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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Steinthnl über den Sozialismus.

herabzudrücken, für persönliches Kolorit, nicht für Steinthals eigenste sozial¬
politische Überzeugung. Insbesondre ist mit dem Gegensatze von Recht und
Interesse nichts anzufangen. Wenn die jüdische Nechtsgesellschaft den Geld¬
besitzern das Zinsennehmen den Landsleuten gegenüber verbot, die mittelalterliche
das Zinseunehmen überhaupt, so wurde beidemale das Interesse einer großen
Gruppe von Menschen und Vereinen verletzt. Ist es nur ein Gewinn, wenn
ich dafür sage, die Nechtsgesellschaft habe dabei garnicht auf das Interesse ge¬
sehen, sondern nur das Recht von Einzelnen oder Gruppen gegen das Recht
andrer geschützt? Das positive Recht, mit dem es der Staat ja eben zu thun
hat, ist fast überall nur eine Abwägung der verschiednen Interesse", und gerade
das modernste Recht, das den Einzelnen gegen die Verwaltung selbst schützt,
kann ohne den Begriff des Interesses nicht gedacht werden. Es ist außerdem
auffallend, wie ganz andre Fähigkeiten der Gesellschaft mit ihren viele" Vereinen
und dem Staate, dem Ncchtsvereiue, von Steinthal zugeschrieben werden. Dieser,
dessen Wirken schon aus lauger Zeit bekannt ist und der in der That ja durch
seine allmächtigen Eingriffe öfters geschadet hat, wird möglichst herabgewürdigt,
die Gesellschaft aber, deren Wesen völlig mystisch ist -- wir sagen es trotz
Schlözer, Mohl und Herbart --, soll dagegen alles Schöne leisten. Man kann
einem so komplizirten, tiefsinnigen Wesen ja alles Gute zutrauen, und gewiß,
wir dürfen uns die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat
nicht wieder entreißen lassen. Aber Steinthal und die Manchesterleute werden
uns nie überzeugen, daß der Staat sich vor der Gesellschaft zurückziehe" müsse.
Es finde" sich im Gegenteile jetzt mehr und mehr Stellen, wo die Gesellschaft
nicht imstande ist, die Dinge selbst richtig zu ordnen. Die Post, die Eisen¬
bahnen, das Heerwesen, die Fabritanfsicht, das Schulwesen sind bei uns glück¬
licherweise nicht mehr Vereinssache. Zu diesen Dingen kommen, mit Zustimmung
der politischen Vertretungen, noch mehrere, in denen der Staat Interessen schützt
und verletzt, indem er die Gesetzgebung besorgt und die Verwaltung ganz oder
mit Hilfe der Vereine regelt. Der Staat erkennt selbst mich Grenzen seiner
Macht an, gewiß, er ist nicht omnipotent, wohl aber nach einem Ausdrucke
eines neuern Staatsmannes "omni-kompetent." Den Aberglauben an die
alleinige Einsicht der Jnteresseuverbände hat er längst aufgegeben, aber er ist
bereit, anzuerkennen, daß er manche gesetzgeberische Aufgaben nur durch Hilfe
der Verbände lösen kaun. So ist das .Krankenkassen- und Unfallversicheruugs-
gesetz nur durch die Betriebsgenosfeuschafteu möglich geworden, also durch ein
Zusammenwirken von Staat (Reich) und Gesellschaft. Aber auch, wenn der
Staat so die Gesellschaft zu Hilfe ruft, ist es immer die politische Vertretung
der Nation, die darum befragt wird und in maßgebender Weise bei der Gesetz¬
gebung mitwirkt. Die sich so ergebenden Interessen werden zu Ncchtsbestim-
mungcu in gemeinsamer Arbeit umgestaltet. Und der Gegensatz zwischen Inter¬
essen "ut Recht ist an sich nur eine Fiktion.


Steinthnl über den Sozialismus.

herabzudrücken, für persönliches Kolorit, nicht für Steinthals eigenste sozial¬
politische Überzeugung. Insbesondre ist mit dem Gegensatze von Recht und
Interesse nichts anzufangen. Wenn die jüdische Nechtsgesellschaft den Geld¬
besitzern das Zinsennehmen den Landsleuten gegenüber verbot, die mittelalterliche
das Zinseunehmen überhaupt, so wurde beidemale das Interesse einer großen
Gruppe von Menschen und Vereinen verletzt. Ist es nur ein Gewinn, wenn
ich dafür sage, die Nechtsgesellschaft habe dabei garnicht auf das Interesse ge¬
sehen, sondern nur das Recht von Einzelnen oder Gruppen gegen das Recht
andrer geschützt? Das positive Recht, mit dem es der Staat ja eben zu thun
hat, ist fast überall nur eine Abwägung der verschiednen Interesse», und gerade
das modernste Recht, das den Einzelnen gegen die Verwaltung selbst schützt,
kann ohne den Begriff des Interesses nicht gedacht werden. Es ist außerdem
auffallend, wie ganz andre Fähigkeiten der Gesellschaft mit ihren viele» Vereinen
und dem Staate, dem Ncchtsvereiue, von Steinthal zugeschrieben werden. Dieser,
dessen Wirken schon aus lauger Zeit bekannt ist und der in der That ja durch
seine allmächtigen Eingriffe öfters geschadet hat, wird möglichst herabgewürdigt,
die Gesellschaft aber, deren Wesen völlig mystisch ist — wir sagen es trotz
Schlözer, Mohl und Herbart —, soll dagegen alles Schöne leisten. Man kann
einem so komplizirten, tiefsinnigen Wesen ja alles Gute zutrauen, und gewiß,
wir dürfen uns die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat
nicht wieder entreißen lassen. Aber Steinthal und die Manchesterleute werden
uns nie überzeugen, daß der Staat sich vor der Gesellschaft zurückziehe» müsse.
Es finde» sich im Gegenteile jetzt mehr und mehr Stellen, wo die Gesellschaft
nicht imstande ist, die Dinge selbst richtig zu ordnen. Die Post, die Eisen¬
bahnen, das Heerwesen, die Fabritanfsicht, das Schulwesen sind bei uns glück¬
licherweise nicht mehr Vereinssache. Zu diesen Dingen kommen, mit Zustimmung
der politischen Vertretungen, noch mehrere, in denen der Staat Interessen schützt
und verletzt, indem er die Gesetzgebung besorgt und die Verwaltung ganz oder
mit Hilfe der Vereine regelt. Der Staat erkennt selbst mich Grenzen seiner
Macht an, gewiß, er ist nicht omnipotent, wohl aber nach einem Ausdrucke
eines neuern Staatsmannes „omni-kompetent." Den Aberglauben an die
alleinige Einsicht der Jnteresseuverbände hat er längst aufgegeben, aber er ist
bereit, anzuerkennen, daß er manche gesetzgeberische Aufgaben nur durch Hilfe
der Verbände lösen kaun. So ist das .Krankenkassen- und Unfallversicheruugs-
gesetz nur durch die Betriebsgenosfeuschafteu möglich geworden, also durch ein
Zusammenwirken von Staat (Reich) und Gesellschaft. Aber auch, wenn der
Staat so die Gesellschaft zu Hilfe ruft, ist es immer die politische Vertretung
der Nation, die darum befragt wird und in maßgebender Weise bei der Gesetz¬
gebung mitwirkt. Die sich so ergebenden Interessen werden zu Ncchtsbestim-
mungcu in gemeinsamer Arbeit umgestaltet. Und der Gegensatz zwischen Inter¬
essen »ut Recht ist an sich nur eine Fiktion.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/215>, abgerufen am 05.02.2025.