Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.eines Zuges. Versetzen wir uns in die Lage eiues Mannes, der soeben in den eines Zuges. Versetzen wir uns in die Lage eiues Mannes, der soeben in den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0652" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197386"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2220" prev="#ID_2219" next="#ID_2221"> eines Zuges. Versetzen wir uns in die Lage eiues Mannes, der soeben in den<lb/> Wagen — auf Deutsch „Coupe" genannt — eingestiegen ist, sichs bequem gemacht<lb/> hat und nun überlegt, ob er vielleicht noch Zeit zu einem raschen Trunke oder<lb/> auch zu etwas andern: hat. Da steigt ein Mann in mittlern Jahren zu ihm ein,<lb/> und gleichzeitig Pflanzt sich eine Schnar von vier oder fünf Damen aller Lebens¬<lb/> alter, denen sich auch noch ein junger Mann und einige Kinder zugesellen, vor die<lb/> Wageuthürc. Auf nochmaliges Aussteigen ist jetzt natürlich zu verzichten, und das<lb/> Unglück ist auch vielleicht nicht groß. Aber wehe, wehe! jetzt geht die Abschied-<lb/> nehmerei los. Die älteste Dame beginnt: „Nun, lieber Karl, halte dich nur immer<lb/> gut eingewickelt, damit du deine Erkältung endlich los wirst. Gieb ans deine Sachen<lb/> gut acht; du hast fünf Stück." — „In ja, gewiß, Mama." — „Und warte unter¬<lb/> wegs nicht zu lange mit dem Essen, trinke aber nicht mehr als eine halbe Flasche<lb/> Wein; du weißt, es bekommt dir nicht." - „Versteht sich, Mama." — „Und schreibe<lb/> uns sobald wie möglich; schreibe uns auch, wie die Reise abgelaufen ist." — „Gewiß."<lb/> Darauf beginnt die Rolle einer andern Dame. „Vergiß nur ja nicht, lieber Karl,<lb/> Onkel Fritz von uns allen zu grüßen. Auch Taute Amalie, und Rosa, und Fräulein<lb/> Ottilie." — „Werde alles besorgen." - „Ach, und natürlich grüße auch Lottchen<lb/> und Emil." — „Gewiß, gewiß." — „Und erzähle ihnen alles, was hier passirt<lb/> ist." — „Alles." Wieder eine andre Dame. „Nicht wahr, lieber Karl, du wirst<lb/> alles besorgen, was wir dir mitgegeben haben?" — „Kannst dich fest darauf ver¬<lb/> lassen." — „Und wirst uns alles mitbringen, was du versprochen hast?" — „Kein<lb/> Stückchen soll fehlen." — „Und uns recht viel erzählen von B.?" — „Hin, hin." —<lb/> „Was sagtest du, lieber Karl?" — „O nichts — ich meinte nur so. Ja ja, ich<lb/> erzähle euch alles." Jetzt tritt ein Backfisch vor. „Und gieb nur ja recht acht,<lb/> Onkel Karl, daß du für mich auch genau die rechte Farbe nimmst." — „Ja, Ella, wie<lb/> wir's besprochen haben." — „Nein, wie ich dir's zuletzt noch gesagt habe." — ,,Nu<lb/> ja, natürlich, das meine ich ja." — „Ja, euch Männern ist das alles egal." —<lb/> „Und vergiß anch meine Kvllektivgrüße nicht auszurichten, Karl, du weißt schon,<lb/> wo," ruft verschmitzt lächelnd der Bruder Studio, denn als solchen haben wir den<lb/> jungen Mann inzwischen erkannt. Karl nickt dem Bruder lächelnd zu und fühlt<lb/> sich ermutigt, einmal herzhaft zu gähnen. „Hast du nicht gut geschlafen, Karl?"<lb/> fragt besorgt die Mutter. — „Doch, ganz vortrefflich." — „Nun, unterwegs knuust<lb/> du ja im schlimmsten Falle etwas Schlaf nachholen. Du hast doch deu Plaid und<lb/> die Decke bei dir?" — „El natürlich, das wißt ihr doch." — „Ist auch alles gut<lb/> verschnürt?" — „Ja." Karl sucht einen zweiten Gähnanfall zu überwinden und<lb/> verzerrt krampfhaft das Gesicht, aber vom Fenster abgekehrt, damit es niemand<lb/> sieht. Selbst im Kreise der Damen bemerkt man jene Starrheit der Gesichtszüge,<lb/> die hie und da schon in ein bedenkliches Zucken übergehen will; aber mit Todes¬<lb/> verachtung halten sie Stand. Plötzlich kommt einer ein rettender Gedanke. „Du<lb/> könntest auch den alten Doktor von uns grüßen, nicht wahr, Karl?" — „Und seine<lb/> Frau, natürlich!" fügt eine andre hinzu. Plötzlich wendet sich Mama erschrocken<lb/> um. „Ach Gott, Hütte ich's doch fast vergessen, und von euch allen erinnert mich<lb/> auch niemand! Vergiß ulu's Gotteswillen uicht Schutzes zu grüßen, Karl; sie sind<lb/> immer so liebenswürdig gegen uns gewesen." — „Und auch Müllers, Karl!" ruft<lb/> mit humoristischem Ausdrucke Bruder Studio, wofür ihn ein strafender Blick der<lb/> Mama zu Teil wird. Da ertönt die Mahnung des Schaffners: „Einsteigen, meine<lb/> Herrschaften!" — „Nun lebt alle recht wohl!" sagt Karl mit erleichterter Miene,<lb/> und benutzt die Gelegenheit, um dem im Wagen sitzenden andern Herrn, an dem<lb/> die ganze Flut des Abschiednehmens vorübergegangen, einige entschuldigende Worte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0652]
eines Zuges. Versetzen wir uns in die Lage eiues Mannes, der soeben in den
Wagen — auf Deutsch „Coupe" genannt — eingestiegen ist, sichs bequem gemacht
hat und nun überlegt, ob er vielleicht noch Zeit zu einem raschen Trunke oder
auch zu etwas andern: hat. Da steigt ein Mann in mittlern Jahren zu ihm ein,
und gleichzeitig Pflanzt sich eine Schnar von vier oder fünf Damen aller Lebens¬
alter, denen sich auch noch ein junger Mann und einige Kinder zugesellen, vor die
Wageuthürc. Auf nochmaliges Aussteigen ist jetzt natürlich zu verzichten, und das
Unglück ist auch vielleicht nicht groß. Aber wehe, wehe! jetzt geht die Abschied-
nehmerei los. Die älteste Dame beginnt: „Nun, lieber Karl, halte dich nur immer
gut eingewickelt, damit du deine Erkältung endlich los wirst. Gieb ans deine Sachen
gut acht; du hast fünf Stück." — „In ja, gewiß, Mama." — „Und warte unter¬
wegs nicht zu lange mit dem Essen, trinke aber nicht mehr als eine halbe Flasche
Wein; du weißt, es bekommt dir nicht." - „Versteht sich, Mama." — „Und schreibe
uns sobald wie möglich; schreibe uns auch, wie die Reise abgelaufen ist." — „Gewiß."
Darauf beginnt die Rolle einer andern Dame. „Vergiß nur ja nicht, lieber Karl,
Onkel Fritz von uns allen zu grüßen. Auch Taute Amalie, und Rosa, und Fräulein
Ottilie." — „Werde alles besorgen." - „Ach, und natürlich grüße auch Lottchen
und Emil." — „Gewiß, gewiß." — „Und erzähle ihnen alles, was hier passirt
ist." — „Alles." Wieder eine andre Dame. „Nicht wahr, lieber Karl, du wirst
alles besorgen, was wir dir mitgegeben haben?" — „Kannst dich fest darauf ver¬
lassen." — „Und wirst uns alles mitbringen, was du versprochen hast?" — „Kein
Stückchen soll fehlen." — „Und uns recht viel erzählen von B.?" — „Hin, hin." —
„Was sagtest du, lieber Karl?" — „O nichts — ich meinte nur so. Ja ja, ich
erzähle euch alles." Jetzt tritt ein Backfisch vor. „Und gieb nur ja recht acht,
Onkel Karl, daß du für mich auch genau die rechte Farbe nimmst." — „Ja, Ella, wie
wir's besprochen haben." — „Nein, wie ich dir's zuletzt noch gesagt habe." — ,,Nu
ja, natürlich, das meine ich ja." — „Ja, euch Männern ist das alles egal." —
„Und vergiß anch meine Kvllektivgrüße nicht auszurichten, Karl, du weißt schon,
wo," ruft verschmitzt lächelnd der Bruder Studio, denn als solchen haben wir den
jungen Mann inzwischen erkannt. Karl nickt dem Bruder lächelnd zu und fühlt
sich ermutigt, einmal herzhaft zu gähnen. „Hast du nicht gut geschlafen, Karl?"
fragt besorgt die Mutter. — „Doch, ganz vortrefflich." — „Nun, unterwegs knuust
du ja im schlimmsten Falle etwas Schlaf nachholen. Du hast doch deu Plaid und
die Decke bei dir?" — „El natürlich, das wißt ihr doch." — „Ist auch alles gut
verschnürt?" — „Ja." Karl sucht einen zweiten Gähnanfall zu überwinden und
verzerrt krampfhaft das Gesicht, aber vom Fenster abgekehrt, damit es niemand
sieht. Selbst im Kreise der Damen bemerkt man jene Starrheit der Gesichtszüge,
die hie und da schon in ein bedenkliches Zucken übergehen will; aber mit Todes¬
verachtung halten sie Stand. Plötzlich kommt einer ein rettender Gedanke. „Du
könntest auch den alten Doktor von uns grüßen, nicht wahr, Karl?" — „Und seine
Frau, natürlich!" fügt eine andre hinzu. Plötzlich wendet sich Mama erschrocken
um. „Ach Gott, Hütte ich's doch fast vergessen, und von euch allen erinnert mich
auch niemand! Vergiß ulu's Gotteswillen uicht Schutzes zu grüßen, Karl; sie sind
immer so liebenswürdig gegen uns gewesen." — „Und auch Müllers, Karl!" ruft
mit humoristischem Ausdrucke Bruder Studio, wofür ihn ein strafender Blick der
Mama zu Teil wird. Da ertönt die Mahnung des Schaffners: „Einsteigen, meine
Herrschaften!" — „Nun lebt alle recht wohl!" sagt Karl mit erleichterter Miene,
und benutzt die Gelegenheit, um dem im Wagen sitzenden andern Herrn, an dem
die ganze Flut des Abschiednehmens vorübergegangen, einige entschuldigende Worte
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