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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dein Stilfser Joch.

Als Nina das Zimmer verlassen hatte, brach Vroni in leidenschaftliche
Selbstklagen aus: Was kann das Geschick mir noch Grausameres zufügen?
Hat es mich deshalb aus dem Schneegrabe erlöst, damit ich die Ursache des
Todes für den treuesten und schwergekränkten Freund sein soll? Muß ich,
nachdem ich in meiner Verblendung und Verschuldung Ihre Seele gemißhandelt
habe, noch zum Mörder Ihres Lebens werden?

Es war eine schwere Aufgabe für Harald, die Verzweifelte einigermaßen
zu beruhigen, und es gelang ihm dies auch nur durch den Hinweis darauf, daß
ihm nur wenige Minuten noch gegönnt sei zu leben. Denn ich fühle es wohl, sagte
er, daß ich sterben werde, aber der Tod ist sür mich jetzt der wohlthuende Abschluß
eines hartgeprüften Lebens. Wohl hat es Augenblicke gegeben, in welchen ich
das Sterben als das höchste Glück betrachtet haben würde. Aber der Schmerz
hat mich geläutert, in der Hoheit der mich umgebenden Natur, in dem Um¬
gange mit einfachen und guten Menschen habe ich Einkehr bei mir selbst ge¬
halten und mich wiedergefunden. Mein altes Leben liegt abgeschlossen, und
wenn mir die Vorsehung versagt, ein neues Leben zu beginnen, so will sie mir
auch den neuen Schmerz ersparen, wie dein Kinde, das tot zur Welt gebracht
wird. Sie hat die Vorsehung zu ihrem Mittel ausersehen, und ich kaun ihr
nur dafür dankbar sein. Lassen Sie mich also in Frieden sterben und nicht
die Vergangenheit beklagen; aber die wenigen Minuten, die mir noch gegönnt
sind, lassen Sie mich dazu benutzen, soweit es noch in meinen schwachen Kräften
steht, Ihnen zu raten und für Sie und das Kind zu sorgen. Sie sind viel¬
leicht geflohen und entbehren jeder Hilfe?

An dem Bette knieend und mit thränenerstickter Stimme erzählte Vroni
die traurige Geschichte ihres Fehis. Sie hatte nach der Flucht ihrem Vater
uicht mehr geschrieben, weil sie schon wenige Tage mich ihrer Ankunft in
Paris durch ein nachfolgendes Mitglied der Truppe erfahren hatte, wie
sehr sie von Lenormant getäuscht worden sei. Von einer Eheschließung habe
selbstverständlich keine Rede sein können, da die Fran des Schauspielers noch
am Leben gewesen sei. Aber wie sehr sie auch durch den Verrat des treulosen
Mannes hintergangen worden sei, er habe es durch die leidenschaftlichen Äußerungen
seiner Liebe dahin zu bringen gewußt, daß sie ihm verziehen und er sie völlig
umgarnt habe. So sei sie eine Zeit lang mit ihm in Frankreich nmycrgezvgcu
und habe sich an seinen künstlerischen Triumphen geweidet. Zuletzt aber, als
sich die schönste Hoffnung des Mutterglücks bei ihr gezeigt habe, sei Leuormant
kühler geworden, er habe sie immer mehr vernachlässigt und anderweitig Aben¬
teuer gesucht und gefunden. Im letzten Sommer Hütten sie sich in Bormio
zur Villeggiatur niedergelassen, und sie habe gehofft, daß die Abgeschlossenheit
und Zurückgezogenheit auf sich ihr die absterbende Neigung dessen, dem sie
ihr alles geopfert, wieder gewinnen würde. Aber sie selber habe fortwährend
gekränkelt und das Haus uicht verlassen können, während Lenormant in dem


Grenzboten I V. 188S.
Auf dein Stilfser Joch.

Als Nina das Zimmer verlassen hatte, brach Vroni in leidenschaftliche
Selbstklagen aus: Was kann das Geschick mir noch Grausameres zufügen?
Hat es mich deshalb aus dem Schneegrabe erlöst, damit ich die Ursache des
Todes für den treuesten und schwergekränkten Freund sein soll? Muß ich,
nachdem ich in meiner Verblendung und Verschuldung Ihre Seele gemißhandelt
habe, noch zum Mörder Ihres Lebens werden?

Es war eine schwere Aufgabe für Harald, die Verzweifelte einigermaßen
zu beruhigen, und es gelang ihm dies auch nur durch den Hinweis darauf, daß
ihm nur wenige Minuten noch gegönnt sei zu leben. Denn ich fühle es wohl, sagte
er, daß ich sterben werde, aber der Tod ist sür mich jetzt der wohlthuende Abschluß
eines hartgeprüften Lebens. Wohl hat es Augenblicke gegeben, in welchen ich
das Sterben als das höchste Glück betrachtet haben würde. Aber der Schmerz
hat mich geläutert, in der Hoheit der mich umgebenden Natur, in dem Um¬
gange mit einfachen und guten Menschen habe ich Einkehr bei mir selbst ge¬
halten und mich wiedergefunden. Mein altes Leben liegt abgeschlossen, und
wenn mir die Vorsehung versagt, ein neues Leben zu beginnen, so will sie mir
auch den neuen Schmerz ersparen, wie dein Kinde, das tot zur Welt gebracht
wird. Sie hat die Vorsehung zu ihrem Mittel ausersehen, und ich kaun ihr
nur dafür dankbar sein. Lassen Sie mich also in Frieden sterben und nicht
die Vergangenheit beklagen; aber die wenigen Minuten, die mir noch gegönnt
sind, lassen Sie mich dazu benutzen, soweit es noch in meinen schwachen Kräften
steht, Ihnen zu raten und für Sie und das Kind zu sorgen. Sie sind viel¬
leicht geflohen und entbehren jeder Hilfe?

An dem Bette knieend und mit thränenerstickter Stimme erzählte Vroni
die traurige Geschichte ihres Fehis. Sie hatte nach der Flucht ihrem Vater
uicht mehr geschrieben, weil sie schon wenige Tage mich ihrer Ankunft in
Paris durch ein nachfolgendes Mitglied der Truppe erfahren hatte, wie
sehr sie von Lenormant getäuscht worden sei. Von einer Eheschließung habe
selbstverständlich keine Rede sein können, da die Fran des Schauspielers noch
am Leben gewesen sei. Aber wie sehr sie auch durch den Verrat des treulosen
Mannes hintergangen worden sei, er habe es durch die leidenschaftlichen Äußerungen
seiner Liebe dahin zu bringen gewußt, daß sie ihm verziehen und er sie völlig
umgarnt habe. So sei sie eine Zeit lang mit ihm in Frankreich nmycrgezvgcu
und habe sich an seinen künstlerischen Triumphen geweidet. Zuletzt aber, als
sich die schönste Hoffnung des Mutterglücks bei ihr gezeigt habe, sei Leuormant
kühler geworden, er habe sie immer mehr vernachlässigt und anderweitig Aben¬
teuer gesucht und gefunden. Im letzten Sommer Hütten sie sich in Bormio
zur Villeggiatur niedergelassen, und sie habe gehofft, daß die Abgeschlossenheit
und Zurückgezogenheit auf sich ihr die absterbende Neigung dessen, dem sie
ihr alles geopfert, wieder gewinnen würde. Aber sie selber habe fortwährend
gekränkelt und das Haus uicht verlassen können, während Lenormant in dem


Grenzboten I V. 188S.
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[0545] Auf dein Stilfser Joch. Als Nina das Zimmer verlassen hatte, brach Vroni in leidenschaftliche Selbstklagen aus: Was kann das Geschick mir noch Grausameres zufügen? Hat es mich deshalb aus dem Schneegrabe erlöst, damit ich die Ursache des Todes für den treuesten und schwergekränkten Freund sein soll? Muß ich, nachdem ich in meiner Verblendung und Verschuldung Ihre Seele gemißhandelt habe, noch zum Mörder Ihres Lebens werden? Es war eine schwere Aufgabe für Harald, die Verzweifelte einigermaßen zu beruhigen, und es gelang ihm dies auch nur durch den Hinweis darauf, daß ihm nur wenige Minuten noch gegönnt sei zu leben. Denn ich fühle es wohl, sagte er, daß ich sterben werde, aber der Tod ist sür mich jetzt der wohlthuende Abschluß eines hartgeprüften Lebens. Wohl hat es Augenblicke gegeben, in welchen ich das Sterben als das höchste Glück betrachtet haben würde. Aber der Schmerz hat mich geläutert, in der Hoheit der mich umgebenden Natur, in dem Um¬ gange mit einfachen und guten Menschen habe ich Einkehr bei mir selbst ge¬ halten und mich wiedergefunden. Mein altes Leben liegt abgeschlossen, und wenn mir die Vorsehung versagt, ein neues Leben zu beginnen, so will sie mir auch den neuen Schmerz ersparen, wie dein Kinde, das tot zur Welt gebracht wird. Sie hat die Vorsehung zu ihrem Mittel ausersehen, und ich kaun ihr nur dafür dankbar sein. Lassen Sie mich also in Frieden sterben und nicht die Vergangenheit beklagen; aber die wenigen Minuten, die mir noch gegönnt sind, lassen Sie mich dazu benutzen, soweit es noch in meinen schwachen Kräften steht, Ihnen zu raten und für Sie und das Kind zu sorgen. Sie sind viel¬ leicht geflohen und entbehren jeder Hilfe? An dem Bette knieend und mit thränenerstickter Stimme erzählte Vroni die traurige Geschichte ihres Fehis. Sie hatte nach der Flucht ihrem Vater uicht mehr geschrieben, weil sie schon wenige Tage mich ihrer Ankunft in Paris durch ein nachfolgendes Mitglied der Truppe erfahren hatte, wie sehr sie von Lenormant getäuscht worden sei. Von einer Eheschließung habe selbstverständlich keine Rede sein können, da die Fran des Schauspielers noch am Leben gewesen sei. Aber wie sehr sie auch durch den Verrat des treulosen Mannes hintergangen worden sei, er habe es durch die leidenschaftlichen Äußerungen seiner Liebe dahin zu bringen gewußt, daß sie ihm verziehen und er sie völlig umgarnt habe. So sei sie eine Zeit lang mit ihm in Frankreich nmycrgezvgcu und habe sich an seinen künstlerischen Triumphen geweidet. Zuletzt aber, als sich die schönste Hoffnung des Mutterglücks bei ihr gezeigt habe, sei Leuormant kühler geworden, er habe sie immer mehr vernachlässigt und anderweitig Aben¬ teuer gesucht und gefunden. Im letzten Sommer Hütten sie sich in Bormio zur Villeggiatur niedergelassen, und sie habe gehofft, daß die Abgeschlossenheit und Zurückgezogenheit auf sich ihr die absterbende Neigung dessen, dem sie ihr alles geopfert, wieder gewinnen würde. Aber sie selber habe fortwährend gekränkelt und das Haus uicht verlassen können, während Lenormant in dem Grenzboten I V. 188S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/545>, abgerufen am 15.01.2025.