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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Das Malerische in der Plastik.

Tendenz in diesen und andern Reliefs der hellenistischen Epoche entwickelt erscheint,
so sind die malerischen Hintergrunde und die Kompositionen im Ganzen doch
noch nicht nach bestimmten perspektivischen Gesetzen angelegt. Bei den römischen
Reliefs sind die Mängel der perspektivischen Raumbehandlung meist umso auf¬
fälliger, je mehr die malerische Jnszenirung an Ausdehnung gewonnen hat. Zu
einer theoretischen Erforschung der Gesetze der Perspektive waren im Altertum
-- durch Euklid -- nur erst ganz geringe Anfänge gemacht worden. Erst in
der Zeit der Renaissance, mit der beginnenden Wiedergeburt der Künste, ward
diese Aufgabe von neuem, mit leidenschaftlichem Eifer, ,in Angriff genommen,
und zwar von den Künstlern selbst, für den Zweck der unmittelbaren praktischen
Anwendung. Die eigentliche Ausbildung der mathematischen Theorie der Per¬
spektive blieb einer spätern Zeit vorbehalten. Der erste, der in der Epoche der
Renaissance den landschaftlichen und architektonischen Hintergrund und die ganze
Komposition des Reliefs nach bestimmten perspektivischen Prinzipien behandelte,
war Ghiberti. In den berühmten Reliefbildern, mit denen er das Ostportal
des Florentiner Baptisteriums schmückte, erscheint der malerische Reliefstil zuerst
mit ganz konsequenter Entschiedenheit durchgebildet.

Sind diese Reliefs, in denen uns das Schönheitsgefühl der Renaissance
schon so glänzend entgegentritt, im ganzen dennoch, wie die Anhänger des
"strengen" Reliefstils behaupten, nur eine künstlerische Verirrung?

Zunächst ist es von Interesse, unter Berufung auf die Darlegungen Haucks
zu konstatiren, daß diese Reliefs den Gesetzen der modernen (durch Brehsig und
Poncelet begründeten) sogenannten Nelicfperspektivc keineswegs durchaus ent¬
sprechen. Hauck bemerkt, daß sie mit den Forderungen dieser Neliefpcrspcktivc,
nur so weit es sich um die Abbildung geradliniger, ebenflächiger Gebilde handelt,
übereinstimmen. "Bei krummflächigcn Objekten, also namentlich bei menschlichen
Figuren, zeigen sich ganz bedeutende Abweichungen. Macht man den Versuch,
die Figuren in einem Ghibertischen Relief genau uach den Gesetzen der Relief-
Perspektive zu bilden, so ergeben sich für sämtliche, nicht ganz in der Mitte
des Reliefbildes angebrachte Figuren unmögliche, schiefgewölbte Formen, welche
das künstlerisch gebildete Ange in einer Weise verletzen, daß der Widerspruch
der Künstler gegen die Neliefperspektive leicht erklärlich wird."

Die Berechtigung dieser freieren perspektivischen Behandlung erscheint
Hauck gleichwohl zweifelhaft: "Man hat sich nun zwar mit dem Zugeständnisse
zu helfen gesucht, daß es dem Künstler gestattet sei, bei runden Körpern, be¬
sonders bei menschlichen Figuren, von der streng mathematischen Form abzu¬
weichen, ganz in derselben Weise, wie man auch in der Planperspektive ge¬
nötigt ist, die Berechtigung von Abweichungen anzuerkennen. Indessen liegt
hier die Sache wesentlich anders. Sicht man von dem Porträtfach ab, so
kleidet die Malerei allgemein ihre Darstellungen in Szenerien ein. In ihr wird
also die geometrische Perspektive immer das maßgebende Prinzip für die Ge-


Das Malerische in der Plastik.

Tendenz in diesen und andern Reliefs der hellenistischen Epoche entwickelt erscheint,
so sind die malerischen Hintergrunde und die Kompositionen im Ganzen doch
noch nicht nach bestimmten perspektivischen Gesetzen angelegt. Bei den römischen
Reliefs sind die Mängel der perspektivischen Raumbehandlung meist umso auf¬
fälliger, je mehr die malerische Jnszenirung an Ausdehnung gewonnen hat. Zu
einer theoretischen Erforschung der Gesetze der Perspektive waren im Altertum
— durch Euklid — nur erst ganz geringe Anfänge gemacht worden. Erst in
der Zeit der Renaissance, mit der beginnenden Wiedergeburt der Künste, ward
diese Aufgabe von neuem, mit leidenschaftlichem Eifer, ,in Angriff genommen,
und zwar von den Künstlern selbst, für den Zweck der unmittelbaren praktischen
Anwendung. Die eigentliche Ausbildung der mathematischen Theorie der Per¬
spektive blieb einer spätern Zeit vorbehalten. Der erste, der in der Epoche der
Renaissance den landschaftlichen und architektonischen Hintergrund und die ganze
Komposition des Reliefs nach bestimmten perspektivischen Prinzipien behandelte,
war Ghiberti. In den berühmten Reliefbildern, mit denen er das Ostportal
des Florentiner Baptisteriums schmückte, erscheint der malerische Reliefstil zuerst
mit ganz konsequenter Entschiedenheit durchgebildet.

Sind diese Reliefs, in denen uns das Schönheitsgefühl der Renaissance
schon so glänzend entgegentritt, im ganzen dennoch, wie die Anhänger des
„strengen" Reliefstils behaupten, nur eine künstlerische Verirrung?

Zunächst ist es von Interesse, unter Berufung auf die Darlegungen Haucks
zu konstatiren, daß diese Reliefs den Gesetzen der modernen (durch Brehsig und
Poncelet begründeten) sogenannten Nelicfperspektivc keineswegs durchaus ent¬
sprechen. Hauck bemerkt, daß sie mit den Forderungen dieser Neliefpcrspcktivc,
nur so weit es sich um die Abbildung geradliniger, ebenflächiger Gebilde handelt,
übereinstimmen. „Bei krummflächigcn Objekten, also namentlich bei menschlichen
Figuren, zeigen sich ganz bedeutende Abweichungen. Macht man den Versuch,
die Figuren in einem Ghibertischen Relief genau uach den Gesetzen der Relief-
Perspektive zu bilden, so ergeben sich für sämtliche, nicht ganz in der Mitte
des Reliefbildes angebrachte Figuren unmögliche, schiefgewölbte Formen, welche
das künstlerisch gebildete Ange in einer Weise verletzen, daß der Widerspruch
der Künstler gegen die Neliefperspektive leicht erklärlich wird."

Die Berechtigung dieser freieren perspektivischen Behandlung erscheint
Hauck gleichwohl zweifelhaft: „Man hat sich nun zwar mit dem Zugeständnisse
zu helfen gesucht, daß es dem Künstler gestattet sei, bei runden Körpern, be¬
sonders bei menschlichen Figuren, von der streng mathematischen Form abzu¬
weichen, ganz in derselben Weise, wie man auch in der Planperspektive ge¬
nötigt ist, die Berechtigung von Abweichungen anzuerkennen. Indessen liegt
hier die Sache wesentlich anders. Sicht man von dem Porträtfach ab, so
kleidet die Malerei allgemein ihre Darstellungen in Szenerien ein. In ihr wird
also die geometrische Perspektive immer das maßgebende Prinzip für die Ge-


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[0494] Das Malerische in der Plastik. Tendenz in diesen und andern Reliefs der hellenistischen Epoche entwickelt erscheint, so sind die malerischen Hintergrunde und die Kompositionen im Ganzen doch noch nicht nach bestimmten perspektivischen Gesetzen angelegt. Bei den römischen Reliefs sind die Mängel der perspektivischen Raumbehandlung meist umso auf¬ fälliger, je mehr die malerische Jnszenirung an Ausdehnung gewonnen hat. Zu einer theoretischen Erforschung der Gesetze der Perspektive waren im Altertum — durch Euklid — nur erst ganz geringe Anfänge gemacht worden. Erst in der Zeit der Renaissance, mit der beginnenden Wiedergeburt der Künste, ward diese Aufgabe von neuem, mit leidenschaftlichem Eifer, ,in Angriff genommen, und zwar von den Künstlern selbst, für den Zweck der unmittelbaren praktischen Anwendung. Die eigentliche Ausbildung der mathematischen Theorie der Per¬ spektive blieb einer spätern Zeit vorbehalten. Der erste, der in der Epoche der Renaissance den landschaftlichen und architektonischen Hintergrund und die ganze Komposition des Reliefs nach bestimmten perspektivischen Prinzipien behandelte, war Ghiberti. In den berühmten Reliefbildern, mit denen er das Ostportal des Florentiner Baptisteriums schmückte, erscheint der malerische Reliefstil zuerst mit ganz konsequenter Entschiedenheit durchgebildet. Sind diese Reliefs, in denen uns das Schönheitsgefühl der Renaissance schon so glänzend entgegentritt, im ganzen dennoch, wie die Anhänger des „strengen" Reliefstils behaupten, nur eine künstlerische Verirrung? Zunächst ist es von Interesse, unter Berufung auf die Darlegungen Haucks zu konstatiren, daß diese Reliefs den Gesetzen der modernen (durch Brehsig und Poncelet begründeten) sogenannten Nelicfperspektivc keineswegs durchaus ent¬ sprechen. Hauck bemerkt, daß sie mit den Forderungen dieser Neliefpcrspcktivc, nur so weit es sich um die Abbildung geradliniger, ebenflächiger Gebilde handelt, übereinstimmen. „Bei krummflächigcn Objekten, also namentlich bei menschlichen Figuren, zeigen sich ganz bedeutende Abweichungen. Macht man den Versuch, die Figuren in einem Ghibertischen Relief genau uach den Gesetzen der Relief- Perspektive zu bilden, so ergeben sich für sämtliche, nicht ganz in der Mitte des Reliefbildes angebrachte Figuren unmögliche, schiefgewölbte Formen, welche das künstlerisch gebildete Ange in einer Weise verletzen, daß der Widerspruch der Künstler gegen die Neliefperspektive leicht erklärlich wird." Die Berechtigung dieser freieren perspektivischen Behandlung erscheint Hauck gleichwohl zweifelhaft: „Man hat sich nun zwar mit dem Zugeständnisse zu helfen gesucht, daß es dem Künstler gestattet sei, bei runden Körpern, be¬ sonders bei menschlichen Figuren, von der streng mathematischen Form abzu¬ weichen, ganz in derselben Weise, wie man auch in der Planperspektive ge¬ nötigt ist, die Berechtigung von Abweichungen anzuerkennen. Indessen liegt hier die Sache wesentlich anders. Sicht man von dem Porträtfach ab, so kleidet die Malerei allgemein ihre Darstellungen in Szenerien ein. In ihr wird also die geometrische Perspektive immer das maßgebende Prinzip für die Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/494>, abgerufen am 15.01.2025.