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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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die bodenlose Entartung mit dem bittern Unwillen, den eine edle patriotische
Natur bei dem tiefen Verfall einer Nation empfindet. Seinem Geiste schwebt
das Ideal eines Staates vor, von dem in den Tagen der Väter einige Spuren
vorhanden waren, das aber nie und am wenigsten in der Zeit des Kaisertums
verwirklicht werden wird. Mit stoischer Resignation blickt er auf den Kampf
des Lebens, in die dunkle Menschenwelt und die Jrrgänge der Leidenschaften,
ohne die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ohne den Glauben an eine rettende
Gottheit. Er steht im Zweifel, ob in den menschlichen Dingen eine unabänder¬
liche Notwendigkeit oder der Zufall walte, ob die Epitureer Recht hätten, wenn
sie lehrten, das Thun und die Schicksale der Menschen seien den Göttern ganz
gleichgiltig, oder die Stoiker mit ihrem Glauben an ein Fatum. Wenn es eine
Vorausbestimmung für die Menschen gebe, so sei dieselbe nicht als Schicksal
durch die ewigen Götter zu fassen, sondern als Kausalitätsgesetz, als eine Ver¬
kettung natürlicher Ursachen. Seine Darstellung und Ausdrucksweise ist trotz
der körnigen, gedankenreichen Kürze, der veralteten, oft poetisch gestalteten Sprache
und des abgerissenen, mitunter bis zur Dunkelheit verstümmelten Satzbaues
nicht ohne künstlerische Sorgfalt und Überlegung, nicht ohne rednerischen Vor¬
trage Bei aller Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit giebt er doch in der Wahl
und Färbung der Ausdrücke den Anteil heikles Gemütes kund, und wie seine
Anlage und Schilderung dramatisch lebendig ist, so ist sei" Ton vorherrschend
elegisch. Dieser Grundton seiner Werke ist wieder ein Ausfluß seiner Gemüts-
stimmung, der leidenschaftslosen Ergebung. Während er das große Trauerspiel
seines Jahrhunderts vorführt, übernimmt er selber die Rolle des alten Chors,
der mit ernsten Worten der Mahnung, Warnung und Belehrung die Hand-
lungen und Schicksale der tragischen Helden begleitet.

Zwei Jahrhunderte lang hat man Taeitus als den größten Historiker der
Römer verehrt und auf deu strengen, freiheitliebenden Mann mit ehrfurchts¬
voller Bewunderung geschaut. Erst nnserm hhperkritischen Zeitalter war es
vorbehalten, wie bei Thuihdides so noch mehr bei Taeitus seine Unparteilichkeit
und Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen.

Mit den Häuptern der antiken Historiographie, die wir in den obigen Um¬
rissen skizzirt haben, sind die Elemente angedeutet, welche jeder echten Ge¬
schichtschreibung innewohnen müssen, wenn sie dem Gebiete der Kunstthätigkeit
beigezählt werden soll: Erforschung und Berichtigung der Thatsachen und Be¬
gebenheiten, Durchdringung und Verarbeitung des crrungnen Materials durch
geistige Aneignung und die schöpferische Wiedergabe dieses errungenen und ver¬
arbeiteten Materials in künstlerischer Darstellung. In der Vereinigung dieser
drei Grundbestandteile des objektiv-subjektiven Inhaltes in einer kunstgerechten
Form besteht die vollendete Geschichtschreibung. Im dritten Bande von Treitschkes
"Deutscher Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" wird der Gedankengang
der mehrerwähnten Abhandlung Wilhelms von Humboldt in folgenden Sätzen


Grenzboten 1. 1886. 33

die bodenlose Entartung mit dem bittern Unwillen, den eine edle patriotische
Natur bei dem tiefen Verfall einer Nation empfindet. Seinem Geiste schwebt
das Ideal eines Staates vor, von dem in den Tagen der Väter einige Spuren
vorhanden waren, das aber nie und am wenigsten in der Zeit des Kaisertums
verwirklicht werden wird. Mit stoischer Resignation blickt er auf den Kampf
des Lebens, in die dunkle Menschenwelt und die Jrrgänge der Leidenschaften,
ohne die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ohne den Glauben an eine rettende
Gottheit. Er steht im Zweifel, ob in den menschlichen Dingen eine unabänder¬
liche Notwendigkeit oder der Zufall walte, ob die Epitureer Recht hätten, wenn
sie lehrten, das Thun und die Schicksale der Menschen seien den Göttern ganz
gleichgiltig, oder die Stoiker mit ihrem Glauben an ein Fatum. Wenn es eine
Vorausbestimmung für die Menschen gebe, so sei dieselbe nicht als Schicksal
durch die ewigen Götter zu fassen, sondern als Kausalitätsgesetz, als eine Ver¬
kettung natürlicher Ursachen. Seine Darstellung und Ausdrucksweise ist trotz
der körnigen, gedankenreichen Kürze, der veralteten, oft poetisch gestalteten Sprache
und des abgerissenen, mitunter bis zur Dunkelheit verstümmelten Satzbaues
nicht ohne künstlerische Sorgfalt und Überlegung, nicht ohne rednerischen Vor¬
trage Bei aller Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit giebt er doch in der Wahl
und Färbung der Ausdrücke den Anteil heikles Gemütes kund, und wie seine
Anlage und Schilderung dramatisch lebendig ist, so ist sei» Ton vorherrschend
elegisch. Dieser Grundton seiner Werke ist wieder ein Ausfluß seiner Gemüts-
stimmung, der leidenschaftslosen Ergebung. Während er das große Trauerspiel
seines Jahrhunderts vorführt, übernimmt er selber die Rolle des alten Chors,
der mit ernsten Worten der Mahnung, Warnung und Belehrung die Hand-
lungen und Schicksale der tragischen Helden begleitet.

Zwei Jahrhunderte lang hat man Taeitus als den größten Historiker der
Römer verehrt und auf deu strengen, freiheitliebenden Mann mit ehrfurchts¬
voller Bewunderung geschaut. Erst nnserm hhperkritischen Zeitalter war es
vorbehalten, wie bei Thuihdides so noch mehr bei Taeitus seine Unparteilichkeit
und Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen.

Mit den Häuptern der antiken Historiographie, die wir in den obigen Um¬
rissen skizzirt haben, sind die Elemente angedeutet, welche jeder echten Ge¬
schichtschreibung innewohnen müssen, wenn sie dem Gebiete der Kunstthätigkeit
beigezählt werden soll: Erforschung und Berichtigung der Thatsachen und Be¬
gebenheiten, Durchdringung und Verarbeitung des crrungnen Materials durch
geistige Aneignung und die schöpferische Wiedergabe dieses errungenen und ver¬
arbeiteten Materials in künstlerischer Darstellung. In der Vereinigung dieser
drei Grundbestandteile des objektiv-subjektiven Inhaltes in einer kunstgerechten
Form besteht die vollendete Geschichtschreibung. Im dritten Bande von Treitschkes
„Deutscher Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" wird der Gedankengang
der mehrerwähnten Abhandlung Wilhelms von Humboldt in folgenden Sätzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/265>, abgerufen am 05.02.2025.