Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Borufsklafsenwahl. so Wird der Moment gekommen sein, die Gleichwertigkeit der Stimmen durch Wir kehren damit zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtung zurück. Das Die proportionale Borufsklafsenwahl. so Wird der Moment gekommen sein, die Gleichwertigkeit der Stimmen durch Wir kehren damit zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtung zurück. Das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196872"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Borufsklafsenwahl.</fw><lb/> <p xml:id="ID_389" prev="#ID_388"> so Wird der Moment gekommen sein, die Gleichwertigkeit der Stimmen durch<lb/> eine Skala zu ersetzen, welche nach der Besteuerung, dem Bildungsgrade oder<lb/> einem sonst qualifizirten Abstufungsfaktor verschiedenartig zu bemessen ist. Es<lb/> könnte dabei die Seßhaftigkeit, das Dienstverhältnis, der Umfang des Betriebes<lb/> u. s. w. in Betracht gezogen werden, sodaß die scheinbare Benachteiligung der<lb/> minderbewerteten Stimmeuklassen durch die ergänzende Vertretung ihrer höher¬<lb/> stehenden Berufs genossen ausgeglichen würde. Das Verhältnis des Arbeitgebers<lb/> zum Arbeiter verlöre zum guten Teil von der Schärfe, die der Unterschied<lb/> des Besitzstandes fühlbar macht; denn der Verband des Berufsinteresses würde<lb/> beide Gruppen umschließen und das materielle Interesse am wirtschaftlichen<lb/> Gedeihen des Unternehmens eine natürliche Allianz schaffen. Auch die Alters¬<lb/> grenze der Wahlberechtigung könnte hinaufgerückt werden. Jedenfalls liegen in<lb/> der berufsstündischen Gliederung noch manche unerschlvssene Keime zur Bildung<lb/> von Wühlerklassen und korporativen Gemeinschaften, welche der Individualismus<lb/> unsers heutigen Staatswesens nicht kennt oder doch unberücksichtigt läßt. Unsre<lb/> Epoche krankt an der Überschätzung der ökonomischen Freiheit des Individuums.<lb/> Diese Freiheit hat nur Wert und Berechtigung, wenn sie dem Gesellschaftsleben<lb/> untergeordnet wird. Das Staats-, Gemeinde- und Familienleben stellt diesen<lb/> Anspruch. Wo diese Verbände sich lockern oder die mvellirende Tendenz der<lb/> revolutionären Zeitströmung zur sinnlosen Gleichmacherei führt, gilt es, neue<lb/> Geuvsseuschaftsverbände einzurichten, welche ihren Mitgliedern eine Verant¬<lb/> wortlichkeit auferlegen und zugleich durch freie Gegenseitigkeit die Prodnktivns-<lb/> bildnng erleichtern. Solche Gemeinschaften von latenter sozialpolitischer Be¬<lb/> deutung sind die Berufsstände. Der schrankenlose Liberalismus freilich und der<lb/> beutelustige Kapitalismus werden einer staatlichen Anerkennung solcher Inter-<lb/> essentengruppen nur widerstrebend zustimmen; der Sozialismus kann nicht<lb/> anders, als sie mit Aufbietung aller Kräfte hintertreiben. Für den Social¬<lb/> demokraten besteht die Verbandsgemeinschaft nur so lange, als es gilt, Truppen<lb/> für die Zerstörung der geschichtlichen Gesellschaftsordnung anzuwerben. In dem<lb/> Zukunftsstaate seiner Träume löst sich jede Sondcrverbiudung wieder auf, und<lb/> das Individuum tritt als einziger, rcchtsbildender Faktor ein. Für korporative<lb/> Verbände ist dort kein Platz.</p><lb/> <p xml:id="ID_390" next="#ID_391"> Wir kehren damit zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtung zurück. Das<lb/> drohende Anwachsen der sozialdemokratischen Wahlbewegung hat sie veranlaßt.<lb/> Wir erblickten darin allerdings mehr eine Zunahme der Unzufriedenheit in den<lb/> besitzlosen Volksschichten als eine Ausbreitung der sozialistischen Theorien. Allein<lb/> auch das Anschwellen des Mißbehagens erfordert volle Beachtung, und nicht<lb/> den geringsten Vorzug des hier empfohlenen Wahlsystems glauben wir darin<lb/> zu erkennen, daß es die Möglichkeit bietet, in die sozialistische Bewegung zer¬<lb/> setzend einzugreifen. Unter der Gefolgschaft des Sozialismus befinden sich viele<lb/> Elemente, welche sich nicht weigern werden, mit den ordnungsliebenden Parteien</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0138]
Die proportionale Borufsklafsenwahl.
so Wird der Moment gekommen sein, die Gleichwertigkeit der Stimmen durch
eine Skala zu ersetzen, welche nach der Besteuerung, dem Bildungsgrade oder
einem sonst qualifizirten Abstufungsfaktor verschiedenartig zu bemessen ist. Es
könnte dabei die Seßhaftigkeit, das Dienstverhältnis, der Umfang des Betriebes
u. s. w. in Betracht gezogen werden, sodaß die scheinbare Benachteiligung der
minderbewerteten Stimmeuklassen durch die ergänzende Vertretung ihrer höher¬
stehenden Berufs genossen ausgeglichen würde. Das Verhältnis des Arbeitgebers
zum Arbeiter verlöre zum guten Teil von der Schärfe, die der Unterschied
des Besitzstandes fühlbar macht; denn der Verband des Berufsinteresses würde
beide Gruppen umschließen und das materielle Interesse am wirtschaftlichen
Gedeihen des Unternehmens eine natürliche Allianz schaffen. Auch die Alters¬
grenze der Wahlberechtigung könnte hinaufgerückt werden. Jedenfalls liegen in
der berufsstündischen Gliederung noch manche unerschlvssene Keime zur Bildung
von Wühlerklassen und korporativen Gemeinschaften, welche der Individualismus
unsers heutigen Staatswesens nicht kennt oder doch unberücksichtigt läßt. Unsre
Epoche krankt an der Überschätzung der ökonomischen Freiheit des Individuums.
Diese Freiheit hat nur Wert und Berechtigung, wenn sie dem Gesellschaftsleben
untergeordnet wird. Das Staats-, Gemeinde- und Familienleben stellt diesen
Anspruch. Wo diese Verbände sich lockern oder die mvellirende Tendenz der
revolutionären Zeitströmung zur sinnlosen Gleichmacherei führt, gilt es, neue
Geuvsseuschaftsverbände einzurichten, welche ihren Mitgliedern eine Verant¬
wortlichkeit auferlegen und zugleich durch freie Gegenseitigkeit die Prodnktivns-
bildnng erleichtern. Solche Gemeinschaften von latenter sozialpolitischer Be¬
deutung sind die Berufsstände. Der schrankenlose Liberalismus freilich und der
beutelustige Kapitalismus werden einer staatlichen Anerkennung solcher Inter-
essentengruppen nur widerstrebend zustimmen; der Sozialismus kann nicht
anders, als sie mit Aufbietung aller Kräfte hintertreiben. Für den Social¬
demokraten besteht die Verbandsgemeinschaft nur so lange, als es gilt, Truppen
für die Zerstörung der geschichtlichen Gesellschaftsordnung anzuwerben. In dem
Zukunftsstaate seiner Träume löst sich jede Sondcrverbiudung wieder auf, und
das Individuum tritt als einziger, rcchtsbildender Faktor ein. Für korporative
Verbände ist dort kein Platz.
Wir kehren damit zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtung zurück. Das
drohende Anwachsen der sozialdemokratischen Wahlbewegung hat sie veranlaßt.
Wir erblickten darin allerdings mehr eine Zunahme der Unzufriedenheit in den
besitzlosen Volksschichten als eine Ausbreitung der sozialistischen Theorien. Allein
auch das Anschwellen des Mißbehagens erfordert volle Beachtung, und nicht
den geringsten Vorzug des hier empfohlenen Wahlsystems glauben wir darin
zu erkennen, daß es die Möglichkeit bietet, in die sozialistische Bewegung zer¬
setzend einzugreifen. Unter der Gefolgschaft des Sozialismus befinden sich viele
Elemente, welche sich nicht weigern werden, mit den ordnungsliebenden Parteien
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