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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Unpolitische Briefe ans Wien.

Das Bild verfehlt beim ersten Anblick nicht des imponirenden Eindruckes,
die Ausführung ist im ganzen sehr glücklich. Die markige Krvnosfigur ist der
würdige Ausgangspunkt der Handlung. Auch sonst fehlt es nicht an be¬
deutenden Gestalten. Die Zeichnung ist in Anbetracht der kolossalen Dimen¬
sionen sehr korrekt. Daß hie und da eine Verkürzung unwahrscheinlich aussieht,
kann nicht Wunder nehmen. In der Behandlung der Muskulatur fühlt man
Rubens' Einfluß. Aber die Farbe ist matt, asketisch: wollte Canon vielleicht
den Fresteutvu imitiren? Verfehlt schien uns die Gestalt der Sphinx: auf ihrem
Antlitz liegt ein Zug von Naseweisheit, als thue sie sich etwas darauf zu
gute, allein im Besitz der Antwort auf unsre letzten Fragen an das Schicksal
zu sein.

Aber was uun die ideelle Gestaltung des Stoffes betrifft: ist Canon da
nicht auf halbem Wege stehen geblieben? Von einem Kreislauf des Lebens kaun
man eigentlich doch nur in Bezug auf das Individuum reden; Geburt, Wachs¬
tum, Verfall und Tod: das ist der Kreislauf. Bei Meuschengemeinschaften, bei
Stämmen und Staaten kauu man nur in übertragenem Sinne von einem Kreis¬
lauf reden, iusoferu als Staaten analoge Erscheinungen zeigen wie Individuen,
und man früher auch keinen Anstoß nahm, von einem Jugend-, Mannes- und
Greisenalter ganzer Völker zu reden. Diesen Kreislauf scheint Canon zu meinen,
nicht den, der sich im Geschick des Individuums ausspricht. Er hat aber auch
auf seinem Gemälde unzulänglich ausgedrückt, was überhaupt -- ob uun bei
dem Individuum oder bei ganzen Völkern -- das Aufwärts steigen und was das
Abwärtssiuken bewirkt. Allerdings mag der Ehebund als Grundlage aller Ethik
angesehen werden, der Drang nach Erwerb ist die notwendige materielle Grund¬
lage aller Kultur, aber zuletzt ist es doch die Arbeit, die Individuum und Volk
hinauf und vorwärts bringt. So hätte dann auch die Arbeit in ihren ver-
schiednen Repräsentanten auf der rechten Seite des Bildes klar und deutlich zur
Anschauung gebracht werden müssen. Den Höhepunkt der Darstellung bildet
der Kampf der beiden gewappneten Reiter. Ganz recht! Weil ja der Kampf
des Menschen gegen seinesgleichen, ob um mit Schwert und Spieß oder mit
geistigen Waffen geführt, und der Sieg über seinesgleichen des Mensche"
höchster Kampf und höchster Sieg ist, so konnte er ganz gut dazu dienen, den
Endpunkt des "Aufwärts" zu bezeichnen; und weil der Kampf aus sehr unedeln
Motive" entspringen kann, der Sieg, unedel und unweise ausgenützt, den: Sieger
selbst zum Verderben gereichen kann, so konnte er zugleich als der Beginn des
Niederganges aufgefaßt werden. Aber dieser Niedergang selbst ist von Canon
ganz unklar dargestellt: man sieht garnicht ein, warum denn plötzlich Verderben
und Tod hereinbricht, warum denn auf einmal alles in die Tiefe stürzt. Und
doch wäre es Canon gewiß sehr leicht gewesen, hier klar und bedeutungsvoll
zu sein, Hütte er nur seine eignen Gedanken weitergesponnen. Wie das Aufwärts
des Lebens dnrch Tüchtigkeit und Tugend bewirkt wird, so das Abwärts durch


Unpolitische Briefe ans Wien.

Das Bild verfehlt beim ersten Anblick nicht des imponirenden Eindruckes,
die Ausführung ist im ganzen sehr glücklich. Die markige Krvnosfigur ist der
würdige Ausgangspunkt der Handlung. Auch sonst fehlt es nicht an be¬
deutenden Gestalten. Die Zeichnung ist in Anbetracht der kolossalen Dimen¬
sionen sehr korrekt. Daß hie und da eine Verkürzung unwahrscheinlich aussieht,
kann nicht Wunder nehmen. In der Behandlung der Muskulatur fühlt man
Rubens' Einfluß. Aber die Farbe ist matt, asketisch: wollte Canon vielleicht
den Fresteutvu imitiren? Verfehlt schien uns die Gestalt der Sphinx: auf ihrem
Antlitz liegt ein Zug von Naseweisheit, als thue sie sich etwas darauf zu
gute, allein im Besitz der Antwort auf unsre letzten Fragen an das Schicksal
zu sein.

Aber was uun die ideelle Gestaltung des Stoffes betrifft: ist Canon da
nicht auf halbem Wege stehen geblieben? Von einem Kreislauf des Lebens kaun
man eigentlich doch nur in Bezug auf das Individuum reden; Geburt, Wachs¬
tum, Verfall und Tod: das ist der Kreislauf. Bei Meuschengemeinschaften, bei
Stämmen und Staaten kauu man nur in übertragenem Sinne von einem Kreis¬
lauf reden, iusoferu als Staaten analoge Erscheinungen zeigen wie Individuen,
und man früher auch keinen Anstoß nahm, von einem Jugend-, Mannes- und
Greisenalter ganzer Völker zu reden. Diesen Kreislauf scheint Canon zu meinen,
nicht den, der sich im Geschick des Individuums ausspricht. Er hat aber auch
auf seinem Gemälde unzulänglich ausgedrückt, was überhaupt — ob uun bei
dem Individuum oder bei ganzen Völkern — das Aufwärts steigen und was das
Abwärtssiuken bewirkt. Allerdings mag der Ehebund als Grundlage aller Ethik
angesehen werden, der Drang nach Erwerb ist die notwendige materielle Grund¬
lage aller Kultur, aber zuletzt ist es doch die Arbeit, die Individuum und Volk
hinauf und vorwärts bringt. So hätte dann auch die Arbeit in ihren ver-
schiednen Repräsentanten auf der rechten Seite des Bildes klar und deutlich zur
Anschauung gebracht werden müssen. Den Höhepunkt der Darstellung bildet
der Kampf der beiden gewappneten Reiter. Ganz recht! Weil ja der Kampf
des Menschen gegen seinesgleichen, ob um mit Schwert und Spieß oder mit
geistigen Waffen geführt, und der Sieg über seinesgleichen des Mensche»
höchster Kampf und höchster Sieg ist, so konnte er ganz gut dazu dienen, den
Endpunkt des „Aufwärts" zu bezeichnen; und weil der Kampf aus sehr unedeln
Motive» entspringen kann, der Sieg, unedel und unweise ausgenützt, den: Sieger
selbst zum Verderben gereichen kann, so konnte er zugleich als der Beginn des
Niederganges aufgefaßt werden. Aber dieser Niedergang selbst ist von Canon
ganz unklar dargestellt: man sieht garnicht ein, warum denn plötzlich Verderben
und Tod hereinbricht, warum denn auf einmal alles in die Tiefe stürzt. Und
doch wäre es Canon gewiß sehr leicht gewesen, hier klar und bedeutungsvoll
zu sein, Hütte er nur seine eignen Gedanken weitergesponnen. Wie das Aufwärts
des Lebens dnrch Tüchtigkeit und Tugend bewirkt wird, so das Abwärts durch


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[0615] Unpolitische Briefe ans Wien. Das Bild verfehlt beim ersten Anblick nicht des imponirenden Eindruckes, die Ausführung ist im ganzen sehr glücklich. Die markige Krvnosfigur ist der würdige Ausgangspunkt der Handlung. Auch sonst fehlt es nicht an be¬ deutenden Gestalten. Die Zeichnung ist in Anbetracht der kolossalen Dimen¬ sionen sehr korrekt. Daß hie und da eine Verkürzung unwahrscheinlich aussieht, kann nicht Wunder nehmen. In der Behandlung der Muskulatur fühlt man Rubens' Einfluß. Aber die Farbe ist matt, asketisch: wollte Canon vielleicht den Fresteutvu imitiren? Verfehlt schien uns die Gestalt der Sphinx: auf ihrem Antlitz liegt ein Zug von Naseweisheit, als thue sie sich etwas darauf zu gute, allein im Besitz der Antwort auf unsre letzten Fragen an das Schicksal zu sein. Aber was uun die ideelle Gestaltung des Stoffes betrifft: ist Canon da nicht auf halbem Wege stehen geblieben? Von einem Kreislauf des Lebens kaun man eigentlich doch nur in Bezug auf das Individuum reden; Geburt, Wachs¬ tum, Verfall und Tod: das ist der Kreislauf. Bei Meuschengemeinschaften, bei Stämmen und Staaten kauu man nur in übertragenem Sinne von einem Kreis¬ lauf reden, iusoferu als Staaten analoge Erscheinungen zeigen wie Individuen, und man früher auch keinen Anstoß nahm, von einem Jugend-, Mannes- und Greisenalter ganzer Völker zu reden. Diesen Kreislauf scheint Canon zu meinen, nicht den, der sich im Geschick des Individuums ausspricht. Er hat aber auch auf seinem Gemälde unzulänglich ausgedrückt, was überhaupt — ob uun bei dem Individuum oder bei ganzen Völkern — das Aufwärts steigen und was das Abwärtssiuken bewirkt. Allerdings mag der Ehebund als Grundlage aller Ethik angesehen werden, der Drang nach Erwerb ist die notwendige materielle Grund¬ lage aller Kultur, aber zuletzt ist es doch die Arbeit, die Individuum und Volk hinauf und vorwärts bringt. So hätte dann auch die Arbeit in ihren ver- schiednen Repräsentanten auf der rechten Seite des Bildes klar und deutlich zur Anschauung gebracht werden müssen. Den Höhepunkt der Darstellung bildet der Kampf der beiden gewappneten Reiter. Ganz recht! Weil ja der Kampf des Menschen gegen seinesgleichen, ob um mit Schwert und Spieß oder mit geistigen Waffen geführt, und der Sieg über seinesgleichen des Mensche» höchster Kampf und höchster Sieg ist, so konnte er ganz gut dazu dienen, den Endpunkt des „Aufwärts" zu bezeichnen; und weil der Kampf aus sehr unedeln Motive» entspringen kann, der Sieg, unedel und unweise ausgenützt, den: Sieger selbst zum Verderben gereichen kann, so konnte er zugleich als der Beginn des Niederganges aufgefaßt werden. Aber dieser Niedergang selbst ist von Canon ganz unklar dargestellt: man sieht garnicht ein, warum denn plötzlich Verderben und Tod hereinbricht, warum denn auf einmal alles in die Tiefe stürzt. Und doch wäre es Canon gewiß sehr leicht gewesen, hier klar und bedeutungsvoll zu sein, Hütte er nur seine eignen Gedanken weitergesponnen. Wie das Aufwärts des Lebens dnrch Tüchtigkeit und Tugend bewirkt wird, so das Abwärts durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/615>, abgerufen am 01.09.2024.