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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die Russen in Zentralasien.

unmittelbare Bedrohung Herens einschließt und das afghanische Turkestan voll¬
ständig in der Flanke umfaßt?"

Wir sagen dazu: gewiß wird das patriotische" Briten schwer in den Kopf
wollen. Andern aber wird es sich nicht lassen, auch wenn es den neuen Ministern
in London gelingen sollte, den Russen von ihrem letzten Gewinn in Mittelasien die
eine und die andre Einzelheit abzuhandeln, und die Bedeutung jenes Gewinns
wird sich erst recht ermessen lassen, wenn in etwa vier Jahren die Eisenbahn
vom Kaspisee bis an den Margab fertig sein wird. Inzwischen wird man
russischerseits wohl auch uoch einige Lücken auszufüllen suchen, welche das General¬
gouvernement Turkestan am Ann Darja aufweist. Anzeichen davon sind vor¬
handen, Vorbereitungen dazu getroffen. Truge nicht alles, was von dort her
berichtet wird, so dürfen wir annehmen, daß das Werk der Vervollständigung
nicht lange auf sich warten lassen wird.

Rußland will durch die Erwerbung der Oase Merw nicht bloß, wie ge¬
zeigt, Ansprüche auf Gebiete erlangt haben, die von England als dem Emir
von Afghanistan gehörig betrachtet wurden, sondern auch solche aus gewisse
Landstriche des Emirats Buchara, und wahrscheinlich wird infolge dessen bald
auch hier eine "Grenzregnlirung" in Gang gebracht werden und sich umso
rascher vollziehen, als der Emir Mosafar schon längst von dein Willen des
Generalgouverneurs in Taschkend abhängig ist und England hier keinerlei Recht
hat, Einspruch zu erheben. Der Beherrscher der Bucharen besitzt nämlich auf
dem linken Ufer des Ami: Darja eine Strecke Landes, deren Ausdehnung etwa
durch die Ortschaften Karli und Chargui bezeichnet wird. Sein Eigentumsrecht
i" betreff derselbe" ist jedoch zweifelhafter, wenigstens provisorischer Natur;
denn die frühern Chane von Merw erhoben gleichfalls Anspruch auf dieses
Territorium, es wurde zwischen ihnen und den Bucharen mehrmals mit den
Waffen darüber gestritten, und zuletzt, vor etwa fünfundvierzig Jahren, einigten
sich die Parteien dahin, die endgiltige Entscheidung über den Besitz zu vertagen
und den Landstrich bis dahin bei Buchara zu belassen; doch sollten dessen Be¬
wohner fortfahren, bestimmte Abgaben nach Merw zu entrichten. Jetzt hat
Rußland, als Besitzer von Merw zugleich Besitzer von dessen Anspruch, die da¬
mals vorbehaltene definitive Regelung der Sache angeregt, und es ist nicht
anzunehmen, daß dieselbe zu gunsten des Emirs ausfallen wird. Ferner be¬
reisten russische Ingenieure im letzten Jahre im Auftrage der bucharischen Re¬
gierung den mittlern Lauf des Ann, um dort Punkte auszuwählen, die sich
zur Anlage von Forts eignen. Dieselben sollen, wie sie versichern, dazu dienen,
afghanische Turkmenenstämme von Einbrüchen in das Gebiet des Emirs Mosafar
abzuhalten, in Afghanistan aber befürchtet man, daß sie Brückeulopfe fiir Übergänge
russischer Truppen bilden sollen, da man sie fiir schwere Geschütze einrichten will.

Auch an Chiwa wird vermutlich bald die Reihe kommen, dem Zaren¬
reiche einverleibt zu werden- Es ist reif dazu und wird, da der Chan ein hab


Grmzlivten III. 188S. V2
Die Russen in Zentralasien.

unmittelbare Bedrohung Herens einschließt und das afghanische Turkestan voll¬
ständig in der Flanke umfaßt?"

Wir sagen dazu: gewiß wird das patriotische» Briten schwer in den Kopf
wollen. Andern aber wird es sich nicht lassen, auch wenn es den neuen Ministern
in London gelingen sollte, den Russen von ihrem letzten Gewinn in Mittelasien die
eine und die andre Einzelheit abzuhandeln, und die Bedeutung jenes Gewinns
wird sich erst recht ermessen lassen, wenn in etwa vier Jahren die Eisenbahn
vom Kaspisee bis an den Margab fertig sein wird. Inzwischen wird man
russischerseits wohl auch uoch einige Lücken auszufüllen suchen, welche das General¬
gouvernement Turkestan am Ann Darja aufweist. Anzeichen davon sind vor¬
handen, Vorbereitungen dazu getroffen. Truge nicht alles, was von dort her
berichtet wird, so dürfen wir annehmen, daß das Werk der Vervollständigung
nicht lange auf sich warten lassen wird.

Rußland will durch die Erwerbung der Oase Merw nicht bloß, wie ge¬
zeigt, Ansprüche auf Gebiete erlangt haben, die von England als dem Emir
von Afghanistan gehörig betrachtet wurden, sondern auch solche aus gewisse
Landstriche des Emirats Buchara, und wahrscheinlich wird infolge dessen bald
auch hier eine „Grenzregnlirung" in Gang gebracht werden und sich umso
rascher vollziehen, als der Emir Mosafar schon längst von dein Willen des
Generalgouverneurs in Taschkend abhängig ist und England hier keinerlei Recht
hat, Einspruch zu erheben. Der Beherrscher der Bucharen besitzt nämlich auf
dem linken Ufer des Ami: Darja eine Strecke Landes, deren Ausdehnung etwa
durch die Ortschaften Karli und Chargui bezeichnet wird. Sein Eigentumsrecht
i» betreff derselbe» ist jedoch zweifelhafter, wenigstens provisorischer Natur;
denn die frühern Chane von Merw erhoben gleichfalls Anspruch auf dieses
Territorium, es wurde zwischen ihnen und den Bucharen mehrmals mit den
Waffen darüber gestritten, und zuletzt, vor etwa fünfundvierzig Jahren, einigten
sich die Parteien dahin, die endgiltige Entscheidung über den Besitz zu vertagen
und den Landstrich bis dahin bei Buchara zu belassen; doch sollten dessen Be¬
wohner fortfahren, bestimmte Abgaben nach Merw zu entrichten. Jetzt hat
Rußland, als Besitzer von Merw zugleich Besitzer von dessen Anspruch, die da¬
mals vorbehaltene definitive Regelung der Sache angeregt, und es ist nicht
anzunehmen, daß dieselbe zu gunsten des Emirs ausfallen wird. Ferner be¬
reisten russische Ingenieure im letzten Jahre im Auftrage der bucharischen Re¬
gierung den mittlern Lauf des Ann, um dort Punkte auszuwählen, die sich
zur Anlage von Forts eignen. Dieselben sollen, wie sie versichern, dazu dienen,
afghanische Turkmenenstämme von Einbrüchen in das Gebiet des Emirs Mosafar
abzuhalten, in Afghanistan aber befürchtet man, daß sie Brückeulopfe fiir Übergänge
russischer Truppen bilden sollen, da man sie fiir schwere Geschütze einrichten will.

Auch an Chiwa wird vermutlich bald die Reihe kommen, dem Zaren¬
reiche einverleibt zu werden- Es ist reif dazu und wird, da der Chan ein hab


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[0497] Die Russen in Zentralasien. unmittelbare Bedrohung Herens einschließt und das afghanische Turkestan voll¬ ständig in der Flanke umfaßt?" Wir sagen dazu: gewiß wird das patriotische» Briten schwer in den Kopf wollen. Andern aber wird es sich nicht lassen, auch wenn es den neuen Ministern in London gelingen sollte, den Russen von ihrem letzten Gewinn in Mittelasien die eine und die andre Einzelheit abzuhandeln, und die Bedeutung jenes Gewinns wird sich erst recht ermessen lassen, wenn in etwa vier Jahren die Eisenbahn vom Kaspisee bis an den Margab fertig sein wird. Inzwischen wird man russischerseits wohl auch uoch einige Lücken auszufüllen suchen, welche das General¬ gouvernement Turkestan am Ann Darja aufweist. Anzeichen davon sind vor¬ handen, Vorbereitungen dazu getroffen. Truge nicht alles, was von dort her berichtet wird, so dürfen wir annehmen, daß das Werk der Vervollständigung nicht lange auf sich warten lassen wird. Rußland will durch die Erwerbung der Oase Merw nicht bloß, wie ge¬ zeigt, Ansprüche auf Gebiete erlangt haben, die von England als dem Emir von Afghanistan gehörig betrachtet wurden, sondern auch solche aus gewisse Landstriche des Emirats Buchara, und wahrscheinlich wird infolge dessen bald auch hier eine „Grenzregnlirung" in Gang gebracht werden und sich umso rascher vollziehen, als der Emir Mosafar schon längst von dein Willen des Generalgouverneurs in Taschkend abhängig ist und England hier keinerlei Recht hat, Einspruch zu erheben. Der Beherrscher der Bucharen besitzt nämlich auf dem linken Ufer des Ami: Darja eine Strecke Landes, deren Ausdehnung etwa durch die Ortschaften Karli und Chargui bezeichnet wird. Sein Eigentumsrecht i» betreff derselbe» ist jedoch zweifelhafter, wenigstens provisorischer Natur; denn die frühern Chane von Merw erhoben gleichfalls Anspruch auf dieses Territorium, es wurde zwischen ihnen und den Bucharen mehrmals mit den Waffen darüber gestritten, und zuletzt, vor etwa fünfundvierzig Jahren, einigten sich die Parteien dahin, die endgiltige Entscheidung über den Besitz zu vertagen und den Landstrich bis dahin bei Buchara zu belassen; doch sollten dessen Be¬ wohner fortfahren, bestimmte Abgaben nach Merw zu entrichten. Jetzt hat Rußland, als Besitzer von Merw zugleich Besitzer von dessen Anspruch, die da¬ mals vorbehaltene definitive Regelung der Sache angeregt, und es ist nicht anzunehmen, daß dieselbe zu gunsten des Emirs ausfallen wird. Ferner be¬ reisten russische Ingenieure im letzten Jahre im Auftrage der bucharischen Re¬ gierung den mittlern Lauf des Ann, um dort Punkte auszuwählen, die sich zur Anlage von Forts eignen. Dieselben sollen, wie sie versichern, dazu dienen, afghanische Turkmenenstämme von Einbrüchen in das Gebiet des Emirs Mosafar abzuhalten, in Afghanistan aber befürchtet man, daß sie Brückeulopfe fiir Übergänge russischer Truppen bilden sollen, da man sie fiir schwere Geschütze einrichten will. Auch an Chiwa wird vermutlich bald die Reihe kommen, dem Zaren¬ reiche einverleibt zu werden- Es ist reif dazu und wird, da der Chan ein hab Grmzlivten III. 188S. V2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/497>, abgerufen am 27.07.2024.