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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Heinrich Steinhaufen,

weil ihr zum Nachweis der Gesetzmäßigkeit in allem Geschehen ihrer nicht braucht?
Die Bedeutung eines Buchstabens ist nicht erkannt mit der Gesetzmäßigkeit der
Muskelbewegung in den Fingern, die ihn schreiben; der Sinn eines Wortes
uicht erschlossen mit der Erkenntnis der Sprachwerkzeuge und ihrer Thätigkeiten,
durch die es hervorgebracht wird. Aber dem verstehenden Geiste ist Sinn und
Bedeutung von Anfang an klar. So mögt ihr, wie ihr euch schmeichelt, endlich
dahin gelangen, aus einer Formel alles Geschehene der daseienden Welt abzu¬
leiten; damit seid ihr ihrem Verständnis noch keinen Schritt näher gekommen,
und kein rechtmäßiger Schluß eurer Wissenschaft, sondern ein Entschluß euers
Gewissens entscheidet darüber, ob ihr im Unglauben (der auch ein verzerrter
Glaube ist) allen Sinn der Welt leugnen und verzweifeln, oder ihr denjenigen
andichten wollt, den euch des Herzens Dünkel empfiehlt. Wir aber warten nicht,
um unsre Stellung zu nehmen, auf das Ergebnis eurer Forschung, sind auch
nicht in Sorge darum; uns hat die Welt eine" Sinn, das Schicksal und das
Menschenleben auch, einen unergründlichen, beseligenden. Ihn auszudrücken ist
alles geschaffen, und endlich wird er rein und unentstellt hervorleuchten: das
hoffen wir, und darum glauben wir an Gott." Mit dieser Auslassung vertritt
Steinhausen im Grunde nur den kantischen Standpunkt, und damit stimmt auch
Lotzes Philosophie, gewiß die mit den Resultaten der Naturwissenschaften ver¬
trauteste, überein.

Aber eben darum, weil der Autor in seinem "Schattenspiel" einen so
großen und wissenschaftlich unanfechtbaren Standpunkt einnimmt, machen sich
die poetischen Schwächen desselben umso fühlbarer. Es ziemt dem vornehmen
Denker, auch vornehm als Mensch zu sein. Indem aber Steinhausen in den
zwei Gestalten, welche die entgegengesetzten theoretischen Ideen vertreten, keine
realen Menschen, sondern sozusagen einen Engel und einen Teufel gegenüber¬
stellte, auf das Haupt des armen Korrektors Ludwig Zirbel alles erdenkliche
Licht, auf das des Doktors Gatten alle möglichen Schlechtigkeiten vereinigte,
verdarb er es mit dem Geiste der Poesie, welche immer hinter den Theoremen
die Menschlichkeit, hinter den Doktrinen die Charaktere sucht. Schließlich hat
sich Steinhausen noch den grimmigen Scherz gemacht, den Atheisten zu Kreuze
kriechen zu lassen, zum Gebet niederzudrücken. Damit ist er jedoch in das alte,
längst verlassene Geleise der Tendenzpoesie hineingeraten, worunter die zahl¬
reichen hübschen Szenen, die mitlaufen, notwendig leiden mußten.

Die Handlung ist auch diesmal ganz einfach. Korrektor Zirbel und der
Medizinac Doktor Gatten waren einst Jugendfreunde, bis entgegengesetzte An¬
schauungen sie auseinanderbrachtcn: Zirbel, Philologe und Philosoph, auch dich¬
terisch angelegt, verblieb in Armut, Gatten wußte sich durch seine materialistischen
Schriften und weltmännische Manieren reich zu machen, nachdem er ein Mädchen,
welches auch Zirbel geliebt, verführt und mit dem Kinde sitzen gelassen hatte.
Zirbel rettet beide, als die verzweifelte Mutter ins Wasser springt, holt sich


Heinrich Steinhaufen,

weil ihr zum Nachweis der Gesetzmäßigkeit in allem Geschehen ihrer nicht braucht?
Die Bedeutung eines Buchstabens ist nicht erkannt mit der Gesetzmäßigkeit der
Muskelbewegung in den Fingern, die ihn schreiben; der Sinn eines Wortes
uicht erschlossen mit der Erkenntnis der Sprachwerkzeuge und ihrer Thätigkeiten,
durch die es hervorgebracht wird. Aber dem verstehenden Geiste ist Sinn und
Bedeutung von Anfang an klar. So mögt ihr, wie ihr euch schmeichelt, endlich
dahin gelangen, aus einer Formel alles Geschehene der daseienden Welt abzu¬
leiten; damit seid ihr ihrem Verständnis noch keinen Schritt näher gekommen,
und kein rechtmäßiger Schluß eurer Wissenschaft, sondern ein Entschluß euers
Gewissens entscheidet darüber, ob ihr im Unglauben (der auch ein verzerrter
Glaube ist) allen Sinn der Welt leugnen und verzweifeln, oder ihr denjenigen
andichten wollt, den euch des Herzens Dünkel empfiehlt. Wir aber warten nicht,
um unsre Stellung zu nehmen, auf das Ergebnis eurer Forschung, sind auch
nicht in Sorge darum; uns hat die Welt eine» Sinn, das Schicksal und das
Menschenleben auch, einen unergründlichen, beseligenden. Ihn auszudrücken ist
alles geschaffen, und endlich wird er rein und unentstellt hervorleuchten: das
hoffen wir, und darum glauben wir an Gott." Mit dieser Auslassung vertritt
Steinhausen im Grunde nur den kantischen Standpunkt, und damit stimmt auch
Lotzes Philosophie, gewiß die mit den Resultaten der Naturwissenschaften ver¬
trauteste, überein.

Aber eben darum, weil der Autor in seinem „Schattenspiel" einen so
großen und wissenschaftlich unanfechtbaren Standpunkt einnimmt, machen sich
die poetischen Schwächen desselben umso fühlbarer. Es ziemt dem vornehmen
Denker, auch vornehm als Mensch zu sein. Indem aber Steinhausen in den
zwei Gestalten, welche die entgegengesetzten theoretischen Ideen vertreten, keine
realen Menschen, sondern sozusagen einen Engel und einen Teufel gegenüber¬
stellte, auf das Haupt des armen Korrektors Ludwig Zirbel alles erdenkliche
Licht, auf das des Doktors Gatten alle möglichen Schlechtigkeiten vereinigte,
verdarb er es mit dem Geiste der Poesie, welche immer hinter den Theoremen
die Menschlichkeit, hinter den Doktrinen die Charaktere sucht. Schließlich hat
sich Steinhausen noch den grimmigen Scherz gemacht, den Atheisten zu Kreuze
kriechen zu lassen, zum Gebet niederzudrücken. Damit ist er jedoch in das alte,
längst verlassene Geleise der Tendenzpoesie hineingeraten, worunter die zahl¬
reichen hübschen Szenen, die mitlaufen, notwendig leiden mußten.

Die Handlung ist auch diesmal ganz einfach. Korrektor Zirbel und der
Medizinac Doktor Gatten waren einst Jugendfreunde, bis entgegengesetzte An¬
schauungen sie auseinanderbrachtcn: Zirbel, Philologe und Philosoph, auch dich¬
terisch angelegt, verblieb in Armut, Gatten wußte sich durch seine materialistischen
Schriften und weltmännische Manieren reich zu machen, nachdem er ein Mädchen,
welches auch Zirbel geliebt, verführt und mit dem Kinde sitzen gelassen hatte.
Zirbel rettet beide, als die verzweifelte Mutter ins Wasser springt, holt sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/38>, abgerufen am 05.02.2025.