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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die beabsichtigten Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes

wahrgenommen, daß beim Voreide die Bedeutung des Eides dem Zeugen nicht
recht klar sei, daß sich daraus viele falsche eidliche Aussagen ergeben hätten und
der Voreid geradezu eine Quelle des Meineides zu nennen sei; doch giebt die
Begründung zu, daß man in andern Bundesstaaten mit dem Voreide günstigere
Erfahrungen gemacht habe, und ich kann dem hinzufügen, daß auch im ehemaligen
Kurhessen, wo bis zur Einführung der Strafprozeßordnung vom 26. Juni 1867
der Zeugeneid vor der Vernehmung geschworen wurde, mit dieser Einrichtung
keine schlechten Erfahrungen gemacht worden sind. Mit Rücksicht darauf will
der Entwurf den verschiednen Bedürfnissen gerecht werden, im allgemeinen den
Nacheid einführen, für die Rechtsgebiete jedoch, wo bis zum 1. Oktober 1879
die Vereidigung der Zeugen vor deren Vernehmung üblich war, dies bestehen
lassen, bis die Landesgesetzgebung den Nacheid einführen werde. Diese Lösung
der Frage muß aber als eine unglückliche erscheinen; denn erstens würde da¬
durch ein sehr wesentlicher Teil des Strafprozeßrechtes, welches verfassungs-
mäßig der Reichsgesetzgebung zusteht, dieser entzogen und der Landesgesetzgcbnng
überwiesen; sodann würde Deutschland gewissermaßen in zwei Rechtsgebiete, eins
mit zuverlässigen und eins mit unzuverlässigen Einwohnern geteilt; beides aber
muß unbedingt vermieden werden. Prüft man aber die Strafprozeßordnung
in ihrer maßgebenden Bestimmung (dem K 60) genauer, so erhellt, daß es,
um den angedeuteten Übelständen abzuhelfen, einer neuen Bestimmung garnicht
bedarf. Indem der Z 460 gestattet, die Vereidigung aus besondern Gründen,
namentlich wenn Bedenken gegen ihre Zulässigkeit obwalten, bis nach Schluß
der Vernehmung auszusetzen, giebt er ja die Möglichkeit, bei jedem Zeugen, wo
es zweckmäßig erscheint, den Nncheid zu wählen; auch in den Bezirken, wo sich
im allgemeinen der Voreid nicht bewährt haben sollte, giebt es doch gewiß
zahlreiche Personen, bei welchen die Vereidigung unbedenklich der Vernehmung
vorangehen kann, und für die übrigen ist die Ausnahmebestimmung da. Ein
einigermaßen gewandter Richter wird nach einer ganz kurzen Unterredung auch
mit einem ihm bisher unbekannten Zeugen wissen, woran er ist, und darnach
die Frage wegen der vorgehenden oder nachfolgenden Vereidigung beantworten
können. Vielleicht könnte der H 60 etwas weiter gefaßt werden, sodaß die
nachfolgende Vereidigung zwar nicht die Regel bilden, aber doch auch nicht auf
einzelne Allsnahmefälle beschränkt zu sein brauchte, daß es nicht eines förm¬
lichen Gerichtsbeschlusses zur Rechtfertigung des Nacheides bedürfte, dann wäre
nach allen Seiten hin geholfen. Wenn aber die Begründung des Entwurfes
meint, beim Nacheide müßten in zeitraubender Weise die Generalfragen zweimal
gestellt werden, so übersieht sie, daß schon Schwarze in seinem Kommentar zur
Strafprozeßordnung es für genügend erklärt, die vor der Vereidigung gestellten
Generalfragen nach der Vereidigung einfach bestätigen zu lassen, daß es aber
auch in den meisten Fällen garnicht der Vereidigung auf die Generalien bedarf,
indem diese bei feststehender Jndentität der Persönlichkeit des Zeugen sehr oft


Die beabsichtigten Änderungen und Ergänzungen des Gerichtsverfassungsgesetzes

wahrgenommen, daß beim Voreide die Bedeutung des Eides dem Zeugen nicht
recht klar sei, daß sich daraus viele falsche eidliche Aussagen ergeben hätten und
der Voreid geradezu eine Quelle des Meineides zu nennen sei; doch giebt die
Begründung zu, daß man in andern Bundesstaaten mit dem Voreide günstigere
Erfahrungen gemacht habe, und ich kann dem hinzufügen, daß auch im ehemaligen
Kurhessen, wo bis zur Einführung der Strafprozeßordnung vom 26. Juni 1867
der Zeugeneid vor der Vernehmung geschworen wurde, mit dieser Einrichtung
keine schlechten Erfahrungen gemacht worden sind. Mit Rücksicht darauf will
der Entwurf den verschiednen Bedürfnissen gerecht werden, im allgemeinen den
Nacheid einführen, für die Rechtsgebiete jedoch, wo bis zum 1. Oktober 1879
die Vereidigung der Zeugen vor deren Vernehmung üblich war, dies bestehen
lassen, bis die Landesgesetzgebung den Nacheid einführen werde. Diese Lösung
der Frage muß aber als eine unglückliche erscheinen; denn erstens würde da¬
durch ein sehr wesentlicher Teil des Strafprozeßrechtes, welches verfassungs-
mäßig der Reichsgesetzgebung zusteht, dieser entzogen und der Landesgesetzgcbnng
überwiesen; sodann würde Deutschland gewissermaßen in zwei Rechtsgebiete, eins
mit zuverlässigen und eins mit unzuverlässigen Einwohnern geteilt; beides aber
muß unbedingt vermieden werden. Prüft man aber die Strafprozeßordnung
in ihrer maßgebenden Bestimmung (dem K 60) genauer, so erhellt, daß es,
um den angedeuteten Übelständen abzuhelfen, einer neuen Bestimmung garnicht
bedarf. Indem der Z 460 gestattet, die Vereidigung aus besondern Gründen,
namentlich wenn Bedenken gegen ihre Zulässigkeit obwalten, bis nach Schluß
der Vernehmung auszusetzen, giebt er ja die Möglichkeit, bei jedem Zeugen, wo
es zweckmäßig erscheint, den Nncheid zu wählen; auch in den Bezirken, wo sich
im allgemeinen der Voreid nicht bewährt haben sollte, giebt es doch gewiß
zahlreiche Personen, bei welchen die Vereidigung unbedenklich der Vernehmung
vorangehen kann, und für die übrigen ist die Ausnahmebestimmung da. Ein
einigermaßen gewandter Richter wird nach einer ganz kurzen Unterredung auch
mit einem ihm bisher unbekannten Zeugen wissen, woran er ist, und darnach
die Frage wegen der vorgehenden oder nachfolgenden Vereidigung beantworten
können. Vielleicht könnte der H 60 etwas weiter gefaßt werden, sodaß die
nachfolgende Vereidigung zwar nicht die Regel bilden, aber doch auch nicht auf
einzelne Allsnahmefälle beschränkt zu sein brauchte, daß es nicht eines förm¬
lichen Gerichtsbeschlusses zur Rechtfertigung des Nacheides bedürfte, dann wäre
nach allen Seiten hin geholfen. Wenn aber die Begründung des Entwurfes
meint, beim Nacheide müßten in zeitraubender Weise die Generalfragen zweimal
gestellt werden, so übersieht sie, daß schon Schwarze in seinem Kommentar zur
Strafprozeßordnung es für genügend erklärt, die vor der Vereidigung gestellten
Generalfragen nach der Vereidigung einfach bestätigen zu lassen, daß es aber
auch in den meisten Fällen garnicht der Vereidigung auf die Generalien bedarf,
indem diese bei feststehender Jndentität der Persönlichkeit des Zeugen sehr oft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/100>, abgerufen am 15.01.2025.