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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Literatur.

zweiten Teiles sowie des alten Goethe, des einsamen Olympiers und "Egoisten,"
"dein das ganze menschliche Leben zu einer Allegorie geworden ist." Turgenjew
sucht den "Faust" historisch zu begreifen: er giebt eine Entstehungsgeschichte des¬
selben ans Goethes Person und seiner Epoche heraus; er stellt beide als Egoisten
hin, und nennt den "Faust" ein "egoistisches Werk," welches der geniale Ausdruck
seiner Zeit nud darum wahrhaft groß sei. Er weist hin ans die ironische Behand¬
lung des Volkes im "Faust" (Spaziergang, Auerbachs Keller, Szene mit dem Schüler),
und zeigt, wie weder für Faust noch für seine Zeit der moderne Begriff der Gesell¬
schaft bestand, von der sie beide im Denken und Thun abstrahirten. Hier liegt der unter¬
scheidende Punkt, meint er, zwischen Mittelalter nud Neuzeit. Mephistopheles ist ihm
die Verkörperung des verneinenden Elementes in jedem Menschen: der Reflexion:
"sie ist unsre Kraft und unsre Schwäche, unser Verderben und unsre Rettung."
Den Schluß, welchen Goethe mit dem Ende des zweiten Teiles seinem Werke gab,
neeeptirt Turgenjew nicht: eine thatsächliche Versöhnung findet er so wenig in
diesem "Werke der Romantik" wie irgendwo bei Byron. "Die majestätische Ge¬
lassenheit im zweiten Teile -- sie ist die wahre endgiltige Versöhnung aller un¬
gelösten Fragen und Zweifel. Demjenigen Menschen, welchem die Natur die
Möglichkeit einer solchen Beruhigung " priori versagt hat, giebt Goethe keinerlei
Bescheid." Also: die Thätigkeit für die Gesamtheit, in welcher Faust schließlich
das erstrebenswerte Ziel des Lebens erkannt, die übersieht er. Uebrigens sprüht
der Essay von geistreichen Bemerkungen. -- Ans dem weitern Inhalt des Buches
ist hervorzuheben die Denkrede auf Puschkin, zur Enthüllung seines Denkmals in
Petersburg am 13. März 1379 geschrieben; die Vorrede zur russischen Uebersetzung
von Auerbachs Roman "Das Wirtshaus (soll Wohl heißen: Landhaus) um Rhein,"
die geistvolle Kritik eines Schauspiels von Ostrowsky, in der Turgenjew gegen
die kleinlich detaillirende, musivische Psychologie in der Dichtung sehr schlagend zu
Felde zieht. "Die Ausgrabungen in Pergamo"" sind einem Besuche derselben in
Berlin entsprungen. "Die Feuersbrunst auf dem Meere" schildert ein Abenteuer
aus des Dichters Jugend, das ihn bald ums Leben gebracht hätte. "Von den
Nachtigallen" und "Pegasus" geben zwei Nachträge zu dem berühmten "Tagebuche
eines Jägers": herrliche Naturschilderungen; "Pegasus" ist ein Denkmal für des
Dichters so genannten Hund, der als wahres Genie seines Geschlechtes von ihm
gepriesen wird.

Die Einleitung von Eugen Zabel hätte ebenso gut wegbleiben können; sie
teilt mit, daß die Aufsätze aus dem ersten Bande der russischen Gesamtausgabe
genommen seien, sagt aber uicht, ob es alle Aufsätze kritischer Art sind, welche T.
hinterlassen hat. Und doch wie wertvoll sind literarische Aufsätze aus der Feder
eines so' großen Künstlers! Nicht bloß durch ihren objektiven Gehalt, sondern
auch weil sie in seine eigne künstlerische Theorie Einsicht verschaffen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig.
Literatur.

zweiten Teiles sowie des alten Goethe, des einsamen Olympiers und „Egoisten,"
„dein das ganze menschliche Leben zu einer Allegorie geworden ist." Turgenjew
sucht den „Faust" historisch zu begreifen: er giebt eine Entstehungsgeschichte des¬
selben ans Goethes Person und seiner Epoche heraus; er stellt beide als Egoisten
hin, und nennt den „Faust" ein „egoistisches Werk," welches der geniale Ausdruck
seiner Zeit nud darum wahrhaft groß sei. Er weist hin ans die ironische Behand¬
lung des Volkes im „Faust" (Spaziergang, Auerbachs Keller, Szene mit dem Schüler),
und zeigt, wie weder für Faust noch für seine Zeit der moderne Begriff der Gesell¬
schaft bestand, von der sie beide im Denken und Thun abstrahirten. Hier liegt der unter¬
scheidende Punkt, meint er, zwischen Mittelalter nud Neuzeit. Mephistopheles ist ihm
die Verkörperung des verneinenden Elementes in jedem Menschen: der Reflexion:
„sie ist unsre Kraft und unsre Schwäche, unser Verderben und unsre Rettung."
Den Schluß, welchen Goethe mit dem Ende des zweiten Teiles seinem Werke gab,
neeeptirt Turgenjew nicht: eine thatsächliche Versöhnung findet er so wenig in
diesem „Werke der Romantik" wie irgendwo bei Byron. „Die majestätische Ge¬
lassenheit im zweiten Teile — sie ist die wahre endgiltige Versöhnung aller un¬
gelösten Fragen und Zweifel. Demjenigen Menschen, welchem die Natur die
Möglichkeit einer solchen Beruhigung » priori versagt hat, giebt Goethe keinerlei
Bescheid." Also: die Thätigkeit für die Gesamtheit, in welcher Faust schließlich
das erstrebenswerte Ziel des Lebens erkannt, die übersieht er. Uebrigens sprüht
der Essay von geistreichen Bemerkungen. — Ans dem weitern Inhalt des Buches
ist hervorzuheben die Denkrede auf Puschkin, zur Enthüllung seines Denkmals in
Petersburg am 13. März 1379 geschrieben; die Vorrede zur russischen Uebersetzung
von Auerbachs Roman „Das Wirtshaus (soll Wohl heißen: Landhaus) um Rhein,"
die geistvolle Kritik eines Schauspiels von Ostrowsky, in der Turgenjew gegen
die kleinlich detaillirende, musivische Psychologie in der Dichtung sehr schlagend zu
Felde zieht. „Die Ausgrabungen in Pergamo»" sind einem Besuche derselben in
Berlin entsprungen. „Die Feuersbrunst auf dem Meere" schildert ein Abenteuer
aus des Dichters Jugend, das ihn bald ums Leben gebracht hätte. „Von den
Nachtigallen" und „Pegasus" geben zwei Nachträge zu dem berühmten „Tagebuche
eines Jägers": herrliche Naturschilderungen; „Pegasus" ist ein Denkmal für des
Dichters so genannten Hund, der als wahres Genie seines Geschlechtes von ihm
gepriesen wird.

Die Einleitung von Eugen Zabel hätte ebenso gut wegbleiben können; sie
teilt mit, daß die Aufsätze aus dem ersten Bande der russischen Gesamtausgabe
genommen seien, sagt aber uicht, ob es alle Aufsätze kritischer Art sind, welche T.
hinterlassen hat. Und doch wie wertvoll sind literarische Aufsätze aus der Feder
eines so' großen Künstlers! Nicht bloß durch ihren objektiven Gehalt, sondern
auch weil sie in seine eigne künstlerische Theorie Einsicht verschaffen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig.
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[0628] Literatur. zweiten Teiles sowie des alten Goethe, des einsamen Olympiers und „Egoisten," „dein das ganze menschliche Leben zu einer Allegorie geworden ist." Turgenjew sucht den „Faust" historisch zu begreifen: er giebt eine Entstehungsgeschichte des¬ selben ans Goethes Person und seiner Epoche heraus; er stellt beide als Egoisten hin, und nennt den „Faust" ein „egoistisches Werk," welches der geniale Ausdruck seiner Zeit nud darum wahrhaft groß sei. Er weist hin ans die ironische Behand¬ lung des Volkes im „Faust" (Spaziergang, Auerbachs Keller, Szene mit dem Schüler), und zeigt, wie weder für Faust noch für seine Zeit der moderne Begriff der Gesell¬ schaft bestand, von der sie beide im Denken und Thun abstrahirten. Hier liegt der unter¬ scheidende Punkt, meint er, zwischen Mittelalter nud Neuzeit. Mephistopheles ist ihm die Verkörperung des verneinenden Elementes in jedem Menschen: der Reflexion: „sie ist unsre Kraft und unsre Schwäche, unser Verderben und unsre Rettung." Den Schluß, welchen Goethe mit dem Ende des zweiten Teiles seinem Werke gab, neeeptirt Turgenjew nicht: eine thatsächliche Versöhnung findet er so wenig in diesem „Werke der Romantik" wie irgendwo bei Byron. „Die majestätische Ge¬ lassenheit im zweiten Teile — sie ist die wahre endgiltige Versöhnung aller un¬ gelösten Fragen und Zweifel. Demjenigen Menschen, welchem die Natur die Möglichkeit einer solchen Beruhigung » priori versagt hat, giebt Goethe keinerlei Bescheid." Also: die Thätigkeit für die Gesamtheit, in welcher Faust schließlich das erstrebenswerte Ziel des Lebens erkannt, die übersieht er. Uebrigens sprüht der Essay von geistreichen Bemerkungen. — Ans dem weitern Inhalt des Buches ist hervorzuheben die Denkrede auf Puschkin, zur Enthüllung seines Denkmals in Petersburg am 13. März 1379 geschrieben; die Vorrede zur russischen Uebersetzung von Auerbachs Roman „Das Wirtshaus (soll Wohl heißen: Landhaus) um Rhein," die geistvolle Kritik eines Schauspiels von Ostrowsky, in der Turgenjew gegen die kleinlich detaillirende, musivische Psychologie in der Dichtung sehr schlagend zu Felde zieht. „Die Ausgrabungen in Pergamo»" sind einem Besuche derselben in Berlin entsprungen. „Die Feuersbrunst auf dem Meere" schildert ein Abenteuer aus des Dichters Jugend, das ihn bald ums Leben gebracht hätte. „Von den Nachtigallen" und „Pegasus" geben zwei Nachträge zu dem berühmten „Tagebuche eines Jägers": herrliche Naturschilderungen; „Pegasus" ist ein Denkmal für des Dichters so genannten Hund, der als wahres Genie seines Geschlechtes von ihm gepriesen wird. Die Einleitung von Eugen Zabel hätte ebenso gut wegbleiben können; sie teilt mit, daß die Aufsätze aus dem ersten Bande der russischen Gesamtausgabe genommen seien, sagt aber uicht, ob es alle Aufsätze kritischer Art sind, welche T. hinterlassen hat. Und doch wie wertvoll sind literarische Aufsätze aus der Feder eines so' großen Künstlers! Nicht bloß durch ihren objektiven Gehalt, sondern auch weil sie in seine eigne künstlerische Theorie Einsicht verschaffen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig. Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/628>, abgerufen am 22.11.2024.