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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreilmng,

Erforschung und Feststellung der Thatsachen mit Hilfe der Länderkunde und
der kritische" Prüfung; eine synchronistische Zusammenfassung aller Begeben¬
heiten an den verschiednen Orten mit stetem Hinblick auf die Hähern Zwecke
der allwaltenden Schicksalsmacht, Beschreibungen und politische Reflexionen.
Deal bei Polybius ist die Geschichte die Vorschule zur Staatsvernunft und
Staatsweisheit. Von kunstvoller Harmonie in der Anordnung von Plastik und
Architektonik ist kaum eine Spur vorhanden. Der kolossale Aufbau seines Werkes
erinnert an die Riesenwerke der alexandrinischen Kunst. Die künstlerische Ge¬
staltungskraft hat die Grenzen der natürlichen Schönheit durchbrochen lind ist
in nebelhafte Fernen ausgeschweift. Nur in der subjektiven Auffassung des
historischen Zweckes ist ein künstlerischer Zug enthalten. Die kritische, oft scharfe
Polemik gegen frühere Historiker kaun als ein Kennzeichen aufgefaßt werden,
daß die Selbstapvlogie auf dem Gefühle der Unsicherheit beruht, daß in Stunden
der Überlegung und des Nachdenkens ihn der Zweifel beschlichen haben mochte,
ob seine Auffassung und Anschauung auch aus allgemeine Zustimmung
rechnen dürfe.

Mit der Zeit lernten die Römer auch in der Geschichtschreibung ihre eigne
Sprache gebrauchen. Aber die Griechen blieben Vorbilder und Muster, wem,
auch in weniger ausgeprägter Form als in der Poesie und in andern geistigen
Gebieten. So hat Sallustius den Thukydides vor Augen gehabt, so strebt Livius
in seiner römischen Geschichte den universalhistorischen Charakter des Polybius
an. Nur Tacitus bewahrt einen originalen Standpunkt; doch läßt sich auch
sein Geschichtswerk mit dem des Polybius insofern in einen gewissen Zusammen¬
hang setzen, als beide mit stoischer Resignation in dem Gange der Geschichte
eine Naturnotwendigkeit erkennen, die bei jenem zur Weltherrschaft, bei diesem
zum Weltuntergange führen muß. Gemeinsam ist allen dreien eine subjektive
Färbung der Darstellung und damit ein künstlerisches Schaffen nach innerer
Intuition und Gemütsregnng. Sallustius schildert in seinem "Catilina" und
"Jugurtha" in knappen, gedrungnem Stile und archaisirender Sprache die soziale"
Zustände Roms in der ganzen sittlichen Verderbnis, welche das letzte Jahr¬
hundert der Republik nach dem Untergänge der Gracchen durchzogen hat. Mit
dem Blicke eines Staatsmannes, mit der subjektiven Parteinahme für Cäsar
und die Demokratie, und mit dem scharfen Urteile eines Menschenkenners und
Seelenspähers entrollt er ein historisches Zeitbild, das durch die Meisterschaft
der Darstellung Interesse und ästhetisches Wohlgefallen einflößt, durch die Laby¬
rinthe der Leidenschaften und Triebe in Schrecken setzt. Seine moralisirenden
Reflexionen vermögen nicht den Eindruck zu verwischen, daß er nicht nur ein
Beobachter, sondern auch ein Teilnehmer, ein Mitfühlender und Mithandeluder
in den verschlungenen Lebensgüngcn, in der geheimen Triebfeder erregter
Menschcnnciturcn gewesen sei. In seinen geschichtlichen Gemälden weht nicht der
erhabene, wohlthätige und belebende Odem einer idealen Kunst, welche auch


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreilmng,

Erforschung und Feststellung der Thatsachen mit Hilfe der Länderkunde und
der kritische» Prüfung; eine synchronistische Zusammenfassung aller Begeben¬
heiten an den verschiednen Orten mit stetem Hinblick auf die Hähern Zwecke
der allwaltenden Schicksalsmacht, Beschreibungen und politische Reflexionen.
Deal bei Polybius ist die Geschichte die Vorschule zur Staatsvernunft und
Staatsweisheit. Von kunstvoller Harmonie in der Anordnung von Plastik und
Architektonik ist kaum eine Spur vorhanden. Der kolossale Aufbau seines Werkes
erinnert an die Riesenwerke der alexandrinischen Kunst. Die künstlerische Ge¬
staltungskraft hat die Grenzen der natürlichen Schönheit durchbrochen lind ist
in nebelhafte Fernen ausgeschweift. Nur in der subjektiven Auffassung des
historischen Zweckes ist ein künstlerischer Zug enthalten. Die kritische, oft scharfe
Polemik gegen frühere Historiker kaun als ein Kennzeichen aufgefaßt werden,
daß die Selbstapvlogie auf dem Gefühle der Unsicherheit beruht, daß in Stunden
der Überlegung und des Nachdenkens ihn der Zweifel beschlichen haben mochte,
ob seine Auffassung und Anschauung auch aus allgemeine Zustimmung
rechnen dürfe.

Mit der Zeit lernten die Römer auch in der Geschichtschreibung ihre eigne
Sprache gebrauchen. Aber die Griechen blieben Vorbilder und Muster, wem,
auch in weniger ausgeprägter Form als in der Poesie und in andern geistigen
Gebieten. So hat Sallustius den Thukydides vor Augen gehabt, so strebt Livius
in seiner römischen Geschichte den universalhistorischen Charakter des Polybius
an. Nur Tacitus bewahrt einen originalen Standpunkt; doch läßt sich auch
sein Geschichtswerk mit dem des Polybius insofern in einen gewissen Zusammen¬
hang setzen, als beide mit stoischer Resignation in dem Gange der Geschichte
eine Naturnotwendigkeit erkennen, die bei jenem zur Weltherrschaft, bei diesem
zum Weltuntergange führen muß. Gemeinsam ist allen dreien eine subjektive
Färbung der Darstellung und damit ein künstlerisches Schaffen nach innerer
Intuition und Gemütsregnng. Sallustius schildert in seinem „Catilina" und
„Jugurtha" in knappen, gedrungnem Stile und archaisirender Sprache die soziale»
Zustände Roms in der ganzen sittlichen Verderbnis, welche das letzte Jahr¬
hundert der Republik nach dem Untergänge der Gracchen durchzogen hat. Mit
dem Blicke eines Staatsmannes, mit der subjektiven Parteinahme für Cäsar
und die Demokratie, und mit dem scharfen Urteile eines Menschenkenners und
Seelenspähers entrollt er ein historisches Zeitbild, das durch die Meisterschaft
der Darstellung Interesse und ästhetisches Wohlgefallen einflößt, durch die Laby¬
rinthe der Leidenschaften und Triebe in Schrecken setzt. Seine moralisirenden
Reflexionen vermögen nicht den Eindruck zu verwischen, daß er nicht nur ein
Beobachter, sondern auch ein Teilnehmer, ein Mitfühlender und Mithandeluder
in den verschlungenen Lebensgüngcn, in der geheimen Triebfeder erregter
Menschcnnciturcn gewesen sei. In seinen geschichtlichen Gemälden weht nicht der
erhabene, wohlthätige und belebende Odem einer idealen Kunst, welche auch


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[0262] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreilmng, Erforschung und Feststellung der Thatsachen mit Hilfe der Länderkunde und der kritische» Prüfung; eine synchronistische Zusammenfassung aller Begeben¬ heiten an den verschiednen Orten mit stetem Hinblick auf die Hähern Zwecke der allwaltenden Schicksalsmacht, Beschreibungen und politische Reflexionen. Deal bei Polybius ist die Geschichte die Vorschule zur Staatsvernunft und Staatsweisheit. Von kunstvoller Harmonie in der Anordnung von Plastik und Architektonik ist kaum eine Spur vorhanden. Der kolossale Aufbau seines Werkes erinnert an die Riesenwerke der alexandrinischen Kunst. Die künstlerische Ge¬ staltungskraft hat die Grenzen der natürlichen Schönheit durchbrochen lind ist in nebelhafte Fernen ausgeschweift. Nur in der subjektiven Auffassung des historischen Zweckes ist ein künstlerischer Zug enthalten. Die kritische, oft scharfe Polemik gegen frühere Historiker kaun als ein Kennzeichen aufgefaßt werden, daß die Selbstapvlogie auf dem Gefühle der Unsicherheit beruht, daß in Stunden der Überlegung und des Nachdenkens ihn der Zweifel beschlichen haben mochte, ob seine Auffassung und Anschauung auch aus allgemeine Zustimmung rechnen dürfe. Mit der Zeit lernten die Römer auch in der Geschichtschreibung ihre eigne Sprache gebrauchen. Aber die Griechen blieben Vorbilder und Muster, wem, auch in weniger ausgeprägter Form als in der Poesie und in andern geistigen Gebieten. So hat Sallustius den Thukydides vor Augen gehabt, so strebt Livius in seiner römischen Geschichte den universalhistorischen Charakter des Polybius an. Nur Tacitus bewahrt einen originalen Standpunkt; doch läßt sich auch sein Geschichtswerk mit dem des Polybius insofern in einen gewissen Zusammen¬ hang setzen, als beide mit stoischer Resignation in dem Gange der Geschichte eine Naturnotwendigkeit erkennen, die bei jenem zur Weltherrschaft, bei diesem zum Weltuntergange führen muß. Gemeinsam ist allen dreien eine subjektive Färbung der Darstellung und damit ein künstlerisches Schaffen nach innerer Intuition und Gemütsregnng. Sallustius schildert in seinem „Catilina" und „Jugurtha" in knappen, gedrungnem Stile und archaisirender Sprache die soziale» Zustände Roms in der ganzen sittlichen Verderbnis, welche das letzte Jahr¬ hundert der Republik nach dem Untergänge der Gracchen durchzogen hat. Mit dem Blicke eines Staatsmannes, mit der subjektiven Parteinahme für Cäsar und die Demokratie, und mit dem scharfen Urteile eines Menschenkenners und Seelenspähers entrollt er ein historisches Zeitbild, das durch die Meisterschaft der Darstellung Interesse und ästhetisches Wohlgefallen einflößt, durch die Laby¬ rinthe der Leidenschaften und Triebe in Schrecken setzt. Seine moralisirenden Reflexionen vermögen nicht den Eindruck zu verwischen, daß er nicht nur ein Beobachter, sondern auch ein Teilnehmer, ein Mitfühlender und Mithandeluder in den verschlungenen Lebensgüngcn, in der geheimen Triebfeder erregter Menschcnnciturcn gewesen sei. In seinen geschichtlichen Gemälden weht nicht der erhabene, wohlthätige und belebende Odem einer idealen Kunst, welche auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/262>, abgerufen am 05.02.2025.