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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Agitationen auf dem Gebiete der höheren Zehnten.

vom Blatte zu lesen, wie er bei einer unendlich geringern neusprachlichen Bildung
ein französisches Buch zu lesen vermöge. Darum giebt er zu, daß eine geistige
Übung an einer alten Sprache eine "strengere Übung" ist, als eine geistige
Übung an einer neuern Sprache, wenn dieselbe Lehrmethode befolgt wird. Aber,
sagt er, man muß eben die neuern Sprachen anders behandeln, dann erzielt man
an den neuern ganz dieselbe Kraft. (Allseitiger lebhafter Beifall.) Man ist nun sehr
gespannt, welche neue Methode dies leisten kann. Bisher wollte man den neuern
Sprachen auch mehr Bildung abgewinnen, Dr. Mager und Mätzner, in neuerer Zeit
Lücking und andre haben nicht ohne Erfolg die Grammatik, Stilistik, Synonymik
und Onomatik der französischen Sprache so fein ausgebildet, daß sie im Fran¬
zösischen dieselbe tüchtige logisch-grammatische Schulung zu erzielen hofften, wie
sie die antiken Sprachen schon lange bieten konnten. Aber was sagt der Redner
in Bochum, um die bildende Methode der modernen Sprachen zu zeichnen, die
er im Auge hat? Er verlangt das gerade Gegenteil. Der Lehrer soll "von
dem zwölf- oder vierzehnjährigen Schüler verlangen, daß er anfange in dieser
Sprache zu sprechen, daß ihm also die Elemente der Sprache jeden Augenblick
zu Gebote stehen. Dann ist er der völligen Überzeugung, daß man mit einer
solchen Methode dasselbe leisten kann, wie durch die Behandlung der alten
Sprachen." Dabei steht wieder im Bericht: Lebhafte Zustimmung. Die Zuhörer
hatten also mit dem Redner die Meinung, daß das Parliren, die Domestiken-
mcthode, in neuern Sprachen die richtige, schulmüßige sei, durch die sich der
Ausfall des Griechischen reichlich decken lasse. Man traut seinen Augen nicht,
wenn man so etwas liest.

Es lohnt sich nicht, die Summe der Verkehrtheiten zu ziehen, die sich in
diesem Vortrage finden. Aber die merkwürdige Betonung der gleichen Sitzzeit
ist ein Zeichen einer noch über die Bourgeoisie hinaus fortgeschrittenen Bildung.
Bisher verlangte man nnr in sozialdemokratischen Kreisen, wie im Züricher
"Sozialdemokrat," daß die bloße Arbeitszeit den Lohn bestimme. Wer vermöge
einer natürlichen Unfähigkeit des Geistes oder Körpers welliger leiste, sei schon
vom Schicksal genug geschlagen; ihm nun auch vonseiten der Menschen weniger
Lohn, weniger Berechtigungen zu geben, sei eine grobe Mißhandlung. Das
wird also künftig auch zum schulpvlitischeu Kredo gehören, wenn man mit der
Zeit fortschreiten will.

Wir haben gesehen, daß die nächste Absicht der Agitationen auf diesem
Gebiete ist, den Realgymnasien und den Gymnasien alten Herkommens dieselben
Rechte in Bezug auf die Universität und in Bezug ans alle andern Berech¬
tigungen zu geben. Denn diese Berechtigungen spielen jetzt eine unvergleichlich
wichtige Rolle. Einer der Herren sagte, jedenfalls mit Recht, wenn ein Engel
vom Himmel käme und eine Schule ohne Berechtigungen gründete, sie würde
keine Schüler finden. Das ist das härteste Wort, das man gegen das Staats¬
schulwesen sagen kann, und eine schwere Anklage der Nation, die man sonst


Agitationen auf dem Gebiete der höheren Zehnten.

vom Blatte zu lesen, wie er bei einer unendlich geringern neusprachlichen Bildung
ein französisches Buch zu lesen vermöge. Darum giebt er zu, daß eine geistige
Übung an einer alten Sprache eine „strengere Übung" ist, als eine geistige
Übung an einer neuern Sprache, wenn dieselbe Lehrmethode befolgt wird. Aber,
sagt er, man muß eben die neuern Sprachen anders behandeln, dann erzielt man
an den neuern ganz dieselbe Kraft. (Allseitiger lebhafter Beifall.) Man ist nun sehr
gespannt, welche neue Methode dies leisten kann. Bisher wollte man den neuern
Sprachen auch mehr Bildung abgewinnen, Dr. Mager und Mätzner, in neuerer Zeit
Lücking und andre haben nicht ohne Erfolg die Grammatik, Stilistik, Synonymik
und Onomatik der französischen Sprache so fein ausgebildet, daß sie im Fran¬
zösischen dieselbe tüchtige logisch-grammatische Schulung zu erzielen hofften, wie
sie die antiken Sprachen schon lange bieten konnten. Aber was sagt der Redner
in Bochum, um die bildende Methode der modernen Sprachen zu zeichnen, die
er im Auge hat? Er verlangt das gerade Gegenteil. Der Lehrer soll „von
dem zwölf- oder vierzehnjährigen Schüler verlangen, daß er anfange in dieser
Sprache zu sprechen, daß ihm also die Elemente der Sprache jeden Augenblick
zu Gebote stehen. Dann ist er der völligen Überzeugung, daß man mit einer
solchen Methode dasselbe leisten kann, wie durch die Behandlung der alten
Sprachen." Dabei steht wieder im Bericht: Lebhafte Zustimmung. Die Zuhörer
hatten also mit dem Redner die Meinung, daß das Parliren, die Domestiken-
mcthode, in neuern Sprachen die richtige, schulmüßige sei, durch die sich der
Ausfall des Griechischen reichlich decken lasse. Man traut seinen Augen nicht,
wenn man so etwas liest.

Es lohnt sich nicht, die Summe der Verkehrtheiten zu ziehen, die sich in
diesem Vortrage finden. Aber die merkwürdige Betonung der gleichen Sitzzeit
ist ein Zeichen einer noch über die Bourgeoisie hinaus fortgeschrittenen Bildung.
Bisher verlangte man nnr in sozialdemokratischen Kreisen, wie im Züricher
„Sozialdemokrat," daß die bloße Arbeitszeit den Lohn bestimme. Wer vermöge
einer natürlichen Unfähigkeit des Geistes oder Körpers welliger leiste, sei schon
vom Schicksal genug geschlagen; ihm nun auch vonseiten der Menschen weniger
Lohn, weniger Berechtigungen zu geben, sei eine grobe Mißhandlung. Das
wird also künftig auch zum schulpvlitischeu Kredo gehören, wenn man mit der
Zeit fortschreiten will.

Wir haben gesehen, daß die nächste Absicht der Agitationen auf diesem
Gebiete ist, den Realgymnasien und den Gymnasien alten Herkommens dieselben
Rechte in Bezug auf die Universität und in Bezug ans alle andern Berech¬
tigungen zu geben. Denn diese Berechtigungen spielen jetzt eine unvergleichlich
wichtige Rolle. Einer der Herren sagte, jedenfalls mit Recht, wenn ein Engel
vom Himmel käme und eine Schule ohne Berechtigungen gründete, sie würde
keine Schüler finden. Das ist das härteste Wort, das man gegen das Staats¬
schulwesen sagen kann, und eine schwere Anklage der Nation, die man sonst


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[0178] Agitationen auf dem Gebiete der höheren Zehnten. vom Blatte zu lesen, wie er bei einer unendlich geringern neusprachlichen Bildung ein französisches Buch zu lesen vermöge. Darum giebt er zu, daß eine geistige Übung an einer alten Sprache eine „strengere Übung" ist, als eine geistige Übung an einer neuern Sprache, wenn dieselbe Lehrmethode befolgt wird. Aber, sagt er, man muß eben die neuern Sprachen anders behandeln, dann erzielt man an den neuern ganz dieselbe Kraft. (Allseitiger lebhafter Beifall.) Man ist nun sehr gespannt, welche neue Methode dies leisten kann. Bisher wollte man den neuern Sprachen auch mehr Bildung abgewinnen, Dr. Mager und Mätzner, in neuerer Zeit Lücking und andre haben nicht ohne Erfolg die Grammatik, Stilistik, Synonymik und Onomatik der französischen Sprache so fein ausgebildet, daß sie im Fran¬ zösischen dieselbe tüchtige logisch-grammatische Schulung zu erzielen hofften, wie sie die antiken Sprachen schon lange bieten konnten. Aber was sagt der Redner in Bochum, um die bildende Methode der modernen Sprachen zu zeichnen, die er im Auge hat? Er verlangt das gerade Gegenteil. Der Lehrer soll „von dem zwölf- oder vierzehnjährigen Schüler verlangen, daß er anfange in dieser Sprache zu sprechen, daß ihm also die Elemente der Sprache jeden Augenblick zu Gebote stehen. Dann ist er der völligen Überzeugung, daß man mit einer solchen Methode dasselbe leisten kann, wie durch die Behandlung der alten Sprachen." Dabei steht wieder im Bericht: Lebhafte Zustimmung. Die Zuhörer hatten also mit dem Redner die Meinung, daß das Parliren, die Domestiken- mcthode, in neuern Sprachen die richtige, schulmüßige sei, durch die sich der Ausfall des Griechischen reichlich decken lasse. Man traut seinen Augen nicht, wenn man so etwas liest. Es lohnt sich nicht, die Summe der Verkehrtheiten zu ziehen, die sich in diesem Vortrage finden. Aber die merkwürdige Betonung der gleichen Sitzzeit ist ein Zeichen einer noch über die Bourgeoisie hinaus fortgeschrittenen Bildung. Bisher verlangte man nnr in sozialdemokratischen Kreisen, wie im Züricher „Sozialdemokrat," daß die bloße Arbeitszeit den Lohn bestimme. Wer vermöge einer natürlichen Unfähigkeit des Geistes oder Körpers welliger leiste, sei schon vom Schicksal genug geschlagen; ihm nun auch vonseiten der Menschen weniger Lohn, weniger Berechtigungen zu geben, sei eine grobe Mißhandlung. Das wird also künftig auch zum schulpvlitischeu Kredo gehören, wenn man mit der Zeit fortschreiten will. Wir haben gesehen, daß die nächste Absicht der Agitationen auf diesem Gebiete ist, den Realgymnasien und den Gymnasien alten Herkommens dieselben Rechte in Bezug auf die Universität und in Bezug ans alle andern Berech¬ tigungen zu geben. Denn diese Berechtigungen spielen jetzt eine unvergleichlich wichtige Rolle. Einer der Herren sagte, jedenfalls mit Recht, wenn ein Engel vom Himmel käme und eine Schule ohne Berechtigungen gründete, sie würde keine Schüler finden. Das ist das härteste Wort, das man gegen das Staats¬ schulwesen sagen kann, und eine schwere Anklage der Nation, die man sonst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/178>, abgerufen am 05.02.2025.