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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Die Krisis am Balkan und in England.

bloße Drohungen und haben bis jetzt nur zwei Resultate gehabt: große Aus¬
gaben für die Türkei, die den Griechen nichts zu Leide gethan hat, und in
Europa die Befürchtung, daß ein Funke griechischen Feuers, das an sich ziemlich
harmlos wäre, in sein Pulvermagazin fliegen könnte. Es ist hohe Zeit, diese
Sorge zu beseitigen und der Pforte die Last der Erhaltung des ungeheuern
Heeres abzunehmen, das sie in Macedonien sammeln mußte. Man hat das
bisherige englische Kabinet mit Unrecht im Verdacht gehabt, die Haltung Griechen¬
lands zu begünstigen. "Alle diese Ansprüche, sagte Lord Salisbury, besonders
die griechischen, auf Kosten der Türkei wegen einer Veränderung entschädigt zu
werden, die sie nicht veranlaßte und nicht gerade willkommen hieß, sind ein
Versuch, dem Völkerrechte einen Zusatz zu geben, wie er mir so außerordentlich
noch nicht vorgekommen ist. . . . Soweit als der Einfluß Englands reicht, so¬
lange er unsern Händen anvertraut ist, wird er benutzt werden, um jeden frevel¬
haften Friedensbruch im Osten zu Zwecken und auf Vorwünde hin, welche das
Gewissen der Menschheit nicht rechtfertigen kann, zu verhüten." Das war
deutlich und kräftig gesprochen, und den Worten folgte die That, der Befehl
an die englischen Kriegsschiffe im Mittelmeere, einen Angriff der Pforte durch
die griechische Flotte, der an der Küste Kretas drohte, zu verhindern. Durch
welche weitern Maßregeln die Negierung in Athen dahin gebracht werden kann,
Ruhe zu halten, brauchen wir nicht zu untersuchen. Es könnten unter Um¬
ständen Ereignisse sich wiederholen, wie die des Jahres 1854. Die Mächte
besitzen hinreichende Mittel, um zu bewirken, daß ihrer Stimme Gehör gegeben
wird, und um ihre Macht fühlbar zu machen. Es liegt nicht in ihrem Inter¬
esse, der Pforte zu überlassen, daß Ruhe und Sicherheit wiederhergestellt werden,
sonst würde diese bald mit der Armee der Hellenen aufräumen und in wenigen
Wochen ihre Tabors in Athen einziehen sehen. An der griechischen Nordgrenze,
zwischen dem Golfe von Area und dem Olymp stehen gegen 60 000 Mann
türkischer Truppen, an der Westgrenze Bulgariens etwa 30000, in Albanien
etwa 70000 Mann, wozu noch eine bei Salonik konzentrirte Reserve und zwei
bei Adrianopel zusammengezogne Korps kommen, sodaß die Pforte gegen die
Griechen mindestens 180000 Manu marschieren lassen könnte. Diese Truppen
haben in tzassan Pascha einen tüchtigen Führer und sind großenteils wohl¬
geübt und gut bewaffnet. Das griechische Heer soll gegenwärtig etwa 50000
Manu zählen und auf 75000 gebracht werden können, nach ander" Berichten
auf 83 000. Die Mobilisirung ging glatter von statten, als man erwartet
hatte, doch nicht ohne alle Widersetzlichkeit; denn bei dem größten Teile der
Bevölkerung, besonders ans dem Lande, herrscht nicht die geringste Begeisterung
für den Krieg und entschiedne Abneigung gegen den Soldatenstcmo. Der
"Volkswille," welcher angeblich den König zum Kampfe drängt, wohnt nur in
Athen und einigen andern Städten und hieße richtiger Wille der Demagogen,
die nichts zu verlieren haben und sich auf billige Weise den Ruf von Patrioten


Die Krisis am Balkan und in England.

bloße Drohungen und haben bis jetzt nur zwei Resultate gehabt: große Aus¬
gaben für die Türkei, die den Griechen nichts zu Leide gethan hat, und in
Europa die Befürchtung, daß ein Funke griechischen Feuers, das an sich ziemlich
harmlos wäre, in sein Pulvermagazin fliegen könnte. Es ist hohe Zeit, diese
Sorge zu beseitigen und der Pforte die Last der Erhaltung des ungeheuern
Heeres abzunehmen, das sie in Macedonien sammeln mußte. Man hat das
bisherige englische Kabinet mit Unrecht im Verdacht gehabt, die Haltung Griechen¬
lands zu begünstigen. „Alle diese Ansprüche, sagte Lord Salisbury, besonders
die griechischen, auf Kosten der Türkei wegen einer Veränderung entschädigt zu
werden, die sie nicht veranlaßte und nicht gerade willkommen hieß, sind ein
Versuch, dem Völkerrechte einen Zusatz zu geben, wie er mir so außerordentlich
noch nicht vorgekommen ist. . . . Soweit als der Einfluß Englands reicht, so¬
lange er unsern Händen anvertraut ist, wird er benutzt werden, um jeden frevel¬
haften Friedensbruch im Osten zu Zwecken und auf Vorwünde hin, welche das
Gewissen der Menschheit nicht rechtfertigen kann, zu verhüten." Das war
deutlich und kräftig gesprochen, und den Worten folgte die That, der Befehl
an die englischen Kriegsschiffe im Mittelmeere, einen Angriff der Pforte durch
die griechische Flotte, der an der Küste Kretas drohte, zu verhindern. Durch
welche weitern Maßregeln die Negierung in Athen dahin gebracht werden kann,
Ruhe zu halten, brauchen wir nicht zu untersuchen. Es könnten unter Um¬
ständen Ereignisse sich wiederholen, wie die des Jahres 1854. Die Mächte
besitzen hinreichende Mittel, um zu bewirken, daß ihrer Stimme Gehör gegeben
wird, und um ihre Macht fühlbar zu machen. Es liegt nicht in ihrem Inter¬
esse, der Pforte zu überlassen, daß Ruhe und Sicherheit wiederhergestellt werden,
sonst würde diese bald mit der Armee der Hellenen aufräumen und in wenigen
Wochen ihre Tabors in Athen einziehen sehen. An der griechischen Nordgrenze,
zwischen dem Golfe von Area und dem Olymp stehen gegen 60 000 Mann
türkischer Truppen, an der Westgrenze Bulgariens etwa 30000, in Albanien
etwa 70000 Mann, wozu noch eine bei Salonik konzentrirte Reserve und zwei
bei Adrianopel zusammengezogne Korps kommen, sodaß die Pforte gegen die
Griechen mindestens 180000 Manu marschieren lassen könnte. Diese Truppen
haben in tzassan Pascha einen tüchtigen Führer und sind großenteils wohl¬
geübt und gut bewaffnet. Das griechische Heer soll gegenwärtig etwa 50000
Manu zählen und auf 75000 gebracht werden können, nach ander» Berichten
auf 83 000. Die Mobilisirung ging glatter von statten, als man erwartet
hatte, doch nicht ohne alle Widersetzlichkeit; denn bei dem größten Teile der
Bevölkerung, besonders ans dem Lande, herrscht nicht die geringste Begeisterung
für den Krieg und entschiedne Abneigung gegen den Soldatenstcmo. Der
„Volkswille," welcher angeblich den König zum Kampfe drängt, wohnt nur in
Athen und einigen andern Städten und hieße richtiger Wille der Demagogen,
die nichts zu verlieren haben und sich auf billige Weise den Ruf von Patrioten


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[0331] Die Krisis am Balkan und in England. bloße Drohungen und haben bis jetzt nur zwei Resultate gehabt: große Aus¬ gaben für die Türkei, die den Griechen nichts zu Leide gethan hat, und in Europa die Befürchtung, daß ein Funke griechischen Feuers, das an sich ziemlich harmlos wäre, in sein Pulvermagazin fliegen könnte. Es ist hohe Zeit, diese Sorge zu beseitigen und der Pforte die Last der Erhaltung des ungeheuern Heeres abzunehmen, das sie in Macedonien sammeln mußte. Man hat das bisherige englische Kabinet mit Unrecht im Verdacht gehabt, die Haltung Griechen¬ lands zu begünstigen. „Alle diese Ansprüche, sagte Lord Salisbury, besonders die griechischen, auf Kosten der Türkei wegen einer Veränderung entschädigt zu werden, die sie nicht veranlaßte und nicht gerade willkommen hieß, sind ein Versuch, dem Völkerrechte einen Zusatz zu geben, wie er mir so außerordentlich noch nicht vorgekommen ist. . . . Soweit als der Einfluß Englands reicht, so¬ lange er unsern Händen anvertraut ist, wird er benutzt werden, um jeden frevel¬ haften Friedensbruch im Osten zu Zwecken und auf Vorwünde hin, welche das Gewissen der Menschheit nicht rechtfertigen kann, zu verhüten." Das war deutlich und kräftig gesprochen, und den Worten folgte die That, der Befehl an die englischen Kriegsschiffe im Mittelmeere, einen Angriff der Pforte durch die griechische Flotte, der an der Küste Kretas drohte, zu verhindern. Durch welche weitern Maßregeln die Negierung in Athen dahin gebracht werden kann, Ruhe zu halten, brauchen wir nicht zu untersuchen. Es könnten unter Um¬ ständen Ereignisse sich wiederholen, wie die des Jahres 1854. Die Mächte besitzen hinreichende Mittel, um zu bewirken, daß ihrer Stimme Gehör gegeben wird, und um ihre Macht fühlbar zu machen. Es liegt nicht in ihrem Inter¬ esse, der Pforte zu überlassen, daß Ruhe und Sicherheit wiederhergestellt werden, sonst würde diese bald mit der Armee der Hellenen aufräumen und in wenigen Wochen ihre Tabors in Athen einziehen sehen. An der griechischen Nordgrenze, zwischen dem Golfe von Area und dem Olymp stehen gegen 60 000 Mann türkischer Truppen, an der Westgrenze Bulgariens etwa 30000, in Albanien etwa 70000 Mann, wozu noch eine bei Salonik konzentrirte Reserve und zwei bei Adrianopel zusammengezogne Korps kommen, sodaß die Pforte gegen die Griechen mindestens 180000 Manu marschieren lassen könnte. Diese Truppen haben in tzassan Pascha einen tüchtigen Führer und sind großenteils wohl¬ geübt und gut bewaffnet. Das griechische Heer soll gegenwärtig etwa 50000 Manu zählen und auf 75000 gebracht werden können, nach ander» Berichten auf 83 000. Die Mobilisirung ging glatter von statten, als man erwartet hatte, doch nicht ohne alle Widersetzlichkeit; denn bei dem größten Teile der Bevölkerung, besonders ans dem Lande, herrscht nicht die geringste Begeisterung für den Krieg und entschiedne Abneigung gegen den Soldatenstcmo. Der „Volkswille," welcher angeblich den König zum Kampfe drängt, wohnt nur in Athen und einigen andern Städten und hieße richtiger Wille der Demagogen, die nichts zu verlieren haben und sich auf billige Weise den Ruf von Patrioten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/331>, abgerufen am 05.02.2025.