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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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zweiten Umstände ab, der mit dem ersten sachlich noch nicht gegeben ist. Dieser
liegt in der zweiten Eigenschaft, welche für das Vorhandensein des künstlerischen
Elementes notwendig ist.

Wenn infolge des Stoffwechsels eine bildliche Form in einem ihr ursprüng¬
lich fremden Stoffe einen Träger gefunden hat, so fragt es sich sofort, in
welchem Verhältnisse die beiden Bestandteile des neuen Ganzen zueinander stehen.
Das Nächstliegende und Naturgemäße ist das, daß sie, als einander fremd,
auch nur äußerlich verbunden erscheinen und die Empfindung des Fremdartigen,
Nichtzusammcugehörigen erregen. Damit ist aber der künstlerische Eindruck aus¬
geschlossen. Soll dieser dennoch erreicht werden, so müssen die beiden Bestand¬
teile zu einer Einheit zusammenwachsen, sodaß diese den Eindruck des Natür¬
lichen, des selbstverständlichen hervorbringt.' Um dies zu erreichen, muß ein
Entgegenkommen vou beiden Seiten stattfinden. Dies kann aber nur aus der
Erkenntnis des Wesens eines jeden der beiden Bestandteile entstehen. Ver¬
hältnismäßig leicht ist dies bei der das Bildliche gestaltenden Form. Sie muß
immer erkennbar bleiben, solange sie ihren Zweck erreichen soll; sie kann daher
nur soweit nachgeben, als es die Erkennbarkeit ihrer Natur gestattet. Viel
schwieriger aber ist es bei dem Stoffe, dem Träger der Form. Auch bei ihm
muß die Eigenart seines Wesens bewahrt bleiben: er muß als der Stoff, der
er ist, erkannt werden, und es darf ihm, um die Form wiederzugeben, nichts
zugemutet werden, was seiner Natur widerspricht. Diese liegt aber nicht auf
seiner Oberfläche, welche zudem für die fremde Form in Anspruch genommen
wird: sie liegt in seinem Innern, in der Art seines Wachstums, seiner Existenz,
seiner wesentlichen Eigenschaften. Es entsteht hieraus die sehr schwere Aufgabe,
sich in die Natur des Stoffes hineinzufühlen: wenn er, der tote, nun lebendig
und gleichsam mobil werden soll, um in neuer, ihm ursprünglich fremder Form
ein neues Dasein zu gewinnen, so muß dies so geschehen, daß damit zugleich
seine innerste Natur zur Erscheinung kommt. Dies aber wird sich darin äußern,
daß er die nachgiebigere Form zu einem Eingehen in seine Bestrebungen zwingt.
Die Fähigkeit, diese innerste Natur eines Stoffes als etwas Lebendiges nach¬
zufühlen, hat früher als eine naive Feinfühligkeit bestanden; sie besteht in der
heutigen Menschheit im großen und ganzen als solche nicht mehr, sie muß ge¬
lernt werden, und zwar sowohl von denen, welche schaffen, als auch von denen,
welche genießen. Sie muß es aber, weil der Stoff im Kunsthandwerk eine
weit größere Bedeutung hat als sonst in der Bildkunst. Ist nämlich das Kunst-
handwerk, soweit es bildliche Formen benutzt, zur Bildkunst zu rechnen, so
besteht dennoch zwischen ihm und dem, was man im engern Sinne Bildkunst
nennt, gerade in bezug auf die Bedeutung des Stoffes ein wesentlicher Unter¬
schied. Während bei der Bildkunst im engern Sinne der Stoff in der That
weiter nichts ist, als das nicht zu umgehende Mittel der Formgestaltung, für
sich aber keine selbständige Bedeutung beansprucht, so verliert der Stoff im


zweiten Umstände ab, der mit dem ersten sachlich noch nicht gegeben ist. Dieser
liegt in der zweiten Eigenschaft, welche für das Vorhandensein des künstlerischen
Elementes notwendig ist.

Wenn infolge des Stoffwechsels eine bildliche Form in einem ihr ursprüng¬
lich fremden Stoffe einen Träger gefunden hat, so fragt es sich sofort, in
welchem Verhältnisse die beiden Bestandteile des neuen Ganzen zueinander stehen.
Das Nächstliegende und Naturgemäße ist das, daß sie, als einander fremd,
auch nur äußerlich verbunden erscheinen und die Empfindung des Fremdartigen,
Nichtzusammcugehörigen erregen. Damit ist aber der künstlerische Eindruck aus¬
geschlossen. Soll dieser dennoch erreicht werden, so müssen die beiden Bestand¬
teile zu einer Einheit zusammenwachsen, sodaß diese den Eindruck des Natür¬
lichen, des selbstverständlichen hervorbringt.' Um dies zu erreichen, muß ein
Entgegenkommen vou beiden Seiten stattfinden. Dies kann aber nur aus der
Erkenntnis des Wesens eines jeden der beiden Bestandteile entstehen. Ver¬
hältnismäßig leicht ist dies bei der das Bildliche gestaltenden Form. Sie muß
immer erkennbar bleiben, solange sie ihren Zweck erreichen soll; sie kann daher
nur soweit nachgeben, als es die Erkennbarkeit ihrer Natur gestattet. Viel
schwieriger aber ist es bei dem Stoffe, dem Träger der Form. Auch bei ihm
muß die Eigenart seines Wesens bewahrt bleiben: er muß als der Stoff, der
er ist, erkannt werden, und es darf ihm, um die Form wiederzugeben, nichts
zugemutet werden, was seiner Natur widerspricht. Diese liegt aber nicht auf
seiner Oberfläche, welche zudem für die fremde Form in Anspruch genommen
wird: sie liegt in seinem Innern, in der Art seines Wachstums, seiner Existenz,
seiner wesentlichen Eigenschaften. Es entsteht hieraus die sehr schwere Aufgabe,
sich in die Natur des Stoffes hineinzufühlen: wenn er, der tote, nun lebendig
und gleichsam mobil werden soll, um in neuer, ihm ursprünglich fremder Form
ein neues Dasein zu gewinnen, so muß dies so geschehen, daß damit zugleich
seine innerste Natur zur Erscheinung kommt. Dies aber wird sich darin äußern,
daß er die nachgiebigere Form zu einem Eingehen in seine Bestrebungen zwingt.
Die Fähigkeit, diese innerste Natur eines Stoffes als etwas Lebendiges nach¬
zufühlen, hat früher als eine naive Feinfühligkeit bestanden; sie besteht in der
heutigen Menschheit im großen und ganzen als solche nicht mehr, sie muß ge¬
lernt werden, und zwar sowohl von denen, welche schaffen, als auch von denen,
welche genießen. Sie muß es aber, weil der Stoff im Kunsthandwerk eine
weit größere Bedeutung hat als sonst in der Bildkunst. Ist nämlich das Kunst-
handwerk, soweit es bildliche Formen benutzt, zur Bildkunst zu rechnen, so
besteht dennoch zwischen ihm und dem, was man im engern Sinne Bildkunst
nennt, gerade in bezug auf die Bedeutung des Stoffes ein wesentlicher Unter¬
schied. Während bei der Bildkunst im engern Sinne der Stoff in der That
weiter nichts ist, als das nicht zu umgehende Mittel der Formgestaltung, für
sich aber keine selbständige Bedeutung beansprucht, so verliert der Stoff im


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[0074] zweiten Umstände ab, der mit dem ersten sachlich noch nicht gegeben ist. Dieser liegt in der zweiten Eigenschaft, welche für das Vorhandensein des künstlerischen Elementes notwendig ist. Wenn infolge des Stoffwechsels eine bildliche Form in einem ihr ursprüng¬ lich fremden Stoffe einen Träger gefunden hat, so fragt es sich sofort, in welchem Verhältnisse die beiden Bestandteile des neuen Ganzen zueinander stehen. Das Nächstliegende und Naturgemäße ist das, daß sie, als einander fremd, auch nur äußerlich verbunden erscheinen und die Empfindung des Fremdartigen, Nichtzusammcugehörigen erregen. Damit ist aber der künstlerische Eindruck aus¬ geschlossen. Soll dieser dennoch erreicht werden, so müssen die beiden Bestand¬ teile zu einer Einheit zusammenwachsen, sodaß diese den Eindruck des Natür¬ lichen, des selbstverständlichen hervorbringt.' Um dies zu erreichen, muß ein Entgegenkommen vou beiden Seiten stattfinden. Dies kann aber nur aus der Erkenntnis des Wesens eines jeden der beiden Bestandteile entstehen. Ver¬ hältnismäßig leicht ist dies bei der das Bildliche gestaltenden Form. Sie muß immer erkennbar bleiben, solange sie ihren Zweck erreichen soll; sie kann daher nur soweit nachgeben, als es die Erkennbarkeit ihrer Natur gestattet. Viel schwieriger aber ist es bei dem Stoffe, dem Träger der Form. Auch bei ihm muß die Eigenart seines Wesens bewahrt bleiben: er muß als der Stoff, der er ist, erkannt werden, und es darf ihm, um die Form wiederzugeben, nichts zugemutet werden, was seiner Natur widerspricht. Diese liegt aber nicht auf seiner Oberfläche, welche zudem für die fremde Form in Anspruch genommen wird: sie liegt in seinem Innern, in der Art seines Wachstums, seiner Existenz, seiner wesentlichen Eigenschaften. Es entsteht hieraus die sehr schwere Aufgabe, sich in die Natur des Stoffes hineinzufühlen: wenn er, der tote, nun lebendig und gleichsam mobil werden soll, um in neuer, ihm ursprünglich fremder Form ein neues Dasein zu gewinnen, so muß dies so geschehen, daß damit zugleich seine innerste Natur zur Erscheinung kommt. Dies aber wird sich darin äußern, daß er die nachgiebigere Form zu einem Eingehen in seine Bestrebungen zwingt. Die Fähigkeit, diese innerste Natur eines Stoffes als etwas Lebendiges nach¬ zufühlen, hat früher als eine naive Feinfühligkeit bestanden; sie besteht in der heutigen Menschheit im großen und ganzen als solche nicht mehr, sie muß ge¬ lernt werden, und zwar sowohl von denen, welche schaffen, als auch von denen, welche genießen. Sie muß es aber, weil der Stoff im Kunsthandwerk eine weit größere Bedeutung hat als sonst in der Bildkunst. Ist nämlich das Kunst- handwerk, soweit es bildliche Formen benutzt, zur Bildkunst zu rechnen, so besteht dennoch zwischen ihm und dem, was man im engern Sinne Bildkunst nennt, gerade in bezug auf die Bedeutung des Stoffes ein wesentlicher Unter¬ schied. Während bei der Bildkunst im engern Sinne der Stoff in der That weiter nichts ist, als das nicht zu umgehende Mittel der Formgestaltung, für sich aber keine selbständige Bedeutung beansprucht, so verliert der Stoff im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/74>, abgerufen am 24.11.2024.