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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts.

zur Einseitigkeit zurückzukehren, ging man in Österreich noch ein gut Stück über
den alten preußischen Lehrplan hinaus. Noch heute besteht im wesentlichen
dieser österreichische Unterrichtsplan. Wenn in Osterreich über Überbürdung
der Schüler geklagt wird, so mag das seinen guten Grund haben, die Gym¬
nasien sollen da -- schon gehemmt durch die Vielsprachigkeit des Landes --
in einem kürzeren Kursus als die deutschen in den alten Sprachen nicht
weniger, in Mathematik und Naturwissenschaften mehr leisten.

Mit dem Anbruch der Reaktion trat an die Spitze des preußischen Kultus¬
ministeriums v. Raumer. Das Dezernat für das Gymnasialwesen erhielt uuter
ihm Wiese, er gehörte zu derjenigen Richtung, welche Hnmcuüsmns und Christen¬
tum vereinigen zu können glaubte. Seine Überzeugung war, daß mau zu einer
größeren Einfachheit und Einheit des Unterrichts und zu sorgfältiger Veachtnng
und Schonung der besondern Eigentümlichkeiten des Schülers zurückkehren müsse,
sein Ideal waren die englischen Verhältnisse, wo sich die Schicken in allem
wesentlichen noch auf dem Standpunkte des sechzehnten Jahrhunderts befanden,
beziehentlich die älteren Fürstenschulen. Der rückhaltloseste Vertreter dieser An¬
sicht war Seysfert mit seiner Lobpreisung der lateinischen Versifikation. Ebenso
entschieden sprachen sich die Philologenversammlungen der fünfziger Jahre für
Ausdehnung des lateinischen Unterrichtes und besonders für Beibehaltung des
freien lateinischen Aufsatzes aus, ja die Anfertigung "griechischer Poüme" er¬
hoffte man schon wieder. Eigentlich waren viel einschneidendere Veränderungen
des Lehrplanes und der Prüfungsordnung unter Wieses Leitung zu erwarten,
als sie in Wirklichkeit erfolgt sind. Er begnügte sich damit, eine "Konzentration
des Unterrichts" zu verlangen, welche durch zeitweilige Kombination des latei¬
nischen und deutscheu Unterrichtes und durch Kürzung des naturwissenschaftlichen
erreicht wurde. Im Prüfungsreglement waren die Änderungen noch gering¬
fügiger, es wurde hier an Stelle der schriftlichen Übersetzung aus dem Griechischen
ein griechisches Skriptum eingeführt, freilich mit dem Erfolge, daß Wiese selbst
wenige Jahre darauf über die überwiegende Beschäftigung mit griechischen Skripta
und Extemporalia klagt. Beachtenswert sind einige Bestimmungen allgemeinen
Charakters, wie daß ungenügende Leistung in Nebenfächern durch eine hervor¬
ragende Leistung in einem Hauptfache ausgeglichen werden könne, daß ferner
der Ausfall der Prüfung nicht als das in letzter Instanz entscheidende bei der
Beurteilung des Abiturienten angesehen werden könne, vielmehr müsse das Urteil
bei den Lehrern im wesentlichen schon vor der Prüfung feststehen.

Das war die Revision, welcher Schutzes Einrichtungen unterzogen wurden.
Paulsen behauptet wohl mit Recht, daß sie ihr Ziel nicht erreicht habe, denn
weder ist die Überbürdung beseitigt, noch ist die Einheit und Einfachheit des
Unterrichts zurückgekehrt und ebensowenig ist die Fertigkeit im Gebrauche der
lateinischen Sprache, das Mittel, welches zur Einfachheit des Unterrichts führen
sollte, in genügendem Maße erreicht worden. Die Klagen und Verbesscmugs-


Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts.

zur Einseitigkeit zurückzukehren, ging man in Österreich noch ein gut Stück über
den alten preußischen Lehrplan hinaus. Noch heute besteht im wesentlichen
dieser österreichische Unterrichtsplan. Wenn in Osterreich über Überbürdung
der Schüler geklagt wird, so mag das seinen guten Grund haben, die Gym¬
nasien sollen da — schon gehemmt durch die Vielsprachigkeit des Landes —
in einem kürzeren Kursus als die deutschen in den alten Sprachen nicht
weniger, in Mathematik und Naturwissenschaften mehr leisten.

Mit dem Anbruch der Reaktion trat an die Spitze des preußischen Kultus¬
ministeriums v. Raumer. Das Dezernat für das Gymnasialwesen erhielt uuter
ihm Wiese, er gehörte zu derjenigen Richtung, welche Hnmcuüsmns und Christen¬
tum vereinigen zu können glaubte. Seine Überzeugung war, daß mau zu einer
größeren Einfachheit und Einheit des Unterrichts und zu sorgfältiger Veachtnng
und Schonung der besondern Eigentümlichkeiten des Schülers zurückkehren müsse,
sein Ideal waren die englischen Verhältnisse, wo sich die Schicken in allem
wesentlichen noch auf dem Standpunkte des sechzehnten Jahrhunderts befanden,
beziehentlich die älteren Fürstenschulen. Der rückhaltloseste Vertreter dieser An¬
sicht war Seysfert mit seiner Lobpreisung der lateinischen Versifikation. Ebenso
entschieden sprachen sich die Philologenversammlungen der fünfziger Jahre für
Ausdehnung des lateinischen Unterrichtes und besonders für Beibehaltung des
freien lateinischen Aufsatzes aus, ja die Anfertigung „griechischer Poüme" er¬
hoffte man schon wieder. Eigentlich waren viel einschneidendere Veränderungen
des Lehrplanes und der Prüfungsordnung unter Wieses Leitung zu erwarten,
als sie in Wirklichkeit erfolgt sind. Er begnügte sich damit, eine „Konzentration
des Unterrichts" zu verlangen, welche durch zeitweilige Kombination des latei¬
nischen und deutscheu Unterrichtes und durch Kürzung des naturwissenschaftlichen
erreicht wurde. Im Prüfungsreglement waren die Änderungen noch gering¬
fügiger, es wurde hier an Stelle der schriftlichen Übersetzung aus dem Griechischen
ein griechisches Skriptum eingeführt, freilich mit dem Erfolge, daß Wiese selbst
wenige Jahre darauf über die überwiegende Beschäftigung mit griechischen Skripta
und Extemporalia klagt. Beachtenswert sind einige Bestimmungen allgemeinen
Charakters, wie daß ungenügende Leistung in Nebenfächern durch eine hervor¬
ragende Leistung in einem Hauptfache ausgeglichen werden könne, daß ferner
der Ausfall der Prüfung nicht als das in letzter Instanz entscheidende bei der
Beurteilung des Abiturienten angesehen werden könne, vielmehr müsse das Urteil
bei den Lehrern im wesentlichen schon vor der Prüfung feststehen.

Das war die Revision, welcher Schutzes Einrichtungen unterzogen wurden.
Paulsen behauptet wohl mit Recht, daß sie ihr Ziel nicht erreicht habe, denn
weder ist die Überbürdung beseitigt, noch ist die Einheit und Einfachheit des
Unterrichts zurückgekehrt und ebensowenig ist die Fertigkeit im Gebrauche der
lateinischen Sprache, das Mittel, welches zur Einfachheit des Unterrichts führen
sollte, in genügendem Maße erreicht worden. Die Klagen und Verbesscmugs-


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[0285] Zur Geschichte des gelehrton Unterrichts. zur Einseitigkeit zurückzukehren, ging man in Österreich noch ein gut Stück über den alten preußischen Lehrplan hinaus. Noch heute besteht im wesentlichen dieser österreichische Unterrichtsplan. Wenn in Osterreich über Überbürdung der Schüler geklagt wird, so mag das seinen guten Grund haben, die Gym¬ nasien sollen da — schon gehemmt durch die Vielsprachigkeit des Landes — in einem kürzeren Kursus als die deutschen in den alten Sprachen nicht weniger, in Mathematik und Naturwissenschaften mehr leisten. Mit dem Anbruch der Reaktion trat an die Spitze des preußischen Kultus¬ ministeriums v. Raumer. Das Dezernat für das Gymnasialwesen erhielt uuter ihm Wiese, er gehörte zu derjenigen Richtung, welche Hnmcuüsmns und Christen¬ tum vereinigen zu können glaubte. Seine Überzeugung war, daß mau zu einer größeren Einfachheit und Einheit des Unterrichts und zu sorgfältiger Veachtnng und Schonung der besondern Eigentümlichkeiten des Schülers zurückkehren müsse, sein Ideal waren die englischen Verhältnisse, wo sich die Schicken in allem wesentlichen noch auf dem Standpunkte des sechzehnten Jahrhunderts befanden, beziehentlich die älteren Fürstenschulen. Der rückhaltloseste Vertreter dieser An¬ sicht war Seysfert mit seiner Lobpreisung der lateinischen Versifikation. Ebenso entschieden sprachen sich die Philologenversammlungen der fünfziger Jahre für Ausdehnung des lateinischen Unterrichtes und besonders für Beibehaltung des freien lateinischen Aufsatzes aus, ja die Anfertigung „griechischer Poüme" er¬ hoffte man schon wieder. Eigentlich waren viel einschneidendere Veränderungen des Lehrplanes und der Prüfungsordnung unter Wieses Leitung zu erwarten, als sie in Wirklichkeit erfolgt sind. Er begnügte sich damit, eine „Konzentration des Unterrichts" zu verlangen, welche durch zeitweilige Kombination des latei¬ nischen und deutscheu Unterrichtes und durch Kürzung des naturwissenschaftlichen erreicht wurde. Im Prüfungsreglement waren die Änderungen noch gering¬ fügiger, es wurde hier an Stelle der schriftlichen Übersetzung aus dem Griechischen ein griechisches Skriptum eingeführt, freilich mit dem Erfolge, daß Wiese selbst wenige Jahre darauf über die überwiegende Beschäftigung mit griechischen Skripta und Extemporalia klagt. Beachtenswert sind einige Bestimmungen allgemeinen Charakters, wie daß ungenügende Leistung in Nebenfächern durch eine hervor¬ ragende Leistung in einem Hauptfache ausgeglichen werden könne, daß ferner der Ausfall der Prüfung nicht als das in letzter Instanz entscheidende bei der Beurteilung des Abiturienten angesehen werden könne, vielmehr müsse das Urteil bei den Lehrern im wesentlichen schon vor der Prüfung feststehen. Das war die Revision, welcher Schutzes Einrichtungen unterzogen wurden. Paulsen behauptet wohl mit Recht, daß sie ihr Ziel nicht erreicht habe, denn weder ist die Überbürdung beseitigt, noch ist die Einheit und Einfachheit des Unterrichts zurückgekehrt und ebensowenig ist die Fertigkeit im Gebrauche der lateinischen Sprache, das Mittel, welches zur Einfachheit des Unterrichts führen sollte, in genügendem Maße erreicht worden. Die Klagen und Verbesscmugs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/285>, abgerufen am 15.01.2025.