Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Notizen. allein die Sucht nach Genuß, Hieraus hat sich ein Luxus entfaltet, so mächtig, So oft ich von Wien zu Besuch nach Berlin fahre, drängt es mich, diese Gewiß ist, daß, wenn man sagt, die Welt blicke auf Berlin, hierunter nicht Auf deu Verfall der Berliner Gesellschaft aber hat der Prozeß Graf ein P. V. Selbsthilfe gegen den Wucher. Im preußischen Saargebiete hat sich vor Der Landstrich, für welche" der Verein gegründet worden ist, gehört zu den Darin liegt zunächst eine gewisse Kritik unsrer Gesetzgebung. Angemessen der Zeitströmung hatte mau 1867 bei uns den Begriff des Wuchers Grenzbvten IV. 1885. 51
Notizen. allein die Sucht nach Genuß, Hieraus hat sich ein Luxus entfaltet, so mächtig, So oft ich von Wien zu Besuch nach Berlin fahre, drängt es mich, diese Gewiß ist, daß, wenn man sagt, die Welt blicke auf Berlin, hierunter nicht Auf deu Verfall der Berliner Gesellschaft aber hat der Prozeß Graf ein P. V. Selbsthilfe gegen den Wucher. Im preußischen Saargebiete hat sich vor Der Landstrich, für welche» der Verein gegründet worden ist, gehört zu den Darin liegt zunächst eine gewisse Kritik unsrer Gesetzgebung. Angemessen der Zeitströmung hatte mau 1867 bei uns den Begriff des Wuchers Grenzbvten IV. 1885. 51
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Notizen.
allein die Sucht nach Genuß, Hieraus hat sich ein Luxus entfaltet, so mächtig,
daß er die Gesellschaft materiell und moralisch in Verfall sinken lassen muß.
So oft ich von Wien zu Besuch nach Berlin fahre, drängt es mich, diese
beiden Städte in rechten Vergleich zu stellen, und ich glaube endlich eine geeignete
Grundlage dafür gefunden zu haben. Man spricht immer von dem Verfalle Wiens
und dem Aufblühen Berlins. Wer Verfall und Aufblühen lediglich nach dem
Maßstabe des Verbrauchs an Fleisch, Bier, Wein:e. feststellt, der mag bestätigen,
daß Wien im Verfall und Berlin im Aufblühen begriffen sei. Berlin hat un¬
zweifelhaft große quantitative Fortschritte gemacht, ob aber auch qualitative? Wer
wagt es, diese Frage zu bejahen? Es ist über Wien derselbe moderne Schwindel
gekommen wie über Berlin, und äußerlich betrachtet uuter Berücksichtigung der be¬
kannten Korruption in Wien, insbesondre der durchwegs käuflichen Wiener Tages¬
presse, scheint Wien noch weit stärker von jenem modernen Geiste durchfressen zu
sein als Berlin. Allein dieser Schein trügt. Spckulationsbörse und Korruption
sind zwar mächtig in Wien, doch fast nur nach außen und uach oben hin. Das
mittlere und niedere Volk ist davon kaum oder nur flüchtig berührt worden, weil
es am Althergebrachten hängt, etwas schwerfällig und indolent ist, insbesondre den
Nührigkcits-, Nachnhmnngs- und Ncuerungsdrang des Berliners nicht besitzt, mit
einem Worte, weil es konservativ ist.
Gewiß ist, daß, wenn man sagt, die Welt blicke auf Berlin, hierunter nicht
die Stadt Berlin, sondern der deutsche Kaiser mit dem deutschen Reichskanzler ver¬
standen wird. Sonst hat Berlin keine führende Stellung errungen, weder in der
Welt uoch im Reiche, weder im Gebiete der Kunst noch der Literatur, höchstens
in Bezug auf die Börsenspekulation und was damit verbunden ist.
Auf deu Verfall der Berliner Gesellschaft aber hat der Prozeß Graf ein
grelles Schlaglicht geworfen. Nicht etwa wegen der Prozeßverhandlungen, sondern
weil die Berliner Gesellschaft, obschon durch eines ihrer hervorragenden Mitglieder
arg kompromittirt, anstatt dasselbe mit Entschiedenheit zu desavouiren, in gesinnungs-
verwandtcr Empfindsamkeit Partei ergriff zu Gunsten des schmachtenden Liebhabers
einer Zolaschcu Weibsgestalt.
P. V.
Selbsthilfe gegen den Wucher. Im preußischen Saargebiete hat sich vor
kurzem ein Verein gegen deu Wucher gebildet, der in mancher Beziehung unsre
Aufmerksamkeit verdient.
Der Landstrich, für welche» der Verein gegründet worden ist, gehört zu den
bevölkertsten. Vou dem großen Industriegebiete Saarbrücken-Maistatt-Burdach ab¬
wärts bis zum Einfluß der Saar in die Mosel, also die Gegend von Saarlouis,
Fraulautern, Beckingen, Merzig, Sanrburg, Beurig. Wiltiugeu: das ist das Arbeits¬
gebiet ^des Vereins. Ein Gebiet, das neben Garten- und Ackerwirtschaft auch Obst-
uud Weinban treibt, von der Natur nicht gerade ungünstig gestellt, aber doch nicht
so im Fortschreite» begriffen ist, wie man es hoffen könnte. Hier also schreitet man
rüstig zur Selbsthilfe gegen deu Wucher.
Darin liegt zunächst eine gewisse Kritik unsrer Gesetzgebung.
Angemessen der Zeitströmung hatte mau 1867 bei uns den Begriff des Wuchers
sozusagen aus der Gesetzgebung entfernt, wenigstens sofern die frühere Zinsbe-
schränknng (5 Proz., 6 Proz.) aufgehoben wurde. Allerdings wurde durch diese
bequeme Methode des liüssor ^llor hie und da Gutes ermöglicht, aber die Klagen
wurden noch lebhafter, daß viele Unerfahrene von geriebenen Kapitalisten in wuche-
Grenzbvten IV. 1885. 51
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