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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Nicht der aus dem Schutt der Zeiten
Wühle mehr Erbärmlichkeiten,
Sondern der den Plunder flehte
Und zum Bau die Steine schichte.

Nicht das Eiuzlc unterdrückend,
Noch damit willkürlich schmückend,
Sondern in des Eiuzlen Hülle
Legend allgemeine Fülle.
Der gelesen alles habe
Und besitze Dichtergabe,
Klar zu schildern mir das Wesen,
Der ich nicht ein Wort gelesen.

In ähnlichem Sinne sprach sich unlängst ein namhafter Historiker unsrer
Zeit (H. Baumgarten in der Vorrede zur "Geschichte Karls V.") ans, wenn
er sagte: "Wir sind, wie mir scheint, allmählich mit unsrer historischen Gelehr¬
samkeit dahin gelangt, daß wir in der Hauptsache nnr für unsre Fachgenossen,
und zwar für eine mit jedem Jahre sich mindernde Zahl derselben, arbeiten.
Denn die Detailforschung ist so angeschwollen, daß das Gebiet, welches der
einzelne Historiker wirklich zu beherrschen vermag, immer enger wird. Nun
dürfte es doch aber unbestreitbar sein, daß die Geschichte nicht eigentlich die
Aufgabe hat, die Historiker zu belehren, daß eine Forschung, welche nicht
schließlich zu dem Ergebnisse führt, die nationale oder die allgemeine Bildung
zu fördern, daß namentlich die geschichtliche Forschung, welche ans dieses Ziel
verzichtet, sich in falschen Bahnen bewegt. Auch der penibelste Spezialist wird
nicht in Abrede stellen können, daß Quellenpublilatiouen nicht um ihrer selbst
willen erfolgen, monographische Untersuchungen uicht darin ihren höchsten Zweck
haben sollten, irgend ein Detail aufzuklären, sondern durch diese Aufklärung den
Zusammenhang der historischen Entwicklung zu erhellen. Wenn die umfassenden
Publikationen, die scharfsinnigsten Forschungen Dezennien hindurch so gut wie
unbenutzt daliegen, wenn sie schließlich durch ihre Massenhaftigkeit sogar sür
den Historiker unerreichbar werden, der sich nicht in die Enge einiger Dezennien
einsperren mag, so ist das für das wirkliche historische Wissen wenig förderlich.
Sie ins Grenzenlose zu vermehren, ohne den Versuch, die historische Summe
aus diesen kostbaren Materialien zu ziehen, ist ein Unterfangen, das mit dein
wahren Sinne wissenschaftlicher Forschung im Widerspruche steht."

Die Geschichte ist der breite Untergrund für alle Geisteswissenschaften; umso
notwendiger ist es, für die Historiographie selbst feste Grenzlinien zu ziehen
und bestimmte Gesichtspunkte einzuhalten, damit sie nicht unter der Masse des
Details ziellos nach verschiednen Seiten auseinanderfahre. Ja das Verfahren,
das durch Sammlung und kritische Sichtung zur klaren Erkenntnis der Wahrheit
aufzustreben sich bemüht, ist berechtigt und löblich und fördert Einsicht und
Wissen. Aber Forschen und Sammeln sind nur Wege und Hilfsmittel, sind



Nicht der aus dem Schutt der Zeiten
Wühle mehr Erbärmlichkeiten,
Sondern der den Plunder flehte
Und zum Bau die Steine schichte.

Nicht das Eiuzlc unterdrückend,
Noch damit willkürlich schmückend,
Sondern in des Eiuzlen Hülle
Legend allgemeine Fülle.
Der gelesen alles habe
Und besitze Dichtergabe,
Klar zu schildern mir das Wesen,
Der ich nicht ein Wort gelesen.

In ähnlichem Sinne sprach sich unlängst ein namhafter Historiker unsrer
Zeit (H. Baumgarten in der Vorrede zur „Geschichte Karls V.") ans, wenn
er sagte: „Wir sind, wie mir scheint, allmählich mit unsrer historischen Gelehr¬
samkeit dahin gelangt, daß wir in der Hauptsache nnr für unsre Fachgenossen,
und zwar für eine mit jedem Jahre sich mindernde Zahl derselben, arbeiten.
Denn die Detailforschung ist so angeschwollen, daß das Gebiet, welches der
einzelne Historiker wirklich zu beherrschen vermag, immer enger wird. Nun
dürfte es doch aber unbestreitbar sein, daß die Geschichte nicht eigentlich die
Aufgabe hat, die Historiker zu belehren, daß eine Forschung, welche nicht
schließlich zu dem Ergebnisse führt, die nationale oder die allgemeine Bildung
zu fördern, daß namentlich die geschichtliche Forschung, welche ans dieses Ziel
verzichtet, sich in falschen Bahnen bewegt. Auch der penibelste Spezialist wird
nicht in Abrede stellen können, daß Quellenpublilatiouen nicht um ihrer selbst
willen erfolgen, monographische Untersuchungen uicht darin ihren höchsten Zweck
haben sollten, irgend ein Detail aufzuklären, sondern durch diese Aufklärung den
Zusammenhang der historischen Entwicklung zu erhellen. Wenn die umfassenden
Publikationen, die scharfsinnigsten Forschungen Dezennien hindurch so gut wie
unbenutzt daliegen, wenn sie schließlich durch ihre Massenhaftigkeit sogar sür
den Historiker unerreichbar werden, der sich nicht in die Enge einiger Dezennien
einsperren mag, so ist das für das wirkliche historische Wissen wenig förderlich.
Sie ins Grenzenlose zu vermehren, ohne den Versuch, die historische Summe
aus diesen kostbaren Materialien zu ziehen, ist ein Unterfangen, das mit dein
wahren Sinne wissenschaftlicher Forschung im Widerspruche steht."

Die Geschichte ist der breite Untergrund für alle Geisteswissenschaften; umso
notwendiger ist es, für die Historiographie selbst feste Grenzlinien zu ziehen
und bestimmte Gesichtspunkte einzuhalten, damit sie nicht unter der Masse des
Details ziellos nach verschiednen Seiten auseinanderfahre. Ja das Verfahren,
das durch Sammlung und kritische Sichtung zur klaren Erkenntnis der Wahrheit
aufzustreben sich bemüht, ist berechtigt und löblich und fördert Einsicht und
Wissen. Aber Forschen und Sammeln sind nur Wege und Hilfsmittel, sind


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[0315] Nicht der aus dem Schutt der Zeiten Wühle mehr Erbärmlichkeiten, Sondern der den Plunder flehte Und zum Bau die Steine schichte. Nicht das Eiuzlc unterdrückend, Noch damit willkürlich schmückend, Sondern in des Eiuzlen Hülle Legend allgemeine Fülle. Der gelesen alles habe Und besitze Dichtergabe, Klar zu schildern mir das Wesen, Der ich nicht ein Wort gelesen. In ähnlichem Sinne sprach sich unlängst ein namhafter Historiker unsrer Zeit (H. Baumgarten in der Vorrede zur „Geschichte Karls V.") ans, wenn er sagte: „Wir sind, wie mir scheint, allmählich mit unsrer historischen Gelehr¬ samkeit dahin gelangt, daß wir in der Hauptsache nnr für unsre Fachgenossen, und zwar für eine mit jedem Jahre sich mindernde Zahl derselben, arbeiten. Denn die Detailforschung ist so angeschwollen, daß das Gebiet, welches der einzelne Historiker wirklich zu beherrschen vermag, immer enger wird. Nun dürfte es doch aber unbestreitbar sein, daß die Geschichte nicht eigentlich die Aufgabe hat, die Historiker zu belehren, daß eine Forschung, welche nicht schließlich zu dem Ergebnisse führt, die nationale oder die allgemeine Bildung zu fördern, daß namentlich die geschichtliche Forschung, welche ans dieses Ziel verzichtet, sich in falschen Bahnen bewegt. Auch der penibelste Spezialist wird nicht in Abrede stellen können, daß Quellenpublilatiouen nicht um ihrer selbst willen erfolgen, monographische Untersuchungen uicht darin ihren höchsten Zweck haben sollten, irgend ein Detail aufzuklären, sondern durch diese Aufklärung den Zusammenhang der historischen Entwicklung zu erhellen. Wenn die umfassenden Publikationen, die scharfsinnigsten Forschungen Dezennien hindurch so gut wie unbenutzt daliegen, wenn sie schließlich durch ihre Massenhaftigkeit sogar sür den Historiker unerreichbar werden, der sich nicht in die Enge einiger Dezennien einsperren mag, so ist das für das wirkliche historische Wissen wenig förderlich. Sie ins Grenzenlose zu vermehren, ohne den Versuch, die historische Summe aus diesen kostbaren Materialien zu ziehen, ist ein Unterfangen, das mit dein wahren Sinne wissenschaftlicher Forschung im Widerspruche steht." Die Geschichte ist der breite Untergrund für alle Geisteswissenschaften; umso notwendiger ist es, für die Historiographie selbst feste Grenzlinien zu ziehen und bestimmte Gesichtspunkte einzuhalten, damit sie nicht unter der Masse des Details ziellos nach verschiednen Seiten auseinanderfahre. Ja das Verfahren, das durch Sammlung und kritische Sichtung zur klaren Erkenntnis der Wahrheit aufzustreben sich bemüht, ist berechtigt und löblich und fördert Einsicht und Wissen. Aber Forschen und Sammeln sind nur Wege und Hilfsmittel, sind

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/315>, abgerufen am 05.02.2025.