz gestellte Bevölkerungsklasse sei stets revo- lutiouür gesinnt. Nicht eine Bcvölkerungsklasse, die Arbeiterklasse, ist dnrch das Svzinlistcngesctz unter Ausnahmebestimmungen gestellt, sondern nur derjenige Teil derselben, welcher den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬ ordnung bezweckt, d. h. diejenigen Individuen, mögen sie der Arbeiterklasse oder einer sonstigen Gesellschaftsklasse angehören, welche dnrch Mord und Brand eine Änderung der bestehenden Zustünde herbeiführen wollen. Alle solche Einwendungen sind also faule Fische gerade wie der „politische Knebel," welcher der Regierung angeblich dazu dienen soll, ihre Politik der Lebensmittelftencrn und Monopole durchzuführen. Wo steckt denn der politische Knebel? Können die Herren nicht schreiben und reden, was sie wollen, solange sie nicht geradezu zum frischen, fröhlichen Mord auffordern? Besteht nicht das freie Vereinigungsrccht, solange es nicht zu Umsturzbestrebungcn mißbraucht wird? Sind nicht auch unter dem Svzialisteugcsctzc die Versammlungen zum Zwecke einer abgeschriebenen Wahl zum Reichstage oder zur Landesvertretung von der polizeilichen Genehmigung selbst bei verhängtem kleinem Belagerungs¬ zustände befreit? Können die Mitglieder des Reichstages und der Lcmdcs- vertretungen nicht ungestraft die Gegner in jeder ihnen zusagenden Weise be¬ leidigen und verleumden? Aber sehen wir uns weiter die Schlagworte vom Ausnahmegesetz und von der Rückkehr zum gemeinen Recht an. Ein Gesetz ist ein Erzeugnis des nationalen NeckMbewnßtseinS eines Volkes. Es wird hervorgerufen dnrch das Bedürfnis desselben, eine bestimmte Frage allgemein giltig zu regeln und durch die gemeinsame Überzeugung von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der hierzu vorgeschlagenen Mittel. Treten im Leben eines Volkes Ausnahme-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/395>, abgerufen am 05.02.2025.