Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Borufsklassenwahl. ihre Sitze 3,7 Millionen Wählern, o. h. 64,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen; Kann von einer "Volksvertretung" in dem Sinne, wie derselbe landläufig Die proportionale Borufsklassenwahl. ihre Sitze 3,7 Millionen Wählern, o. h. 64,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen; Kann von einer „Volksvertretung" in dem Sinne, wie derselbe landläufig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196808"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Borufsklassenwahl.</fw><lb/> <p xml:id="ID_176" prev="#ID_175"> ihre Sitze 3,7 Millionen Wählern, o. h. 64,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen;<lb/> die übrigen 35,7 Prozent blieben also ohne jeden Einfluß auf die Zusammen¬<lb/> setzung der parlamentarischen Körperschaft und somit auf die Leitung des<lb/> Staatswesens. Es ist übrigens die Möglichkeit uicht ausgeschlossen, daß die<lb/> völlig unvertretene Minderheit noch viel näher an die Majorität hinanreicht,<lb/> als es in dem angeführten Beispiel der Fall war. Hierzu kommt nun noch,<lb/> daß bei der Angabe jenes Verhältnisses nur die Zahl der abgegebenen Stimmen,<lb/> nicht die aller Stimmberechtigten — Mas aber billigerweise geschehen muß — in<lb/> die Rechnung aufgenommen mürbe. Von diesem letztern Gesichtspunkte ans<lb/> betrachtet, würden die 397 Abgeordneten nach der letzten Wahl von 1884 39,6,<lb/> nach der von 1881 sogar nur 38 Prozent aller Stimmberechtigten, in beiden<lb/> Fällen also eine Minderheit vertreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_177" next="#ID_178"> Kann von einer „Volksvertretung" in dem Sinne, wie derselbe landläufig<lb/> gebraucht wird, die Rede sein, wenn vier Fünftel der Gesamtbevölkerung ihres<lb/> Geschlechts oder unzureichenden Lebensalters wegen von einer Wahlbeteiligung<lb/> überhaupt ausgeschlossen sind, von dem restirenden Fünftel, nämlich 9,1 Millionen<lb/> Wahlberechtigter, bei der 1881er Wahl beispielsweise nur 4152 000 (45 Prozent)<lb/> an die Urne traten, und von diesen wiederum mir 2 640000 ihre Kandidaten<lb/> durchbrachter? Indem dieser auf 5,84 Prozent sich beziffernde Bruchteil der<lb/> Gesamtbevölkerung seineu Willen an 397 Abgeordnete überträgt, von denen<lb/> selten mehr als 300, also etwa 75 Prozent, an einer Abstimmung teilnehmen,<lb/> entsteht das Mißverhältnis, daß die 151 Stimmen, die zur Majorität genügen,<lb/> eine Entscheidung treffen können, die nur den Wünschen ihrer 991 000 Hinter-<lb/> müuner entspricht und daher sehr oft in Gegensatz tritt oder doch treten kann<lb/> zu den Absichten und Forderungen der von ihnen nicht vertretenen 40,2 Millionen<lb/> der Gesamtbevölkerung. Und das Eintreten dieser den Intentionen des all¬<lb/> gemeinen Stimmrechtes durchaus widerstrebenden Abnormität ist nicht nur eine<lb/> Möglichkeit, sondern mit geringen Varianten die Regel. Aber wenn man sich<lb/> auch allein an die Zahl der abgegebenen Stimmen hält — was sich aus ver-<lb/> schiednen Gründen rechtfertigen ließe —, so wird man unter keinen Umständen<lb/> die Forderung abweisen dürfen, daß auch die Minderheiten, die, wie wir gesehen<lb/> haben, sehr beträchtlich sind, Berücksichtigung finden müssen. Es ist nicht mehr<lb/> als billig, daß die Minorität eine ihrem Prozentsatz proportionirte Anzahl von<lb/> Abgeordneten stellt, also gegenwärtig 39,6 Prozent oder 155 Vertreter, ein<lb/> Gedanke, der denn anch unter der Bezeichnung „Propvrtivnalitätswahlen" seit<lb/> Jahren, namentlich in England, angeregt und öffentlich diskutirt worden ist.<lb/> Was wir von einem seinem Zweck entsprechenden Wahlsystem zu verlangen<lb/> berechtigt sind, ist, daß nicht nur nicht eine große Minorität, sondern sogar<lb/> leine einzige Stimme geltungslos bleibe, und dazu hat sich der bestehende Wahl¬<lb/> modus als völlig ungeeignet erwiesen. Seine Mängel fallen keineswegs dem<lb/> Prinzip des allgemeinen, direkten und geheimen Stimmrechts zur Last. Sie</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0074]
Die proportionale Borufsklassenwahl.
ihre Sitze 3,7 Millionen Wählern, o. h. 64,3 Prozent aller abgegebenen Stimmen;
die übrigen 35,7 Prozent blieben also ohne jeden Einfluß auf die Zusammen¬
setzung der parlamentarischen Körperschaft und somit auf die Leitung des
Staatswesens. Es ist übrigens die Möglichkeit uicht ausgeschlossen, daß die
völlig unvertretene Minderheit noch viel näher an die Majorität hinanreicht,
als es in dem angeführten Beispiel der Fall war. Hierzu kommt nun noch,
daß bei der Angabe jenes Verhältnisses nur die Zahl der abgegebenen Stimmen,
nicht die aller Stimmberechtigten — Mas aber billigerweise geschehen muß — in
die Rechnung aufgenommen mürbe. Von diesem letztern Gesichtspunkte ans
betrachtet, würden die 397 Abgeordneten nach der letzten Wahl von 1884 39,6,
nach der von 1881 sogar nur 38 Prozent aller Stimmberechtigten, in beiden
Fällen also eine Minderheit vertreten.
Kann von einer „Volksvertretung" in dem Sinne, wie derselbe landläufig
gebraucht wird, die Rede sein, wenn vier Fünftel der Gesamtbevölkerung ihres
Geschlechts oder unzureichenden Lebensalters wegen von einer Wahlbeteiligung
überhaupt ausgeschlossen sind, von dem restirenden Fünftel, nämlich 9,1 Millionen
Wahlberechtigter, bei der 1881er Wahl beispielsweise nur 4152 000 (45 Prozent)
an die Urne traten, und von diesen wiederum mir 2 640000 ihre Kandidaten
durchbrachter? Indem dieser auf 5,84 Prozent sich beziffernde Bruchteil der
Gesamtbevölkerung seineu Willen an 397 Abgeordnete überträgt, von denen
selten mehr als 300, also etwa 75 Prozent, an einer Abstimmung teilnehmen,
entsteht das Mißverhältnis, daß die 151 Stimmen, die zur Majorität genügen,
eine Entscheidung treffen können, die nur den Wünschen ihrer 991 000 Hinter-
müuner entspricht und daher sehr oft in Gegensatz tritt oder doch treten kann
zu den Absichten und Forderungen der von ihnen nicht vertretenen 40,2 Millionen
der Gesamtbevölkerung. Und das Eintreten dieser den Intentionen des all¬
gemeinen Stimmrechtes durchaus widerstrebenden Abnormität ist nicht nur eine
Möglichkeit, sondern mit geringen Varianten die Regel. Aber wenn man sich
auch allein an die Zahl der abgegebenen Stimmen hält — was sich aus ver-
schiednen Gründen rechtfertigen ließe —, so wird man unter keinen Umständen
die Forderung abweisen dürfen, daß auch die Minderheiten, die, wie wir gesehen
haben, sehr beträchtlich sind, Berücksichtigung finden müssen. Es ist nicht mehr
als billig, daß die Minorität eine ihrem Prozentsatz proportionirte Anzahl von
Abgeordneten stellt, also gegenwärtig 39,6 Prozent oder 155 Vertreter, ein
Gedanke, der denn anch unter der Bezeichnung „Propvrtivnalitätswahlen" seit
Jahren, namentlich in England, angeregt und öffentlich diskutirt worden ist.
Was wir von einem seinem Zweck entsprechenden Wahlsystem zu verlangen
berechtigt sind, ist, daß nicht nur nicht eine große Minorität, sondern sogar
leine einzige Stimme geltungslos bleibe, und dazu hat sich der bestehende Wahl¬
modus als völlig ungeeignet erwiesen. Seine Mängel fallen keineswegs dem
Prinzip des allgemeinen, direkten und geheimen Stimmrechts zur Last. Sie
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