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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Notstand dös Privatkapitals.

Bedingungen gewähren, unter welchen ein notwendiges Anlehen allein zu haben
ist; und unter diese Bedingungen kann unter Umständen auch ein Amvrtisations-
versprechen gehören. Aber zweifellos ist es doch jedenfalls, daß Preußen, daß
die übrigen deutschen Staaten und das Reich in einer viel zu sicherm Lage sich
befinden, als daß dergleichen Anforderungen an sie gestellt würden und sie solche
Künste üben müßten. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, daß sie Steuern
erheben, um Schulden zu tilgen, daß sie die Gesamtheit der Staatsbürger be¬
schweren, um einer großen Anzahl derselben Kapitalien zurückzuzahlen, deren
Wiederanlage ihnen zur Verlegenheit wird, daß sie in vielen Fällen die Ein¬
zelnen mit doppeltem Nachteil treffen, indem dieselben zugleich besteuert und
in ihren Einnahmen durch den sinkenden Zinsfuß geschädigt werden.
Die englischen Finanzminister, sowohl Childers vom Ministerium Gladstone als
Hicks-Beach, der jetzige Minister, haben zur Deckung des Defizits im Budget
von 1885 und der ägyptischen Unkosten die Einstellung des Dienstes der Til¬
gungskassen vorgeschlagen und damit im Parlamente keinen Widerspruch ge¬
funden. Wenn dies auch nnr eine vorübergehende Maßregel ist, weil diese
Fonds und ihre Verwendung auf Gesetzen beruhen, so ist damit doch der Weg
gezeigt, auf welchem die Staaten ihre Einkünfte erhöhen können, ohne die Steuer¬
schraube anzuziehen. Warum sollten die finanziell so kräftigen deutscheu Staaten
diesem Beispiele nicht folgen können? Unsre gesamte Finanzpolitik geht ans Er¬
schließung neuer Einnahmequellen aus; die wichtigsten Reformen sind davon
abhängig, wie die Entlastung der Kommunen in Preußen, die Kanalbauten, die
Bedürfnisse des Heeres und der Marine, die Kolonialpolitik, die Beseitigung
der Matrikularbeiträge an das Reich, die Sozialgesetzgebung und vieles andre.
Und doch werden alljährlich zur Verlegenheit der Gläubiger Summen getilgt,
die für alle jene Bedürfnisse ausreichen würden. Würden diese Beträge dem
laufenden Dienste überwiesen, so könnte entweder ein bedeutender Steuererlaß
eintreten oder der produktiven und reformatorischen Thätigkeit des Staates ein
wesentlicher Antrieb gegeben werden, was nicht verfehlen würde, eine belebende
Rückwirkung auf die gesamte Volkswirtschaft zu üben, während gleichzeitig dem
Kapitalmarkte eine Erleichterung verschafft würde. Es würde dies voraussichtlich
genügen, um einem weiteren Sinken des Zinsfußes vorzubeugen.

Wenn Preußen 1884/85 83 Millionen sür Tilguugszwecke verwendete,
wenn das kleine Königreich Sachsen 1882/83 16 367 601 Mark planmäßig und
6 710124 Mark außerordentlich, zusammen 23077 725 Mark tilgte, wenn man
in Betracht zieht, daß die Amortisation der meisten neuern Anlehen, z. B. in
Württemberg, Baden und Baiern, erst in den nächsten Jahren beginnt, so wird
es keine übertriebene Annahme sein, wenn man die Gesamttilgnng der deutschen
Staaten jährlich ans etwa 70 bis 80 Millionen berechnet. Es ist schwer zu
sagen, wie viel von den Gemeinden für Amortisation von Schulden aufgebracht
wird, aber es ist wahrscheinlich, daß der Betrag nicht viel verschieden ist von


Der Notstand dös Privatkapitals.

Bedingungen gewähren, unter welchen ein notwendiges Anlehen allein zu haben
ist; und unter diese Bedingungen kann unter Umständen auch ein Amvrtisations-
versprechen gehören. Aber zweifellos ist es doch jedenfalls, daß Preußen, daß
die übrigen deutschen Staaten und das Reich in einer viel zu sicherm Lage sich
befinden, als daß dergleichen Anforderungen an sie gestellt würden und sie solche
Künste üben müßten. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, daß sie Steuern
erheben, um Schulden zu tilgen, daß sie die Gesamtheit der Staatsbürger be¬
schweren, um einer großen Anzahl derselben Kapitalien zurückzuzahlen, deren
Wiederanlage ihnen zur Verlegenheit wird, daß sie in vielen Fällen die Ein¬
zelnen mit doppeltem Nachteil treffen, indem dieselben zugleich besteuert und
in ihren Einnahmen durch den sinkenden Zinsfuß geschädigt werden.
Die englischen Finanzminister, sowohl Childers vom Ministerium Gladstone als
Hicks-Beach, der jetzige Minister, haben zur Deckung des Defizits im Budget
von 1885 und der ägyptischen Unkosten die Einstellung des Dienstes der Til¬
gungskassen vorgeschlagen und damit im Parlamente keinen Widerspruch ge¬
funden. Wenn dies auch nnr eine vorübergehende Maßregel ist, weil diese
Fonds und ihre Verwendung auf Gesetzen beruhen, so ist damit doch der Weg
gezeigt, auf welchem die Staaten ihre Einkünfte erhöhen können, ohne die Steuer¬
schraube anzuziehen. Warum sollten die finanziell so kräftigen deutscheu Staaten
diesem Beispiele nicht folgen können? Unsre gesamte Finanzpolitik geht ans Er¬
schließung neuer Einnahmequellen aus; die wichtigsten Reformen sind davon
abhängig, wie die Entlastung der Kommunen in Preußen, die Kanalbauten, die
Bedürfnisse des Heeres und der Marine, die Kolonialpolitik, die Beseitigung
der Matrikularbeiträge an das Reich, die Sozialgesetzgebung und vieles andre.
Und doch werden alljährlich zur Verlegenheit der Gläubiger Summen getilgt,
die für alle jene Bedürfnisse ausreichen würden. Würden diese Beträge dem
laufenden Dienste überwiesen, so könnte entweder ein bedeutender Steuererlaß
eintreten oder der produktiven und reformatorischen Thätigkeit des Staates ein
wesentlicher Antrieb gegeben werden, was nicht verfehlen würde, eine belebende
Rückwirkung auf die gesamte Volkswirtschaft zu üben, während gleichzeitig dem
Kapitalmarkte eine Erleichterung verschafft würde. Es würde dies voraussichtlich
genügen, um einem weiteren Sinken des Zinsfußes vorzubeugen.

Wenn Preußen 1884/85 83 Millionen sür Tilguugszwecke verwendete,
wenn das kleine Königreich Sachsen 1882/83 16 367 601 Mark planmäßig und
6 710124 Mark außerordentlich, zusammen 23077 725 Mark tilgte, wenn man
in Betracht zieht, daß die Amortisation der meisten neuern Anlehen, z. B. in
Württemberg, Baden und Baiern, erst in den nächsten Jahren beginnt, so wird
es keine übertriebene Annahme sein, wenn man die Gesamttilgnng der deutschen
Staaten jährlich ans etwa 70 bis 80 Millionen berechnet. Es ist schwer zu
sagen, wie viel von den Gemeinden für Amortisation von Schulden aufgebracht
wird, aber es ist wahrscheinlich, daß der Betrag nicht viel verschieden ist von


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[0606] Der Notstand dös Privatkapitals. Bedingungen gewähren, unter welchen ein notwendiges Anlehen allein zu haben ist; und unter diese Bedingungen kann unter Umständen auch ein Amvrtisations- versprechen gehören. Aber zweifellos ist es doch jedenfalls, daß Preußen, daß die übrigen deutschen Staaten und das Reich in einer viel zu sicherm Lage sich befinden, als daß dergleichen Anforderungen an sie gestellt würden und sie solche Künste üben müßten. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, daß sie Steuern erheben, um Schulden zu tilgen, daß sie die Gesamtheit der Staatsbürger be¬ schweren, um einer großen Anzahl derselben Kapitalien zurückzuzahlen, deren Wiederanlage ihnen zur Verlegenheit wird, daß sie in vielen Fällen die Ein¬ zelnen mit doppeltem Nachteil treffen, indem dieselben zugleich besteuert und in ihren Einnahmen durch den sinkenden Zinsfuß geschädigt werden. Die englischen Finanzminister, sowohl Childers vom Ministerium Gladstone als Hicks-Beach, der jetzige Minister, haben zur Deckung des Defizits im Budget von 1885 und der ägyptischen Unkosten die Einstellung des Dienstes der Til¬ gungskassen vorgeschlagen und damit im Parlamente keinen Widerspruch ge¬ funden. Wenn dies auch nnr eine vorübergehende Maßregel ist, weil diese Fonds und ihre Verwendung auf Gesetzen beruhen, so ist damit doch der Weg gezeigt, auf welchem die Staaten ihre Einkünfte erhöhen können, ohne die Steuer¬ schraube anzuziehen. Warum sollten die finanziell so kräftigen deutscheu Staaten diesem Beispiele nicht folgen können? Unsre gesamte Finanzpolitik geht ans Er¬ schließung neuer Einnahmequellen aus; die wichtigsten Reformen sind davon abhängig, wie die Entlastung der Kommunen in Preußen, die Kanalbauten, die Bedürfnisse des Heeres und der Marine, die Kolonialpolitik, die Beseitigung der Matrikularbeiträge an das Reich, die Sozialgesetzgebung und vieles andre. Und doch werden alljährlich zur Verlegenheit der Gläubiger Summen getilgt, die für alle jene Bedürfnisse ausreichen würden. Würden diese Beträge dem laufenden Dienste überwiesen, so könnte entweder ein bedeutender Steuererlaß eintreten oder der produktiven und reformatorischen Thätigkeit des Staates ein wesentlicher Antrieb gegeben werden, was nicht verfehlen würde, eine belebende Rückwirkung auf die gesamte Volkswirtschaft zu üben, während gleichzeitig dem Kapitalmarkte eine Erleichterung verschafft würde. Es würde dies voraussichtlich genügen, um einem weiteren Sinken des Zinsfußes vorzubeugen. Wenn Preußen 1884/85 83 Millionen sür Tilguugszwecke verwendete, wenn das kleine Königreich Sachsen 1882/83 16 367 601 Mark planmäßig und 6 710124 Mark außerordentlich, zusammen 23077 725 Mark tilgte, wenn man in Betracht zieht, daß die Amortisation der meisten neuern Anlehen, z. B. in Württemberg, Baden und Baiern, erst in den nächsten Jahren beginnt, so wird es keine übertriebene Annahme sein, wenn man die Gesamttilgnng der deutschen Staaten jährlich ans etwa 70 bis 80 Millionen berechnet. Es ist schwer zu sagen, wie viel von den Gemeinden für Amortisation von Schulden aufgebracht wird, aber es ist wahrscheinlich, daß der Betrag nicht viel verschieden ist von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/606>, abgerufen am 28.07.2024.