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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dein Stilfser Joch.

späten Abend nach Obcrcimmergau, wo das rege Leben schon von fern die
festliche Zeit verkündete. Oben in dem ehemaligen Ettaler Kloster hatte er einen
jungen Bauernburschen angetroffen und in seiner Begleitung den Weg fortgesetzt.
Dieser hatte verschiedne Theaterrequisiten, welche während des Spieles im Laufe
des Sommers schadhaft geworden waren, aus der Reparatur von München
geholt; er war selbst bei den Spielen als "jüdisches Volk" beteiligt, und durch
ihn gelang es unserm Freunde, für die Nacht einen mäßigen Unterschlupf und
für die Vorstellung noch einen kühlen Platz zu erhalten.

Der Schlaf war nur von kurzer Dauer; bereits mit Tagesanbruch dröhnten
Böllerschüsse in vielfachem Echo durch das Thal und riefen die Dorfbewohner
in ihren malerischen Sonntagsgcwändern zur Kirche; dorthin begaben sich
auch die Schützen und die Darsteller des Passionsspicles, um deren Feier mit
einem frommen Hochamt einzuweihen. Dann zog man in ernster Prozession in
das Theater. Eine dichtgedrängte Zuschauermenge, welche zum großen Teile
aus den Landleuten der nähern und weitern Umgegend bestand, in der aber
auch Reisende aller Lebenskreise und Lebensalter, von den Professoren und
Künstlern bis zu den unvermeidlichen englischen Touristen, nicht fehlten, harrte
in Schweigen des Beginnes.

Wendete sich der Blick des Zuschauers von der Bühne, so fiel er auf einen
Kranz grüner Berge, die den Horizont umsäumten, und von der steilsten Anhöhe
erhob sich das Riesenkruzifix, welches der kunstsinnige Beherrscher des Landes
den frommen Bewohnern des Thales als Anerkennung ihrer Weihspiele hatte
errichten lassen. Das Spiel begann und erregte in Harald nicht nur wegen
der künstlerischen Ausstattung der einzelnen Szenen und lebenden Bilder eine
wachsende Teilnahme; in schmuckloser, aber umso rührenderer Sprache und in
einer kindlich naiven Verbindung der Weissagungen des alten Bundes mit den
Erfüllungen des neuen sah Harald die größte Tragödie, welche die Menschheit
je gesehen hatte, sich ihm in sinnlicher Wahrnehmung gestalten. Und wie diese
Geschichte für alle Völker bestimmt war, so entbehrte sie auch in diesem kleinern
Banne der Einwirkung ans alle Zuschauer nicht. Aber trotzdem waren die
Eindrücke durchaus verschiedne; das Landvolk ergriff die Darstellung mit der
ihm eignen realistischen Auffassung und wechselte unaufhörlich in seiner Stimmung;
es weinte laut bei den rührenden Szenen, wenn Christus, in einer wahrhaft
göttlichen Milde dargestellt, als Dulder Verachtung, Spott und Hohn, Kreuz,
Geißelung und Tod auf sich nahm; es war ergrimmt oder frohlockend, wenn
Judas, der Bösewicht, auftrat, in welchem der Verfasser des Spiels die
Bestandteile von einem modernen Volkstheaterintriganten und einem mittelalter¬
lichen Hanswurst vereinigt hatte. Die gebildete Zuhörerschaft verhielt sich anfangs
skeptisch, aber allmählich bekam die feierliche Stimmung die Oberhand, und es
herrschte zuweilen eine Stille, als ob jeder sich fürchtete, schon mit seinem Atem
die allgemeine Weihe zu stören. Harald, der theatralischen Darstellungen


Auf dein Stilfser Joch.

späten Abend nach Obcrcimmergau, wo das rege Leben schon von fern die
festliche Zeit verkündete. Oben in dem ehemaligen Ettaler Kloster hatte er einen
jungen Bauernburschen angetroffen und in seiner Begleitung den Weg fortgesetzt.
Dieser hatte verschiedne Theaterrequisiten, welche während des Spieles im Laufe
des Sommers schadhaft geworden waren, aus der Reparatur von München
geholt; er war selbst bei den Spielen als „jüdisches Volk" beteiligt, und durch
ihn gelang es unserm Freunde, für die Nacht einen mäßigen Unterschlupf und
für die Vorstellung noch einen kühlen Platz zu erhalten.

Der Schlaf war nur von kurzer Dauer; bereits mit Tagesanbruch dröhnten
Böllerschüsse in vielfachem Echo durch das Thal und riefen die Dorfbewohner
in ihren malerischen Sonntagsgcwändern zur Kirche; dorthin begaben sich
auch die Schützen und die Darsteller des Passionsspicles, um deren Feier mit
einem frommen Hochamt einzuweihen. Dann zog man in ernster Prozession in
das Theater. Eine dichtgedrängte Zuschauermenge, welche zum großen Teile
aus den Landleuten der nähern und weitern Umgegend bestand, in der aber
auch Reisende aller Lebenskreise und Lebensalter, von den Professoren und
Künstlern bis zu den unvermeidlichen englischen Touristen, nicht fehlten, harrte
in Schweigen des Beginnes.

Wendete sich der Blick des Zuschauers von der Bühne, so fiel er auf einen
Kranz grüner Berge, die den Horizont umsäumten, und von der steilsten Anhöhe
erhob sich das Riesenkruzifix, welches der kunstsinnige Beherrscher des Landes
den frommen Bewohnern des Thales als Anerkennung ihrer Weihspiele hatte
errichten lassen. Das Spiel begann und erregte in Harald nicht nur wegen
der künstlerischen Ausstattung der einzelnen Szenen und lebenden Bilder eine
wachsende Teilnahme; in schmuckloser, aber umso rührenderer Sprache und in
einer kindlich naiven Verbindung der Weissagungen des alten Bundes mit den
Erfüllungen des neuen sah Harald die größte Tragödie, welche die Menschheit
je gesehen hatte, sich ihm in sinnlicher Wahrnehmung gestalten. Und wie diese
Geschichte für alle Völker bestimmt war, so entbehrte sie auch in diesem kleinern
Banne der Einwirkung ans alle Zuschauer nicht. Aber trotzdem waren die
Eindrücke durchaus verschiedne; das Landvolk ergriff die Darstellung mit der
ihm eignen realistischen Auffassung und wechselte unaufhörlich in seiner Stimmung;
es weinte laut bei den rührenden Szenen, wenn Christus, in einer wahrhaft
göttlichen Milde dargestellt, als Dulder Verachtung, Spott und Hohn, Kreuz,
Geißelung und Tod auf sich nahm; es war ergrimmt oder frohlockend, wenn
Judas, der Bösewicht, auftrat, in welchem der Verfasser des Spiels die
Bestandteile von einem modernen Volkstheaterintriganten und einem mittelalter¬
lichen Hanswurst vereinigt hatte. Die gebildete Zuhörerschaft verhielt sich anfangs
skeptisch, aber allmählich bekam die feierliche Stimmung die Oberhand, und es
herrschte zuweilen eine Stille, als ob jeder sich fürchtete, schon mit seinem Atem
die allgemeine Weihe zu stören. Harald, der theatralischen Darstellungen


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[0504] Auf dein Stilfser Joch. späten Abend nach Obcrcimmergau, wo das rege Leben schon von fern die festliche Zeit verkündete. Oben in dem ehemaligen Ettaler Kloster hatte er einen jungen Bauernburschen angetroffen und in seiner Begleitung den Weg fortgesetzt. Dieser hatte verschiedne Theaterrequisiten, welche während des Spieles im Laufe des Sommers schadhaft geworden waren, aus der Reparatur von München geholt; er war selbst bei den Spielen als „jüdisches Volk" beteiligt, und durch ihn gelang es unserm Freunde, für die Nacht einen mäßigen Unterschlupf und für die Vorstellung noch einen kühlen Platz zu erhalten. Der Schlaf war nur von kurzer Dauer; bereits mit Tagesanbruch dröhnten Böllerschüsse in vielfachem Echo durch das Thal und riefen die Dorfbewohner in ihren malerischen Sonntagsgcwändern zur Kirche; dorthin begaben sich auch die Schützen und die Darsteller des Passionsspicles, um deren Feier mit einem frommen Hochamt einzuweihen. Dann zog man in ernster Prozession in das Theater. Eine dichtgedrängte Zuschauermenge, welche zum großen Teile aus den Landleuten der nähern und weitern Umgegend bestand, in der aber auch Reisende aller Lebenskreise und Lebensalter, von den Professoren und Künstlern bis zu den unvermeidlichen englischen Touristen, nicht fehlten, harrte in Schweigen des Beginnes. Wendete sich der Blick des Zuschauers von der Bühne, so fiel er auf einen Kranz grüner Berge, die den Horizont umsäumten, und von der steilsten Anhöhe erhob sich das Riesenkruzifix, welches der kunstsinnige Beherrscher des Landes den frommen Bewohnern des Thales als Anerkennung ihrer Weihspiele hatte errichten lassen. Das Spiel begann und erregte in Harald nicht nur wegen der künstlerischen Ausstattung der einzelnen Szenen und lebenden Bilder eine wachsende Teilnahme; in schmuckloser, aber umso rührenderer Sprache und in einer kindlich naiven Verbindung der Weissagungen des alten Bundes mit den Erfüllungen des neuen sah Harald die größte Tragödie, welche die Menschheit je gesehen hatte, sich ihm in sinnlicher Wahrnehmung gestalten. Und wie diese Geschichte für alle Völker bestimmt war, so entbehrte sie auch in diesem kleinern Banne der Einwirkung ans alle Zuschauer nicht. Aber trotzdem waren die Eindrücke durchaus verschiedne; das Landvolk ergriff die Darstellung mit der ihm eignen realistischen Auffassung und wechselte unaufhörlich in seiner Stimmung; es weinte laut bei den rührenden Szenen, wenn Christus, in einer wahrhaft göttlichen Milde dargestellt, als Dulder Verachtung, Spott und Hohn, Kreuz, Geißelung und Tod auf sich nahm; es war ergrimmt oder frohlockend, wenn Judas, der Bösewicht, auftrat, in welchem der Verfasser des Spiels die Bestandteile von einem modernen Volkstheaterintriganten und einem mittelalter¬ lichen Hanswurst vereinigt hatte. Die gebildete Zuhörerschaft verhielt sich anfangs skeptisch, aber allmählich bekam die feierliche Stimmung die Oberhand, und es herrschte zuweilen eine Stille, als ob jeder sich fürchtete, schon mit seinem Atem die allgemeine Weihe zu stören. Harald, der theatralischen Darstellungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/504>, abgerufen am 15.01.2025.